Das Positive an einem Tiefpunkt ist, dass es danach nur wieder aufwärts gehen kann. Nachdem der in den letzten sechs Jahren für die deutsche Eurovisionsvorauswahl verantwortliche MDR seine totale Inkompetenz in Sachen international konkurrenzfähiger Popmusik ausführlich unter Beweis stellen und Deutschland auf europäischer Ebene bis auf die Knochen blamieren durfte, gab der Zonensender die Zuständigkeit endlich ab. Der Norddeutsche Rundfunk (NDR) übernahm und führte – nach der mit nur einem einzigen Gnadenpünktchen aus Malta für unseren Beitrag spektakulär gescheiterten Direktnominierung im Vorjahr – wieder eine öffentliche TV-Vorentscheidung ein. Denn unter keinen Umständen wollte man die Verantwortung für ein weiteres, antizipiertes Punktedebakel alleine tragen. Und, so Jürgen Meier-Beer, der Unterhaltungschef des Hamburger Senders und neue deutsche ESC-Chef, im Feddersen-Interview: “Auf keinen Fall sollte Deutschland siegen, sonst hätte der NDR das teure Grand-Prix-Finale ausrichten müssen”. Da zeigten sich die kühl kalkulierenden Hanseat:innen ganz ihrer stolzen Kaufleutetradition verbunden: nationale Ehre gut und schön, aber das Budget geht vor. Also sollten die Zuschauer:innen den potenziellen Verlierertitel selbst per TED (so der damalige Name für das Televoting) aussuchen, dann konnten sie sich hinterher wenigstens nicht beschweren.
Ein neuer verantwortlicher Sender, ein neuer Aufbruch, ein neues Glück. Das war der Plan beim deutschen Vorentscheid 1996. Es sollte nicht so ganz aufgehen.
Leider entpuppte sich die halb hoffnungsfroh, halb eigenironisch Ein bißchen Glück betitelte Show wiederum als Restmüllkippe all jener abgehalfterten Schlagerkomponist:innen, von denen auf dem echten Popmarkt längst niemand mehr etwas wissen wollte. Was daran lag, dass der NDR die Auswahl der zehn Titel für die Show dem Standesverband GEMA überließ, in dem Serienschreiber der alten Garde wie Hans Blum den Ton angaben, der 1986 mit ‘Über die Brücke gehn’ das letzte Mal einen Grand-Prix-Beitrag beigesteuert hatte. Aus Blums Feder stammte denn auch der zum Showauftakt von allen zehn Acts gemeinsam präsentierte Eröffnungssong, dessen Text so larmoyant wie seherisch darüber Klage führte, dass es deutsche Lieder “schwer” hätten, und zwar “international um so mehr”, natürlich ohne dafür die Verantwortung bei sich selbst zu suchen. Klar: Selbstmitleid ist halt einfacher als markttaugliche Musik zu kreieren. Nur zur Einordnung: die erfolgreichste deutsche Produktion des Jahres war das entsetzliche ‘Lemon Tree’ von Fools Garden, die bestverkaufte deutschsprachige Single ‘Zehn kleine Jägermeister’ von den Toten Hosen.
Klingt ein bisschen wie Wolle Petry nach der Chemotherapie – und sieht auch so aus: der Ibo (plus Playlist mit allen Vorentscheidungstiteln).
In Hamburg-Harburg eröffnete stattdessen als einziger auch nur annähernd prominenter Wettbewerbsteilnehmer der Sangria-Schlager-Sänger Ibo (bürgerlich: Ibrahim Bekirović) den Reigen. Den kannte man von seinem 1985er Sommerhit ‘Ibiza’ sowie der absolut grandiosen Nachfolgesingle ‘Süßes Blut’, welche die deutsche Musikgeschichte um so unsterbliche Reime wie “Süßes Blut in den Adern / ist schuld, dass alle dich umlagern” oder “Süßes Blut, süßes Leben / die Sucht nach dir ist immer zugegen” bereicherte. Hier nun, fernab von moskitoverseuchten Mittelmeerstränden, behauptete Ibo zum wummernden Ballermann-Stampfsound: ‘Der liebe Gott ist ganz begeistert’. Und wie: nur vier Jahre später holte dieser den gebürtigen Mazedonier im zarten Alter von nur 39 Jahren nach einem tödlichen Verkehrsunfall für immer zu sich. Der unvermeidliche Ralph Siegel schickte die in der volkstümlichen Renter:innensedierung beheimatete Angela Wiedl, die in Begleitung einer rumänischen Panflötistin antrat und das dröhnende ‘Echo’ besang, das die Fans dieser Musikrichtung vernehmen, wenn sie sich an den Kopf klopfen.
Welche Sechzehnjährige träumt nicht davon, am Morgen nach ihrer Defloration neben dieser Sauerkrautwelle wach zu werden?
Ein in Dresden gebürtiger Langhaarzottel namens André Stade (wer?) wollte die vom Austropop-Triebtäter Falco bereits zehn Jahre zuvor gemeuchelte ‘Jeanny’ wiedererwecken: diese Art der pophistorischen Leichenschändung reichte immerhin für den zweiten Platz. Als “Werbesängerin” apostrophierte der als Moderator gebuchte tagesschau-Sprecher Jens Riewa, der mit abstoßendem, aufgesetztem Hosentaschen-Machismo durch den Abend führte, die laut eigenem Pressetext von Dieter Thomas Heck entdeckte Nachwuchskraft Nina Falk (wer?). Und tatsächlich verbrachte man die kompletten drei Minuten ihres Auftrittes damit, darüber zu sinnieren, ob man ihre seltsam vertraute Stimme nun mit Süßigkeiten, Versicherungen oder Windschutzscheiben in Verbindung bringen sollte. Ihr laues Liedchen ‘Immer nur du’ lenkte dabei nicht ab. Die zeitweilige Frontfrau der abgewickelten DDR-Kapelle Datzu (wer?) und ORB-Kindersendungsmoderatorin Anett Kölpin bewarb sich mit dem kitschig-süßlichen ‘Für dich… mein Kind’, wenn schon nicht um die Grand-Prix-Teilnahme, dann wenigstens fürs silberne Mutterkreuz.
