
Die intern ausgewählte Münchener Freiheit, einer der kommerziell erfahrensten Eurovisionsvertreter der letzten Dekade, hatte es beim letztjährigen Wettbewerb im irischen Millstreet verrissen. Also kehrte man bei der ARD, der Experimente und ohnehin des ganzen kostspieligen Wettbewerbs überdrüssig, lieber zum Bewährten zurück. Eine reguläre öffentliche Vorentscheidung zu organisieren, würde ohnehin nur Geld kosten, die Einschaltquoten nach unten und das Genörgel der Öffentlichkeit nach sich ziehen. Und Ralph Siegel würde diese ohnehin gewinnen, völlig unabhängig vom Abstimmungssystem. Zumal der Grand Prix (nicht nur) in Deutschland aufgrund der dort gezeigten, völlig unzeitgemäßen Musik mittlerweile unter einem derart verstaubten Image litt, dass ohnehin nur noch Rentner:innen und hartgesottene Schlagerfans ihn guckten. Eine Zielgruppe also, in der die nach wie vor fest im Schlagergeschäft verankerte Nicole weiterhin als Königin galt und Siegel als unsere beste Chance, den Triumph von Harrogate doch noch einmal zu wiederholen. Also bestellte der verantwortliche MDR einfach direkt beim Münchener Meister einen Beitrag und sparte sich das ganze kostspielige Drumherum.
Elf Jahre nach Harrogate ist das Kommunionskleid abgestreift und Frau Hohloch sinniert zu dezent bei ‘Gloria’ abgekupferten Synthie-Sounds auch schon mal über Sex mit dem Ex: Nicoles Hitsingle ‘Dann küss mich doch’ von 1993 (Repertoirebeispiel).
In der Siegelschen Kompositionsschatulle stauben seit dem Ende seiner kreativen Hochphase Anfang der Achtziger praktisch nur noch zwei Rohentwürfe vor sich hin, aus denen er seither fast all seine Grand-Prix-Beiträge durchpaust: die schwülstige, kitschtriefende Weltfriedensballade sowie das zwangsfröhliche Seniorendisco-Potpourri. Zur zweiten Sorte zählt sein ‘Wir geben ’ne Party’, von Bernd Meinunger mit einem hormonumwallten Pseudo-Spaßgenerationstext versehen, der auf Fußnägel aufrollend peinliche Art illustriert, was herauskommt, wenn ein älterer Herr krampfhaft versucht, auf jugendlich zu machen. Um dennoch die erwünschte Kredibilität vorzutäuschen, castete Siegel drei junge Mädels aus dem eigenem Stall zu einem Trio zusammen. Melanie Bender, die offensichtlich lobenswert sexpositive Tochter von Dschinghis-Khan-Glatze Steve Bender, hatte gerade erst eine Eurodance-Coverversion von Madonnas bestem Schlampensong ‘Burning up’ (Textprobe: “I’m not like others, I do anything / I’m not the same, I have no shame”) bei Jupiter Records veröffentlicht, der zwei Jahre später ein von ihrem Daddy geschriebenes und produziertes, in den USA auf den Markt gebrachtes Album folgen sollte, mitsamt der Singleauskoppelung ‘You just want Sex’.
Das hört jeder Vater doch gerne seine Tochter singen: Melanie Bender (Repertoirebeispiel).
Die in Frankfurt (Oder) geborene, optische Eva-Herman-Doppelgängerin Kati Karney stand bei Ralphs Plattenfirma Jupiter Records bis dato mit drei gefloppten Schlagertiteln in der Bilanz. Die bei Frankfurt (Main) geborene Dorkas Kiefer hatte ihrem ebenfalls von Onkel Ralph verzapften Vorentscheidungstitel ‘Ich hab Angst’ von 1989 drei weitere, ebenso erfolglose Singles folgen lassen. Melanie, Kati und Dorkas ergaben zusammen MeKaDo. Die Pseudo-Girlgroup wurde natürlich von der jugendlichen Zielgruppe konsequent ignoriert: der Titel schaffte es für genau eine Woche in die deutschen Top 100 – auf Platz 100! Die Technoschlagerelfe Blümchen (‘Piep piep kleiner Satellit’) ließ man sich ja noch andrehen und die Hip-Hop-Girlgroup Tic Tac Toe (‘Ich find dich scheiße’), aber die wirkten gegen MeKaDo geradezu authentisch und echt. Zum Vergleich: die bestverkaufte deutsche Produktion des Jahres hieß ‘Omen III’ von Magic Affair (mit der Stimme von Franca Morgano, die es 2011 erfolglos beim Schweizer Internet-Vor-Vorentscheid versuchen sollte), die bestplatzierte deutschsprachige Single ‘Eins zwei Polizei’ stammte ironischerweise vom Italo-Dance-Projekt Mo-Do.
Dass dieses Stück keine Käufer:innen gefunden hat, wundert mich… nicht: Dorkas Kiefer (Repertoirebeispiel).
‘Wir geben ’ne Party’ funktioniert aber natürlich als klassisches Guilty Pleasure, und das sehr gut: selbstredend ist der ausschließlich für den Contest konzipierte (und dort mit Rang 3 insbesondere für einen nicht anglophilen Beitrag tatsächlich außergewöhnlich erfolgreiche) Discoschlager als mit kalter Berechnung zusammengezimmerter, völlig unzeitgemäßer Trash zu klassifizieren. Selbstverständlich mag ich den Song aber genau deswegen: er ist flott, tanzbar (funktioniert bei Eurovisionspartys immer!), catchy und camp bis zum Abwinken. Außerdem lässt sich die von den “Three Liebchens from Germany” (so der britische Kommentator Terry Wogan) vorgeführte Handography sehr leicht nachmachen. Wenn man die Nummer also nicht ernst nimmt, macht sie riesigen Spaß. Da unterscheidet sie sich nur wenig von ‘Dschinghis Khan’. Außer, dass ich 1979 erst elf war und solche Kinderlieder damals auch ganz offiziell gut finden durfte. Seither entwickelte sich die Welt aber weiter. Nur Ralph Siegel offenbar nicht, der wohl bis heute nicht versteht, warum er für seinen Bronzeplatz in Dublin zuhause nicht mit Liebe und Anerkennung überschüttet wurde.
Eins der im superdrögen Balladenjahr 1994 absolut rar gesäten fröhlichen Stücke, und alleine dafür muss man Ralph Siegel schon dankbar sein.
Deutsche Vorentscheidung 1994
Die goldene Eins. Samstag, 21. März 1994, aus dem Sendestudio des MDR. Ein Teilnehmer, Moderation: Max Schautzer (Songpräsentation im Rahmen der TV-Show nach vorheriger senderinterner Auswahl).
Zuletzt aktualisiert: 22.10.2021
Ich muss ja zugeben, dass ich diesen Song, wenn mich keiner sieht/hört, heimlich gerne höre – allein schon, weil es der erste deutsche Beitrag seit Dschinghis Khan 1979 war, der wieder sowas wie Drive besaß und der statt ‚wie in den Vorjahren üblich, nicht mehr 100 Millionen, sondern nur noch 99 Millionen Lichtjahre von aktuellen Popgeschehen entfernt war.