Rise like a Phoenix
Das türkische Jahrzehnt
Nach einem Tiefpunkt kann es logischerweise nur wieder aufwärts gehen: die überraschende Relegation des deutschen Beitrags von 1996, ‘Planet of Blue’ von Leon, sorgte für den heilsamen Schock, der die durch jahrzehntelange Vernachlässigung verrotteten Grundmauern des Grand Prix so stark erschütterte, dass sie einstürzten. Drei essentielle Dinge passierten daraufhin: zum einen bewiesen wir 1998 mit Guildo Horn einer staunenden Weltöffentlichkeit, dass die bislang als humorlos verschrieenen Deutschen zur Selbstironie fähig sind. “Der Meister” spaltete die Nation in euphorisierte Guildo-Jünger:innen und erbitterte Guildo-Hasser:innen. Doch wie immer man zu ihm stand, ob man ihn als Erneuerer feierte oder in ihm den Untergang des Abendlandes sah: er war einem nicht egal, wie so viele deutsche Vertreter:innen vor ihm. Horn weckte die massive Aufmerksamkeit der Medien und der Zuschauer:innen unter 50 Jahren, die sich nach Jahren des völligen Desinteresses wieder zum gemeinsamen ESC-Schauen trafen, ob auf Grand-Prix-Partys im Freundeskreis oder als feierfreudige Masse bei öffentlichen Live-Übertragungen (dem, was man hierzulande so gerne “Public Viewing” nennt, was im Englischen übrigens “Leichenschau” bedeutet). Guildo befreite das Event vom Muff des elterlichen Wohnzimmers und machte es für jüngere Zuschauer:innen wieder anschlussfähig: ohne ihn gäbe es den Wettbewerb heute schlichtweg nicht mehr.
Der Retter: Guildo hat uns lieb. Und ich ihn! (DE 1998)
Zweitens schaffte der Eurovision Song Contest im fünften Jahrzehnt seines Bestehens mit dem offen schwulen Isländer Paul Oscar, vor allem aber mit dem Zeichen setzenden Sieg der transsexuellen Israelin Dana International, endlich sein offizielles Coming Out als jährliches, paneuropäisches queeres Familientreffen. Wurde aber auch Zeit! Und schließlich, am wichtigsten von allem, kehrte die Demokratie ein beim Eurovision Song Contest. Wenn auch leider nur vorübergehend. Auf hartnäckiges Betreiben des damaligen deutschen Grand-Prix-Beauftragten Jürgen Meier-Beer vom NDR fielen 1999 die lästigen, antiquierten Hemmschuhe Jury, Orchester und Heimatsprachenzwang, die aus dem einstmals zeitgemäßen Popevent ein kaum noch beachtetes Trash-Spektakel gemacht hatten, das in seiner eigenen, immer kleiner werdenden Parallelwelt existierte und so stetig Gefahr lief, dem Kostendruck zum Opfer zu fallen. Mit der Zuschauer:innenbeteiligung kehrten die Zuschauer:innenmassen zurück, und in vielen Nationen erklärten sich etablierte Weltstars wie t.A.t.U, Patricia Kaas oder Sertab Erener, die vorher den Wettbewerb wohl nicht mit der Kneifzange angefasst hätten, wieder bereit, ihre Landesflagge zu vertreten.
Der wichtigste Sieg in der Grand-Prix-Geschichte: Dana (IL 1998).
Der Zustrom machte sich nicht nur bei den wieder steigenden Einschaltquoten bemerkbar, sondern auch vor Ort: aus kleinen Stadttheatern oder Sendesälen, in denen kaum mehr als die anreisenden Delegationen Platz nehmen konnten, zog die Show in immer größer werdende Hallen und eigens für den Wettbewerb neu überdachte Stadien um. Anstelle gelangweilter Offizieller in steifer Abendrobe saßen nun kreativ kostümierte, frenetisch fahnenwedelnde Fans in den Reihen und lieferten dankbares Schwenkfutter für die TV-Kameras. Erstmals 1998 von der BBC prominent ins Bild gerückt, veränderten sie die Atmosphäre des Wettbewerbs und machten daraus eine bunte, fröhliche Party. Der Wegfall der Jurys sorgte zudem musikalisch für den dringend benötigten frischen Wind: fröhliche Ethno-Disco-Bretter wie ‘Dinle’, herzzerreißende Balkanheuler wie ‘Lane Moje’ und aufwendig choreografierte Uptempo-Knaller wie ‘Ooh aah… just a little bit’ oder ‘Wild Dances’ lösten endlich die verschnarchte Balladenkost ab und bescherten uns die erfreulichste Dekade der Contestgeschichte. Von gelegentlichen, schmerzlichen Missgriffen des Publikums mal abgesehen, das 2001 und 2002 direkt hintereinander zwei der fürchterlichsten Siegerlieder aller Zeiten wählte. Aber jeder macht mal Fehler…
Slay, Queen: die Griechengöttin Helena Paparizou siegte 2005 mit dem Musterbeispiel eines perfekt choreografierten Uptempoknallers. Also einer Gattung, aus welcher der ESC zu 100% bestehen sollte, wenn es mir nach ginge.
Selbst die deutschen Plattenfirmen schickten zunehmend ihre Umsatzträger:innen zur heimischen Vorentscheidung – bis ins Jahr 2004, wo ein von Stefan Raab (dem neuen Ralph Siegel) auf seinem Haussender Pro Sieben handstreichartig gecasteter, bisheriger No-Name die erste Reihe der deutschen Pop-Élite derartig deutlich deklassierte, dass sich das Format davon nie wieder erholte. Der volkskammerkompatible Sieg von Max Mutzke markierte einschneidend die Wachablösung der von der Tonträgerindustrie mit viel Geld und Zeit aufgebauten Popstars durch das anonyme Heer der Castingshow-Sternchen, die im Fernsehen für die vage Aussicht auf bestenfalls ein paar Monate medialer Aufmerksamkeit ihre Seele verkaufen mussten. Auf internationaler Ebene sorgten die neuen Eurovisionsregeln sowie die unaufhaltsame Zellteilung im Osten unterdessen für einen so großen Zulauf, dass im gleichen Jahr erstmalig eine Ausdehnung des ESC auf ein Semifinale erforderlich wurde, um alle mitmachwilligen Staaten unterbringen zu können. Nun zählte plötzlich auch das Abstimmungsergebnis unterhalb des ersten Platzes, denn es konnte über den Einzug ins Finale entscheiden. Und ebenso plötzlich stand das bereits aus reinen Juryzeiten altvertraute Phänomen des Blockvoting im Fokus der Öffentlichkeit.
Big, butch & beautiful: die Grand-Prix-Musik wird ‘real’ (TR 2004).
Stand: 23.04.2023
Die einzelnen Jahrgänge (mit den dazugehörigen deutschen Vorentscheidungen):