In kleinen Schritten, aber mit großer Beharrlichkeit, tastete sich Jürgen Meier-Beer, seines Zeichens Unterhaltungschef des NDR und seit dem Vorjahr Deutschlands neuer Eurovisionsverantwortlicher, in die richtige Richtung vor. Zugute kam ihm dabei ironischerweise, dass seine Regentschaft mit einem Fiasko begonnen hatte, nämlich der Nichtzulassung des ausgewählten Beitrags ‘Der blaue Planet’ zum Eurovision Song Contest 1996 durch eine internationale Jury. Das hierdurch verursachte Fernbleiben eines der wichtigsten Hauptzahlerländer sorgte für eine schwer zu schulternde finanzielle Mehrbelastung der kleineren Nationen und für einen erheblichen Einbruch der Einschaltquoten. JMB: “Dass Deutschland gebraucht wurde, merkte ich mir”. In Jan Feddersens Eurovisionsbibel ‘Ein Lied kann eine Brücke sein’ schildert er, wie sich bei der maßgeblich von ihm betriebenen, längst überfälligen Reformierung des seinerzeit hoffnungslos verstaubten Wettbewerbs dennoch “in kafkaesker Weise immer neue Eurovisionsgremien” auftaten, welche “hauptsächlich aus älteren Herren” bestanden, die im Grand Prix die geeignete Instanz zur Rettung ihrer nationalen Kulturgüter sahen und sich dem deutschen Fernsehmacher bei seinen Modernisierungsplänen in den Weg stellten. Braucht halt alles seine ‘Zeit’.
Schrott nach Acht: die Playlist mit den verfügbaren Beiträgen zum Durchskippen.
Immerhin gelang es dem “Doktorchen” (Jens Riewa), neben der Big-Four-Regel zumindest optional die Abstimmung per Televoting sowie das Halbplayback durchzusetzen. Fünf Nationen, darunter unser Nachbarland Österreich, nahmen daraufhin in Dublin von der Verwendung des Orchesters und der Jury Abstand. Beim heimischen Vorentscheid hatte er die prinzipiell richtige Idee, die musikalische Bestückung aus den Fängen der Komponistenlobbys zu befreien und sie stattdessen den fünf umsatzstärksten Plattenfirmen zu überlassen, in der hoffnungsvollen Annahme, dass diese ihre besten Acts beisteuern würden. Die Musikmajors ließen den Hamburger jedoch schnöde im Stich. Was auch damit zu tun hatte, dass die beschriebenen kafkaesken Eurovisionsgremien die von Meier-Beer ebenfalls verfolgte Aufhebung des Landessprachenzwangs weiterhin blockierten. Dementsprechend zeigten die Multis wenig Interesse, ihre nationalen Hauptumsatzträger:innen (verkaufsstärkste deutschsprachige Titel 1997: ‘Warum?’ von Tic Tac Toe, ‘Du liebst mich nicht’ von Sabrina Setlur und ‘Engel’ von Rammstein) in einer riskanten Vorentscheidung zu verheizen, wo ein hinterer Platz für einen Karriereknick sorgen könnte. Nur, um sie dann zu einem weiteren Wettbewerb zu entsenden, der aufgrund dieser Beschränkung keinerlei Chance auf eine internationale Vermarktung bot. Also schickten sie bloß Nachwuchssternchen und Ausschussware.
Michael Jackson, NDW-Markus, La-le-lu-Rühmann und Liberace in einem: Leon.
Ein Textzitat aus Leons ‘Planet of Blue’, dem im Vorjahr bei der internationalen Vorauswahl auf so skandalöse Weise gescheiterten deutschen Beitrag, verhalf der Sendung zu ihrem Namen: “Der Countdown läuft”. Leon ging erneut an den Start. Seine Komponistin Hanne Haller hatte sich auf der Suche nach Inspiration bei ihren Streifzügen durch die Archive der Neuen Deutschen Welle diesmal nicht bei Peter Schilling bedient, sondern bei Markus und dessen possierlich-camper, interstellarer Liebesballade ‘Kleine Taschenlampe brenn’. Leons viel zu harmlose Neubearbeitung konnte sich jedoch nicht so recht zwischen Zuckerschock und Dancefloor entscheiden, zumal er nicht nur mit doppelt so vielen Hintergrundtänzer:innen antrat wie im Vorjahr, sondern selbst doppelt so aufgedreht herumhampelte. Ungelenk-semisynchrone Schrittchen führten ebenso die Verliebten Jungs vor, eine vom Musikproduzenten Bob Arnz (später verantwortlich für die popmusikalischen Schnellschüsse der Big-Brother-Containerbewohner, darunter Zlatko) zusammengecastete Boyband, deren vier Mitglieder zwar nicht mit stimmlichem oder tänzerischem Talent punkten konnten, dafür aber mit aufgepumpten Brustmuskeln. Leider vergaßen sie, vor dem Auftritt die in Norddeutschland ganzjährig erforderlichen Regenmäntel auszuziehen, so dass sie sehr schnell ins Schwitzen kamen.
Bei diesem Vollplaybackauftritt zeigte sich die deutsche Königin des Comebacks etwas freizügiger als bei der Vorentscheidung: Michelle.
