Fünf­te Deka­de 1996–2005: Mehr Demo­kra­tie wagen

Rise like a Phoenix

Das tür­ki­sche Jahrzehnt

Nach einem Tief­punkt kann es logi­scher­wei­se nur wie­der auf­wärts gehen: die über­ra­schen­de Rele­ga­ti­on des deut­schen Bei­trags von 1996, ‘Pla­net of Blue’ von Leon, sorg­te für den heil­sa­men Schock, der die durch jahr­zehn­te­lan­ge Ver­nach­läs­si­gung ver­rot­te­ten Grund­mau­ern des Grand Prix so stark erschüt­ter­te, dass sie ein­stürz­ten. Drei essen­ti­el­le Din­ge pas­sier­ten dar­auf­hin: zum einen bewie­sen wir 1998 mit Guil­do Horn einer stau­nen­den Welt­öf­fent­lich­keit, dass die bis­lang als humor­los ver­schriee­nen Deut­schen zur Selbst­iro­nie fähig sind. “Der Meis­ter” spal­te­te die Nati­on in eupho­ri­sier­te Guildo-Jünger:innen und erbit­ter­te Guildo-Hasser:innen. Doch wie immer man zu ihm stand, ob man ihn als Erneue­rer fei­er­te oder in ihm den Unter­gang des Abend­lan­des sah: er war einem nicht egal, wie so vie­le deut­sche Vertreter:innen vor ihm. Horn weck­te die mas­si­ve Auf­merk­sam­keit der Medi­en und der Zuschauer:innen unter 50 Jah­ren, die sich nach Jah­ren des völ­li­gen Des­in­ter­es­ses wie­der zum gemein­sa­men ESC-Schau­en tra­fen, ob auf Grand-Prix-Par­tys im Freun­des­kreis oder als fei­er­freu­di­ge Mas­se bei öffent­li­chen Live-Über­tra­gun­gen (dem, was man hier­zu­lan­de so ger­ne “Public Vie­w­ing” nennt, was im Eng­li­schen übri­gens “Lei­chen­schau” bedeu­tet). Guil­do befrei­te das Event vom Muff des elter­li­chen Wohn­zim­mers und mach­te es für jün­ge­re Zuschauer:innen wie­der anschluss­fä­hig: ohne ihn gäbe es den Wett­be­werb heu­te schlicht­weg nicht mehr.

Der Ret­ter: Guil­do hat uns lieb. Und ich ihn! (DE 1998)

Zwei­tens schaff­te der Euro­vi­si­on Song Con­test im fünf­ten Jahr­zehnt sei­nes Bestehens mit dem offen schwu­len Islän­der Paul Oscar, vor allem aber mit dem Zei­chen set­zen­den Sieg der trans­se­xu­el­len Israe­lin Dana Inter­na­tio­nal, end­lich sein offi­zi­el­les Coming Out als jähr­li­ches, pan­eu­ro­päi­sches que­e­res Fami­li­en­tref­fen. Wur­de aber auch Zeit! Und schließ­lich, am wich­tigs­ten von allem, kehr­te die Demo­kra­tie ein beim Euro­vi­si­on Song Con­test. Wenn auch lei­der nur vor­über­ge­hend. Auf hart­nä­cki­ges Betrei­ben des dama­li­gen deut­schen Grand-Prix-Beauf­trag­ten Jür­gen Mei­er-Beer vom NDR fie­len 1999 die läs­ti­gen, anti­quier­ten Hemm­schu­he Jury, Orches­ter und Hei­mat­spra­chen­zwang, die aus dem einst­mals zeit­ge­mä­ßen Pop­event ein kaum noch beach­te­tes Trash-Spek­ta­kel gemacht hat­ten, das in sei­ner eige­nen, immer klei­ner wer­den­den Par­al­lel­welt exis­tier­te und so ste­tig Gefahr lief, dem Kos­ten­druck zum Opfer zu fal­len. Mit der Zuschauer:innenbeteiligung kehr­ten die Zuschauer:innenmassen zurück, und in vie­len Natio­nen erklär­ten sich eta­blier­te Welt­stars wie t.A.t.U, Patri­cia Kaas oder Ser­tab Ere­ner, die vor­her den Wett­be­werb wohl nicht mit der Kneif­zan­ge ange­fasst hät­ten, wie­der bereit, ihre Lan­des­flag­ge zu vertreten.

Der wich­tigs­te Sieg in der Grand-Prix-Geschich­te: Dana (IL 1998).

Der Zustrom mach­te sich nicht nur bei den wie­der stei­gen­den Ein­schalt­quo­ten bemerk­bar, son­dern auch vor Ort: aus klei­nen Stadt­thea­tern oder Sen­de­sä­len, in denen kaum mehr als die anrei­sen­den Dele­ga­tio­nen Platz neh­men konn­ten, zog die Show in immer grö­ßer wer­den­de Hal­len und eigens für den Wett­be­werb neu über­dach­te Sta­di­en um. Anstel­le gelang­weil­ter Offi­zi­el­ler in stei­fer Abend­ro­be saßen nun krea­tiv kos­tü­mier­te, fre­ne­tisch fah­nen­we­deln­de Fans in den Rei­hen und lie­fer­ten dank­ba­res Schwenk­fut­ter für die TV-Kame­ras. Erst­mals 1998 von der BBC pro­mi­nent ins Bild gerückt, ver­än­der­ten sie die Atmo­sphä­re des Wett­be­werbs und mach­ten dar­aus eine bun­te, fröh­li­che Par­ty. Der Weg­fall der Jurys sorg­te zudem musi­ka­lisch für den drin­gend benö­tig­ten fri­schen Wind: fröh­li­che Eth­no-Dis­co-Bret­ter wie ‘Din­le’, herz­zer­rei­ßen­de Bal­kan­heu­ler wie ‘Lane Moje’ und auf­wen­dig cho­reo­gra­fier­te Upt­em­po-Knal­ler wie ‘Ooh aah… just a litt­le bit’ oder ‘Wild Dances’ lös­ten end­lich die ver­schnarch­te Bal­la­den­kost ab und bescher­ten uns die erfreu­lichs­te Deka­de der Con­test­ge­schich­te. Von gele­gent­li­chen, schmerz­li­chen Miss­grif­fen des Publi­kums mal abge­se­hen, das 2001 und 2002 direkt hin­ter­ein­an­der zwei der fürch­ter­lichs­ten Sie­ger­lie­der aller Zei­ten wähl­te. Aber jeder macht mal Fehler…