Abba in der Vorstadtspießervariante: das Schlagerquartett Rendezvous.
Gleich zwei der Teilnehmenden hatten bereits 1988 beim Lied für Dublin hintere Plätze ersungen: die kommerziell vollkommen irrelevante Schlagerformation Rendezvous, in der kurzzeitig auch eine gewisse Chris Kempers Unterschlupf fand, verbesserte sich diesmal von Rang 10 auf Platz 7, während der niederländische Komponist und Akkordeonspieler Jacques von Eijck, seinerzeit noch Teil des Duos Heartware, mit einem selbst geschriebenen Schunkelschlager erneut den neunten Platz klarmachte. Den (Peinlichkeits-)Höhepunkt bildeten vier muntere Hausfrauen direkt aus dem Stepaerobic-Kurs der örtlichen Volkshochschule, die sich in diverse Landesfahnen aus Stretchstoff quetschten und unter dem selten blöden Namen Eurocats (unter dem man die vier Hupfdohlen übrigens heute noch für Betriebsfeste und CSU-Parteitage buchen kann) einen computerbeatgetriebenen Internetschlager namens ‘Surfen – Multimedia’ zum Besten gaben. Mit von keinerlei Sachkenntnis belasteten Textzeilen wie: “Mensch sei ein User, geh’ online, im E‑Mail triffst Du mich”. Unter Trashgourmetgesichtspunkten ein absoluter Festschmaus, und selbstredend liebe ich dieses unfassliche Camp-Highlight heiß und innig. Dennoch ist es gut, dass die Eurokatzen nicht gewannen: man hätte uns im (deutschsprachigen) Ausland für genau das Volk von digitalen Analphabet:innen gehalten, das wir tatsächlich sind.
Betraten mutig #Neuland: die Euro-Cats. Nehmen Sie sich da mal ein Beispiel, Frau Merkel!
Wie viel Mühe der NDR hatte, Künstler:innen zu verpflichten, die für den Bums ihr Gesicht in die Kamera halten wollten, zeigte sich daran, dass sogar ein “singender Figaro” (Riewa), der in unmittelbarer Nähe der Veranstaltungshalle einen eigenen Salon betrieb, antreten durfte: der als Toto Cotugno für Arme ausstaffierte Enzo (wer?) erraspelte sich zu Recht die rote Laterne. Als haushoher Sieger konnte sich der einzige einigermaßen professionelle Song in diesem Meer der musikalischen Abgründe durchsetzen: der von Hanne Haller produzierte Leon (bürgerlich: Jürgen Göbel) mit einem dezenten, fancyesken Technoschlager namens ‘Planet of Blue’. Der erinnerte zwar recht deutlich an Peter Schillings ‘Major Tom’, aber dieser (letzten Endes auch nur bei David Bowies ‘Space Oddity’ geklaute) NDW-Hit lag bereits so lange zurück, dass ihn die meisten Anrufer:innen schon wieder vergessen hatten. Es war jedenfalls der erste deutsche Beitrag in diesem Jahrzehnt, für den man sich nicht zu Tode schämen musste. Und hübsch Formation tanzen konnten Leon und seine zweiköpfige Possee in ihren lackschwarzen PVC-Hosen auch, fast wie die Village People. Das hätte beim Grand Prix mit Sicherheit für einen vorderen Platz gereicht. Aber es sollte anders kommen…
Völlig losgelöst: Leon.
Deutsche Vorentscheidung 1996
Ein bißchen Glück. Samstag, 1. März 1996, aus der Friedrich-Ebert-Halle in Hamburg-Harburg. Zehn Teilnehmer:innen, Moderation: Jens Riewa. Televoting.# | Interpreten | Songtitel | Televote | Platz | Charts |
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01 | Ibo | Der liebe Gott ist ganz begeistert | n.b. | 05 | - |
02 | Anett Kölpin | Für Dich… mein Kind | n.b. | 04 | - |
03 | Enzo | Wo bist Du? | n.b. | 10 | - |
04 | Rendezvous | Ohne Dich | n.b. | 07 | - |
05 | Nina Falk | Immer nur Du | n.b. | 08 | - |
06 | Leon | Planet of Blue | 37,9% | 01 | - |
07 | Angela Wiedl + Dalila Cernătescu | Echos | 11,9% | 03 | - |
08 | André Stade | Jeanny, wach auf | 16,4% | 02 | - |
09 | Euro-Cats | Surfen – Multimedia | n.b. | 06 | - |
10 | Jacques van Eijck | Ja, das kann nur die Liebe sein | n.b. | 09 | - |
Hinweis zur Tabelle: der NDR veröffentlichte nur die Prozentangaben für die drei Erstplatzierten. Die restlichen Ränge basieren auf Hörensagen.
Letzte Aktualisierung: 16.05.2023
Hätten wir den Vorentscheids-Opener “Ein bisschen Glück” zum Grand Prix gesendet, hätte es mit Sicherheit mit der Quali für Oslo geklappt! “Ich kauf nix aus Taiwan” hätten wir damit locker hinter uns gelassen!
Dennoch tut es mir sehr leid für Leon. Blöde Jurys!