Mit dem Isländer Paul Oscar, den das Erste als Stargast zur deutschen Vorentscheidung 1998 einfliegen ließ, und der schelmisch “alle Swüle” im Bremer Publikum grüßte, worüber sich der diesjährige Gastgeber Axel Bulthaupt besonders strahlend freute, hatte der Eurovision Song Contest, schon seit jeher die jährliche Fußballweltmeisterschaft queerer Menschen, im Vorjahr endlich sein offizielles Coming Out geschafft. Vor diesem Hintergrund erschien die Teilnahme von Rosenstolz an dieser als revolutionär in die Annalen der deutschen Grand-Prix-Geschichte eingehenden Veranstaltung nur folgerichtig. Das Berliner Duo, bestehend aus dem offen schwulen Keyboarder Peter Plate und der Sopranistin Anna R. (bürgerlich: Andrea Rosenbaum), galt mit Chansons wie ‘Schlampenfieber’ schon lange als Geheimtipp in der Szene. Mit der grandprixesken, melancholischen und bewegenden Ballade ‘Herzensschöner’ schafften die Beiden hier den Sprung in den Mainstream. Obwohl sie nur Zweite wurden, verkaufte sich ihre Single sehr gut. Und öffnete die Schleusen für einen bis zur endgültigen Auflösung des Projektes im Jahre 2012 nicht mehr versiegenden Strom deutschsprachiger Top-Hits, die im Radio – auch auf den bis dahin streng englischsprachigen Popwellen – sowie auf den Clipkanälen allesamt im Powerplay liefen.
Profitierten von der Grand-Prix-Revolution: Rosenstolz.
Im Grunde fanden in diesem Jahr jedoch Guildo-Horn-Festspiele statt. “Der Meister”, wie ihn seine damals zahlreichen Fans (zu denen selbstverständlich auch ich zähle) huldigend nannten, hatte sich durch ausgedehnte Tourneen, bei denen er sich jeweils bis zur Grenze der Erschöpfung verausgabte und nie vergaß, “von der Mutti” gebackene Nussecken zu verteilen, an die Spitze einer ebenfalls im schwulen Untergrund entstandenen Kulturrevolution setzen können: der lustvollen Wiederentdeckung des klassischen deutschen Schlagers der Siebzigerjahre. Das bis dato hierzulande vor allem in intellektuellen Kreisen am meisten verachtete Musikgenre bot nämlich ungezählte campe Kultschätze, und Horn hob sie. Durch ironische Brechung, in dem er schweißdampfende Rocksongs aus Schlagern wie Howard Carpendales ‘Fremde oder Freunde’ oder Schlager aus Rocksongs wie Billy Idols ‘Rebel Yell’ (in seiner Version: ‘Tanz den Horn’) machte, verlieh er der sich auf ihrem Höhepunkt befindlichen Schlagerspaßwelle die entscheidenden Impulse und kämpfte erfolgreich den “Kreuzzug der Zärtlichkeit”. Für den Wettbewerb ließ sich Horn vom inoffiziellen Anwärter auf die Thronfolge Ralph Siegels, Stefan Raab, das rundweg brillante ‘Guildo hat Euch lieb’ schreiben.
Aus Joan Jetts ‘I love Rock’n’Roll’ machte der Meister die Hymne der ironischen Schlagerliebhaber:innen: ‘Ich find Schlager toll’ (Repertoirebeispiel).
Wie alle bedeutenden Meisterwerke der Musikgeschichte ein Elaborat mit Spaltpotenzial: denn viele Menschen hörten nur “Piep, piep, piep” und fühlten sich verarscht. Dabei meinte es der als Horst Köhler in Trier geborene Meister mit Textzeilen wie “Da wurde Knuddeln und Knutschen und Lieben / immer groß geschrieben” durchaus aufrichtig: seine ehrliche Faszination am Schlager, die ihn bei allem Augenzwinkern so authentisch machte, basierte auf den “kleinen Fluchten”, welche die gefühlsbetonten Schlagertexte aus einer Welt bieten, in welcher üblicherweise “der Kopf sehr dominant” ist, wie er in vielen Interviews erklärte. Eben “die Befreiung von der Vernunft”, so der Titel der Diplomarbeit des gelernten Pädagogen, der aus seiner Arbeit als Musiktherapeut bei der Trierer Lebenshilfe um die positive Kraft dieses Herangehens wusste. Mit Guildo Horn brach auf einmal jemand mit Bundesligaformat in die während der letzten zehn Jahre doch eher in der Freizeitliga spielenden Veranstaltung ein. Entsprechend groß fiel die mediale Aufmerksamkeit aus. Zumal die Bild (auf Veranlassung von Horns damaligem Medienmanager, dem offen schwulen Nollendorfblogger Johannes Kram) treffsicher das Skandalpotential des wegen seines nicht mainstreamkompatiblen Äußeren umstrittenen Meisters erkannte und die Spaltung der Nation in Horn-Jünger:innen und Horn-Hassende mit Schlagzeilen wie “Darf dieser Mann für Deutschland singen?” anheizte.