Auch die Sängerin Viveca (wer?), als deren Claim to Fame der erneut zum Moderator berufene tagesschau-Schmierlappen Jens Riewa das Einsingen der Titelmelodie zur RTL-Daily-Soap ‘Gute Zeiten, schlechte Zeiten’ annoncierte, ließ sich von vier beeindruckend durchtrainierten Herren tänzerisch begleiten. Was ihren Beitrag ‘Komm zurück’ zumindest optisch etwas erträglicher machte, wenn schon nicht akustisch. Manuela Ahlrichs war mal Mitglied im Damen-Schlagertrio Valerie’s Garten (sic), die zwischen 1991 und 1993 eine Handvoll mittlerer Hits hatten. Solo sollten ihr keine Erfolge mehr gelingen. Den Solidaritätszuschlag in Form des obligaten Auftritts einer in der TV-Abstimmung vollkommen chancenlosen ostdeutschen Künstlerin kassierte diesmal die im Harz geborene Chansonniere und spätere Gesangsschuldozentin Anke Lautenbach († 2012). ‘Im Auge des Orkans’ stand eine gewisse Tanja Hewer, Schlagerfreund:innen auch als Michelle bekannt. Die sowohl in ihrer künstlerischen Laufbahn wie im Privaten zur großen Tragödie neigende, kleinwüchsige Sängerin mit der markanten Piepsstimme kam im festlichen Abendkleid und mit ihrem fiepend vorgetragenen Schmachtfetzen immerhin auf den dritten Platz.
Manchmal wirft der Herr kein Hirn vom Himmel: die Siegelschen Seniorendisco-Engel.
Neben den Plattenmultis durften auch die vier bestplatzierten Komponist:innen des Vorjahres je einen Beitrag beisteuern, weswegen Ralph Siegel gleich zwei Eisen im Feuer hatte. Er schickte seine beiden Patentbeiträge, das Seniorendisco-Potpourri und die Weltfriedenskitschhyme. Kennen Sie das Geräusch, das Katzen von sich geben, wenn man sie im Weiher ersäuft? Ich auch nicht, aber es muss sich ungefähr so anhören wie die Gesangskünste des unmittelbar nach der erfolglosen Vorentscheidungsteilnahme wieder aufgelösten, Siegelschen Einweg-Damenquintetts All about Angels, von dessen weitgehend namenlos bleibenden Töneschänderinnen lediglich Lilian Klebow später eine Karriere machen sollte. Wenn auch nicht musikalisch, sondern als Serienschauspielerin (SOKO Wien). Ihr besinnungslos ballernder Synthieschlager ‘Engel’ bediente sich freizügig bei Cindy & Berts ‘Immer wieder sonntags’ und seinem legendären “Dip a dip a dip dip, dip”. Sowie am Soundgerüst des Vorjahresvorentscheidungskultknallers ‘Surfen – Multimedia’ der fabelhaften Eurocats. Er gehört wie eben jenes Machwerk damit selbstredend zu meinen schamvollsten Guilty Pleasures.
Gab es je eine ‘Zeit’ für diese Flatterlappen, Bianca?
Die Trauben erntete Siegel stattdessen mit seinem zweiten Beitrag ‘Zeit’. Wie er später verriet, schrieb er die pompöse Bombastballade ursprünglich für Esther Ofarim, um sie als image- und punkteförderliches deutsch-israelisches Aussöhnungsprojekt verkaufen zu können. Frau Ofarim forderte aber 50.000 € Gage: einen solchen Betrag konnte wollte Mr. Grand Prix nicht hinblättern. Es sprang die überperformative Bielefelder Bankkauffrau Bianca Shomburg ein, die Siegel mit Rüschenläppchen und Landpomeranzendauerwelle als möglichst maßstabsgetreue Nicole-Kopie ausstaffierte. So glaubten wohl viele TED-Anrufer:innen, mit ihr die ‘Zeit’ um 15 Jahre zurückdrehen zu können. Natürlich, auch wenn ich damit vorgreife, vergebens. Frau Schaumburg, die im Jahr zuvor als Céline-Dion-Kopie die internationale RTL-Soundmixshow gewann, blieb dem Casting-Métier treu: nachdem ihr eine eigenständige Schlagerkarriere nicht gelingen wollte, brachte sie etlichen Kandidat:innen von Deutschland sucht den Superstar das Singen bei. Gemeinsam mit ihrem Mann gründete sie zudem eine Country-Formation.
“Der Muff ist endlich vertrieben” behauptete Jens Riewa im Hinblick auf die Neuerungen beim Eurovision Song Contest. Beim deutschen Vorentscheid 1997 (ganze Show am Stück) staubte es hingegen noch reichlich.
Deutsche Vorentscheidung 1997
Der Countdown läuft. Donnerstag, 27. Februar 1997, aus der Musik- und Kongresshalle Lübeck. Neun Teilnehmer:innen, Moderation: Jens Riewa. Televoting.# | Interpreten | Songtitel | Televote | Platz | Charts |
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01 | Verliebte Jungs | Ich bin solo | 01,8% | 09 | - |
02 | Michaela Ahlrichs | Es lebe die Liebe | 09,3% | 05 | - |
03 | Jeana | Kein “Bitte verzeih mir” | 05,8% | 06 | - |
04 | All About Angels | Engel | 04,3% | 07 | - |
05 | Michelle | Im Auge des Orkans | 11,8% | 03 | - |
06 | Leon | Schein (meine kleine Taschenlampe) | 13,0% | 02 | - |
07 | Bianca Shomburg | Zeit | 40,2% | 01 | 90 |
08 | Viveca | Komm zurück | 02,5% | 08 | - |
09 | Anke Lautenbach | Zwischen Himmel und Erde | 11,4% | 04 | - |
Letzte Aktualisierung: 17.05.2023
Steht hier in Ö grad in jeder Zeitung, dass die Schauspielerin Lilian Klebow bei All About Angels dabei war 😀