Slay, Queen: die Grie­chen­göt­tin Hele­na Papa­riz­ou sieg­te 2005 mit dem Mus­ter­bei­spiel eines per­fekt cho­reo­gra­fier­ten Upt­em­po­knal­lers. Also einer Gat­tung, aus wel­cher der ESC zu 100% bestehen soll­te, wenn es mir nach ginge.

Selbst die deut­schen Plat­ten­fir­men schick­ten zuneh­mend ihre Umsatzträger:innen zur hei­mi­schen Vor­ent­schei­dung – bis ins Jahr 2004, wo ein von Ste­fan Raab (dem neu­en Ralph Sie­gel) auf sei­nem Haus­sender Pro Sie­ben hand­streich­ar­tig gecas­te­ter, bis­he­ri­ger No-Name die ers­te Rei­he der deut­schen Pop-Éli­te der­ar­tig deut­lich deklas­sier­te, dass sich das For­mat davon nie wie­der erhol­te. Der volks­kam­mer­kom­pa­ti­ble Sieg von Max Mutz­ke mar­kier­te ein­schnei­dend die Wach­ab­lö­sung der von der Ton­trä­ger­indus­trie mit viel Geld und Zeit auf­ge­bau­ten Pop­stars durch das anony­me Heer der Cas­ting­show-Stern­chen, die im Fern­se­hen für die vage Aus­sicht auf bes­ten­falls ein paar Mona­te media­ler Auf­merk­sam­keit ihre See­le ver­kau­fen muss­ten. Auf inter­na­tio­na­ler Ebe­ne sorg­ten die neu­en Euro­vi­si­ons­re­geln sowie die unauf­halt­sa­me Zell­tei­lung im Osten unter­des­sen für einen so gro­ßen Zulauf, dass im glei­chen Jahr erst­ma­lig eine Aus­deh­nung des ESC auf ein Semi­fi­na­le erfor­der­lich wur­de, um alle mit­mach­wil­li­gen Staa­ten unter­brin­gen zu kön­nen. Nun zähl­te plötz­lich auch das Abstim­mungs­er­geb­nis unter­halb des ers­ten Plat­zes, denn es konn­te über den Ein­zug ins Fina­le ent­schei­den. Und eben­so plötz­lich stand das bereits aus rei­nen Jury­zei­ten alt­ver­trau­te Phä­no­men des Block­vo­ting im Fokus der Öffentlichkeit.

Big, butch & beau­tiful: die Grand-Prix-Musik wird ‘real’ (TR 2004).

Stand: 23.04.2023

Die ein­zel­nen Jahr­gän­ge (mit den dazu­ge­hö­ri­gen deut­schen Vorentscheidungen):

Leon, DE 1996
Deut­sche Vor­ent­schei­dung 1996
Logo des Eurovision Song Contest 1996
Euro­vi­si­on Song Con­test 1996
Bianca Shomburg, DE 1997
Deut­sche Vor­ent­schei­dung 1997
Logo des Eurovision Song Contest 1997
Euro­vi­si­on Song Con­test 1997
Guildo Horn, DE 1998
Deut­sche Vor­ent­schei­dung 1998
Logo des Eurovision Song Contest 1998
Euro­vi­si­on Song Con­test 1998
Sürpriz, DE 1999
Deut­sche Vor­ent­schei­dung 1999
Logo des Eurovision Song Contest 1999
Euro­vi­si­on Song Con­test 1999
Stefan Raab, DE 2000
Deut­sche Vor­ent­schei­dung 2000
Logo des Eurovision Song Contest 2000
Euro­vi­si­on Song Con­test 2000
Michelle, DE 2001
Deut­sche Vor­ent­schei­dung 2001
Logo des Eurovision Song Contest 2001
Euro­vi­si­on Song Con­test 2001
Corinna May, DE 2002
Deut­sche Vor­ent­schei­dung 2002
Logo des Eurovision Song Contest 2002
Euro­vi­si­on Song Con­test 2002
Lou Hoffner, DE 2003
Deut­sche Vor­ent­schei­dung 2003
Logo des Eurovision Song Contest 2003
Euro­vi­si­on Song Con­test 2003
Max Mutzke, Stefan Raab, DE 2004
Deut­sche Vor­ent­schei­dung 2004
Logo des Eurovision Song Contest 2004 (Semifinale)
Euro­vi­si­on Song Con­test 2004, Semifinale
Logo des Eurovision Song Contest 2004 (Finale)
Euro­vi­si­on Song Con­test 2004, Finale
Gracia Baur, DE 2005
Deut­sche Vor­ent­schei­dung 2005
Logo des Eurovision Song Contest 2005 (Semifinale)
Euro­vi­si­on Song Con­test 2005, Semifinale
Logo des Eurovision Song Contest 2005 (Finale)
Euro­vi­si­on Song Con­test 2005, Finale

<– 4. Deka­de (1986–1995)

6. Deka­de (2006–2015) –>

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert