
Das Positive an einem Tiefpunkt ist, dass es danach nur wieder aufwärts gehen kann. Nachdem der in den letzten sechs Jahren für die deutsche Eurovisionsvorauswahl verantwortliche MDR seine Inkompetenz in Sachen Popmusik ausführlich unter Beweis stellen und Deutschland europaweit bis auf die Knochen blamieren durfte, gab der Zonensender die Zuständigkeit endlich ab. Der Norddeutsche Rundfunk übernahm und führte wieder eine öffentliche Vorentscheidung ein. Denn unter keinen Umständen wollte der Sender die Verantwortung für ein weiteres Punktedebakel alleine tragen. Und, so Jürgen Meier-Beer im Feddersen-Interview: “Auf keinen Fall sollte Deutschland siegen, sonst hätte der NDR das teure Grand-Prix-Finale ausrichten müssen”. Also sollten die Zuschauer den potenziellen Verlierertitel selbst per TED aussuchen, dann konnten sie sich hinterher wenigstens nicht beschweren.
Ein neuer verantwortlicher Sender, ein neuer Aufbruch, ein neues Glück. Das war der Plan beim deutschen Vorentscheid 1996. Es sollte nicht so ganz aufgehen.
Leider entpuppte sich die hoffnungsfroh-ironisch Ein bißchen Glück betitelte Show wiederum als Restmüllkippe all jener gescheiterten Schlagerkomponist:innen, von denen auf dem echten Popmarkt längst keiner mehr etwas wissen wollte (zum Vergleich: die erfolgreichste deutsche Produktion des Jahres war das entsetzliche ‘Lemon Tree’ von Fools Garden, die bestverkaufte deutschsprachige Single ‘Zehn kleine Jägermeister’ von den Toten Hosen). Der Sangria-Schlager-Sänger Ibo (bürgerlich: Ibrahim Bekirović, ‘Ibiza’) eröffnete als absolut einziger auch nur annähernd prominenter Wettbewerbsteilnehmer den Reigen. Er behauptete: ‘Der liebe Gott ist ganz begeistert’. Und wie: nur vier Jahre später holte der den gebürtigen Mazedonier nach einem tödlichen Verkehrsunfall zu sich. Ralph Siegel schickte die in der volkstümlichen Musik beheimatete Angela Wiedl, die in Begleitung einer rumänischen Panflötistin antrat und das dröhnende ‘Echo’ besang, das die Fans dieser Musikrichtung vernehmen, wenn sie sich an den Kopf klopfen. Ein Zonen-Langhaarzottel namens André Stade (wer?) wollte die vom bösen Austropop-Buben Falco bereits zehn Jahre zuvor gemeuchelte ‘Jeanny’ wiedererwecken – diese Art der Leichenschändung reichte immerhin für den zweiten Platz.
Klingt ein bisschen wie Wolle Petry nach der Chemotherapie – und sieht auch so aus: der Ibo.
Als “Werbesängerin” apostrophierte der als Moderator gebuchte tagesschau-Sprecher Jens Riewa, der mit abstoßendem, aufgesetztem Hosentaschen-Machismo durch den Abend führte, die laut eigenem Pressetext von Dieter Thomas Heck entdeckte Nachwuchskraft Nina Falk. Und tatsächlich verbrachte man die kompletten drei Minuten ihres Auftrittes damit, zu sinnieren, ob man ihre seltsam vertraute Stimme nun mit Süßigkeiten, Versicherungen oder Windschutzscheiben in Verbindung bringen sollte. Ihr laues Liedchen ‘Immer nur du’ lenkte dabei nicht ab. Den Peinlichkeitshöhepunkt bildeten vier muntere Hausfrauen direkt aus dem Stepaerobic-Kurs der örtlichen Volkshochschule, die sich in diverse Landesfahnen aus Stretchstoff quetschten und unter dem selten blöden Namen Eurocats (unter dem man die vier Hupfdohlen übrigens heute noch für Betriebsfeste und CSU-Parteitage buchen kann) einen synthiebeatgetriebenen Internetschlager namens ‘Surfen – Multimedia’ zum Besten gaben. Mit von keinerlei Sachkenntnis belasteten Textzeilen wie: “Mensch sei ein User, geh’ online, im E‑Mail triffst Du mich”. Unter Trashgourmet-Gesichtspunkten ein absoluter Festschmaus, und selbstredend liebe ich dieses unfassliche Camp-Highlight heiß und innig. Dennoch ist es gut, dass die Eurokatzen nicht gewannen: man hätte uns im (deutschsprachigen) Ausland für ein Volk von digitalen Analphabet:innen gehalten.