Besonders hübsch, wie Horn im Einspieler noch die drei größten Grand-Prix-Hits Ralph Siegels namecheckt. Nur, um ihn dann vom Thron zu stoßen.
Er durfte: 61% der Anrufenden stimmten für ihn und seine lustige, von Horn enthusiastisch wie immer vorgeturnte Kuschelnummer. Ein Ergebnis, von dem selbst die CSU schon damals nur noch träumen konnte. A propos: ältere und konservative Menschen, die den Witz nicht verstanden, reagierten entsetzt. Die jüngeren Zuschauer:innen jedoch, die dem Eurovision Song Contest in den letzten 15 Jahren größtenteils fernblieben, schalteten nun wieder in Massen zu – die Quote verdoppelte sich gegenüber dem Vorjahr – oder verfolgten die Show gemeinsam fröhlich feiernd auf riesigen Open-Air-Partys. Der Meister verwandelte den zuletzt arg verpönten Wettbewerb in Deutschland wieder in ein relevantes TV-Ereignis. Allerdings verblasste aufgrund des von vielen Medien begierig aufgegriffenen Hypes (siehe diesen sehr erhellenden Hintergrundbericht von Stefan Niggemeier) das restliche Feld neben Rosenstolz und Horn zur bloßen Staffage. Abermals waren die heimischen Plattenfirmen aufgefordert, ihre besten Umsatzträger:innen einzureichen (erfolgreichste deutschsprachige Singles 1998: ‘Männer sind Schweine’ von den Ärzten, ‘Die Flut’ von Heppner & Witt und das Grönemeyer-Cover ‘Flugzeuge im Bauch’ von Soapsternchen und Schlagerconnaisseur Oliver Petszokat). Abermals schickten sie eher hoffnungslose Fälle.
Die Playlist mit allen verfügbaren Beiträgen zum Durchskippen.
Ralph Siegel, sich zu Recht bedroht fühlend, schoss (auch auf Bitten des NDR-Mannes Jürgen Meier-Beer, den mehrere Labels in letzter Sekunde im Stich gelassen hatten) mit gleich drei Beiträgen zurück, einer grässlicher und nichtiger als der andere. So muss man doch staunen, dass die heute als Freifrau Teuffel vom Birkensee verheiratete Sharon Brauner, Nichte des legendären deutschen Filmproduzenten Arthur Brauner (‘Die weiße Rose’ und rund 500 andere Werke), als Jugendliche Star in einigen seiner Produktionen sowie Kleinkunstsängerin beispielsweise in der Berliner Bar jeder Vernunft, sich vom Münchener Altmeister das nun wirklich entsetzlich altbackene und bereits tausendfach von ihm variierte ‘Kids’ andrehen ließ. Mit ‘Carneval’ und einem depressiv dreinblickenden Sänger mit Clownsschminke im Gesicht goss er sein ebenfalls zur Unkenntlichkeit abgenudeltes, zirzensisches ‘Theater’ nun bereits zum dritten Mal auf. Den Tiefpunkt des Grauens bildete aber eine zum aggressiven Computerbeat hysterisch dauergrinsende und ‘Can-Can’-tanzende Lurextrine, vermutlich eine unfreiwillige Reverenz an Evelyn Hamanns Kult-Darbietung ‘Meine Schwester heißt Polyester’ aus Loriots Meisterwerk Ödipussi. Siegels völlig verzweifelt wirkende Nummern verendeten geschlossen auf den Rängen sechs bis acht.
Nichts für den Wettbewerb, aber als Füllstoff vom Feinsten: Maria Perzil stimmen frohgemut auf die Rezession ein.
In der Telefonabstimmung auf schockierende Weise (oder auch nicht, wenn man den bekanntermaßen katastrophalen Geschmack der Deutschen bedenkt) knapp hinter Rosenstolz landeten Die drei jungen Tumore. Entschuldigung: Tenöre. Popera: wann stellt man dieses musikalische Verbrechen gegen die Menschlichkeit endlich unter Todesstrafe? Wind, die Unermüdlichen und von Siegel schon lange Emanzipierten, versuchten es in der mittlerweile geschätzt vierhundertsten Besetzung mit einem selbst geschriebenen Schlagerchen von erbarmungswürdiger Schlichtheit. Aber auch ihre Zeit war vorüber. Fein hingegen der von Annette Humpe (Ich & Ich) produzierte ‘Gel-Song’ von Christian von Richthofen alias Fokker, eine verspielte kleine NDW-Reminiszenz, sowie das geradezu seherische ‘Freut Euch!’ des (rein männlichen) Rockduos Maria Perzil, das allerdings zwei Jahre zu früh dran war: “Jetzt kommen die schlechten Zeiten” hätte der Song zur Internetblase sein können, die aber erst 2000 platzte. Mit dem Bandmitglied Markus Krüger, der in den Siebzigern in der deutschen Adaption der Sesamstraße mitspielte, fand sich neben Sharon Brauner ein weiterer ehemaliger Kinderdarsteller im Line-up. Beide Lieder erzählten augenzwinkernd lakonische Verlierergeschichten und passten damit wunderbar in den aktuellen, von Ironie gesättigten Zeitgeist.