Betraten mutig #Neuland: die Euro-Cats. Nehmen Sie sich da mal ein Beispiel, Frau Merkel!
Die zeitweilige Frontfrau der abgewickelten DDR-Kapelle Datzu (wer?) und ORB-Kindersendungsmoderateuse Anett Kölpin bewarb sich mit dem kitschig-süßlichen ‘Für dich… mein Kind’, wenn schon nicht um die Grand-Prix-Teilnahme, dann wenigstens ums silberne Mutterkreuz. Der niederländische Komponist und Akkordeonspieler Jacques von Eijck, beim deutschen Vorentscheid von 1988 als Teil des Schlagerduos Heartware (wer?) bereits nur unter Ferner liefen…, zäumte auch diesmal das Feld von hinten auf. Als haushoher Sieger konnte sich der einzige einigermaßen professionelle Song in diesem Meer der musikalischen Abgründe durchsetzen: Hanne Hallers Friseur Leon (bürgerlich: Jürgen Göbel) mit einem dezenten, fancyesken Technoschlager namens ‘Planet of Blue’. Der erinnerte zwar recht deutlich an Peter Schillings ‘Major Tom’, aber dieser (letzten Endes auch nur bei David Bowies ‘Space Oddity’ geklaute) NDW-Hit lag so lange zurück, dass ihn die meisten Anrufer:innen schon wieder vergessen hatten. Es war jedenfalls der erste deutsche Beitrag in diesem Jahrzehnt, für den man sich nicht zu Tode schämen musste. Und hübsch tanzen konnten Leon und seine zweiköpfige Possee in ihren lackschwarzen PVC-Hosen auch, fast wie die Village People. Das hätte beim Grand Prix mit Sicherheit für einen vorderen Platz gereicht. Aber es sollte anders kommen…
Völlig losgelöst: Leon.
Stand: 21.06.2020
Deutsche Vorentscheidung 1996
Ein bißchen Glück. Samstag, 1. März 1996, aus der Friedrich-Ebert-Halle in Hamburg-Harburg. Zehn Teilnehmer:innen, Moderation: Jens Riewa.# | Interpret:in | Titel | % | Platz | Charts |
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01 | Ibo | Der liebe Gott ist ganz begeistert | - | 05 | - |
02 | Anett Kölpin | Für Dich… mein Kind | - | 04 | - |
03 | Enzo | Wo bist Du? | - | 10 | - |
04 | Rendezvous | Ohne Dich | - | 07 | - |
05 | Nina Falk | Immer nur Du | - | 08 | - |
06 | Leon | Planet of Blue | 37,9 | 01 | - |
07 | Angela Wiedl + Dalila Cernătescu | Echos | 11,9 | 03 | - |
08 | André Stade | Jeanny, wach auf | 16,4 | 02 | - |
09 | Euro-Cats | Surfen – Multimedia | - | 06 | - |
10 | Jacques van Eijck | Ja, das kann nur die Liebe sein | - | 09 | - |
Hinweis zur Tabelle: der NDR veröffentlichte nur die Prozentangaben für die drei Erstplatzierten. Die restlichen Ränge entsprechen dem Hörensagen.
Hätten wir den Vorentscheids-Opener “Ein bisschen Glück” zum Grand Prix gesendet, hätte es mit Sicherheit mit der Quali für Oslo geklappt! “Ich kauf nix aus Taiwan” hätten wir damit locker hinter uns gelassen!
Dennoch tut es mir sehr leid für Leon. Blöde Jurys!