“Ich geh da nicht mehr hin!” Nena ist erbost, dass der Tumult bei der Siegerverkündigung nicht ihr gilt.
Anlass zur Heiterkeit bot zudem die ehemalige NDW-Ikone Nena Kerner, die neben Bulthaupt als Komoderatorin auf sehr charmante Weise kolumbianisch aufgedreht durch die Show führte und bei der Ansage der einzelnen Acts aus ihren persönlichen Sympathien kaum einen Hehl machte. Die mittlerweile leider wie so viele Altstars ins Lager der Aluhutträger:innen abgewanderte Sängerin wurde zum ersten Opfer der sich bei der Siegerreprise endgültig freie Bahn brechenden Meister-Euphorie: “Menno, die haben mich einfach umgerannt, diese Schwachköpfe!”, konnten die Zuschauer:innen ihre empörten Hilferufe übers noch offene Handmikro vernehmen, nachdem Journalist:innen und enthemmte Horn-Jünger:innen in nicht enden wollenden Strömen auf der Bühne einfielen und der Abend im Chaos versank. Erst nach langen Minuten der blanken, ungefilterten Anarchie (was natürlich nur auf dem Bildschirm so wirkte: der NDR hatte mit Bedacht keine Absperrungen oder Securities aufgestellt, um solch ein Szenario zu ermöglichen) konnte Horn, eingekesselt von zwei Kameras, die ihn notdürftig gegen die Horden abschirmten, seinen Song noch mal zu Gehör bringen, während die Massen auf der Bühne fröhlich weiterfeierten. War das ein Festtag!
Historisch: der komplette Countdown Grand Prix 1998 am Stück.
Deutsche Vorentscheidung 1998
Countdown Grand Prix. Samstag, 26. Februar 1998, aus der Stadthalle in Bremen. Zehn Teilnehmer:innen. Moderation: Axel Bulthaupt und Nena. Televoting.# | Interpreten | Songtitel | Televote | Platz | Charts |
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01 | Shana | Es regnet nie in Texas | n.b. | 09 | - |
02 | Ballhouse | Can-Can | n.b. | 06 | - |
03 | Maria Perzil | Freut Euch! | n.b. | 10 | - |
04 | Diana + Wind | Lass die Herzen sich berühren | n.b. | 05 | - |
05 | Sharon Brauner | Kids | n.b. | 08 | - |
06 | Guildo Horn | Guildo hat Euch lieb | 61,0% | 01 | 04 |
07 | Rosenstolz | Herzensschöner | 10,6% | 02 | 34 |
08 | Köpenick | Karneval | n.b. | 07 | - |
09 | Fokker | Gel-Song (Kleine Melodie) | n.b. | 04 | - |
10 | Die drei jungen Tenöre | Du bist ein Teil von mir | 10,2% | 03 | - |
*Hinweis zur Tabelle: der NDR veröffentlichte nur die Prozentangaben zu den ersten drei Plätzen, der Rest ist Hörensagen.
Letzte Aktualisierung: 17.05.2023
Free at last! Es muss wohl der Tag nach dem Vorentscheid gewesen sein. Seit dem Grusel-Grand Prix 1984 hatte ich diese Veranstaltung gemieden – und daher auch von diesem Vorentscheid nix mitbekommen. Aber wie gesagt, mutmaßlich am Tag danach, ich war gerade nach Hause gekommen und wollte mir mein Abendessen machen, klingelte jemand Sturm. Das konnte eigentlich nur meine Nachbarin sein. Sie war es, und sie war voller Euphorie: ‘Stell dir vor, der Guildo fährt zum Grand Prix!’ – Ich stutzte: ‘Wer fährt zum Grand Prix?’ – ‘Na, der Guildo Horn!’ O.K., den Namen hatte ich schon mal gehört, aber viel anfangen konnte ich damit nicht. Meine Nachbarin zerrte mich am Arm: ‘Ich hab’s auf Video, das musst du sehen!’ Wir also rüber in ihre Wohnung, der Fernseher lief schon, sie spulte die Cassette etwas zurück. Na ja, und dann ging unwillkürlich ein breites Grinsen über mein Gesicht, als ich den Auftritt des Meisters sah, und ich dachte mir: ‘Das ist ja mal ein Schrat – dieser Grand Prix könnte ja echt interessant werden.’ Seitdem habe ich kaum einen ESC verpasst, und bereut habe ich das noch weniger als meine lange Abstinenz in den dunklen Jahren zuvor. Und auch wenn in den letzten Jahren die Punktevergabe ein wenig spannungsarm war, so war das musikalische Angebot doch jeweils sehr gut und vor allem sehr divers. Ob aber – angesichts von 50% Juryvoting – so ungewöhnliche Beiträge wie, um nur ein paar Beispiele zu nennen, die von Lordi, Zdob si Zdub, Verka Serduchka oder auch Athena auch nur noch den Hauch einer Chance haben werden, in Zukunft noch unter die Top Ten zu kommen, wage ich zu bezweifeln. Vielleicht muss ich mich wieder auf einige Jahre Abstinenz einrichten.