Auch im Jahre Eins n.M. (nach dem Meister) brandeten die emotionalen Wellen erneut hoch auf bei der deutschen Grand-Prix-Vorentscheidung im doch eigentlich so kühlen Bremen. Das hatte diesmal allerdings weniger mit polarisierenden Teilnehmer:innen zu tun und erst recht nicht mit der überwiegend mauen musikalischen Güte der elf Beiträge. Sondern vielmehr mit einem fiesen (Münchener?) Maulwurf und einer betrogenen Siegerin. Sowie dem schlechten Einfluss von Deutschlands größtem und miesesten Schundblatt, mit dem der öffentlich-rechtliche NDR eine unheilvolle Allianz eingegangen war. Nach der erfolgreichen Kampagne des Vorjahres um Guildo Horn (“Darf dieser Mann für Deutschland singen?”) hatte die Bild nämlich Blut geleckt. Das Boulevardblatt führte einen eigenen “Schlagerwettbewerb” durch, aus dem die achtzehnjährige Kichererbse Jeanette Biedermann, ein Ostberliner Zirkuskind mit abgebrochener Frisörinnenlehre, als Siegerin hervorging. ‘Das tut unheimlich weh’ hieß ihre Nummer: eigentlich eine Steilvorlage für billige Witze, aber der peppige Technoschlager im Blümchenstil stellte sich als bester Beitrag des Abends heraus. Kein Wunder, handelte es sich hierbei in musikalischer Hinsicht um nichts anderes als die deutsche Originalversion des Top-20-Hits ‘Kaleidoscope Skies’ des Frankfurter Techno-Duos Jam & Spoon aus dem Jahre 1997.
Dem (ganz niedlichen) linken “Geiger” mangelt es wohl ein wenig am nötigen Ernst: Jeanette Biedermann (plus Playlist mit zehn der elf Vorentscheidungstiteln in Startreihenfolge).
Selbst der ob der lyrischen Qualität ihres Schlagertextes (“Du willst nur mein Herz verschieben”? Ging es um Organhandel?) wenig wählerischen Jeanette zog es ob dieser kompositorischen Dreistigkeit die Schuhe aus: kaum auf der Bühne, entledigte sie sich ihrer hässlichen Deichmann-Klumppumps und absolvierte ihre drei Minuten barfuß. Und das hauptsächlich in der Hocke. Tat ihr irgendwas unheimlich weh? (Sorry, ich konnte doch nicht daran vorbei gehen!) Die Bild-Unterstützung nutzte nichts: Rang vier für die Biederfrau. Der einzige (!) etablierte Solo-Künstler des Abends war Patrick Lindner. Der Musikantenstadl-Dauergast hatte gerade sein öffentliches Coming-Out hinter sich gebracht und versuchte sich an einem behutsamen Imagewechsel, weg vom Volkstümlichen und hin zum Pop-Schlager. Dazu sollte seine Grand-Prix-Teilnahme beitragen, und so wandelte er mit dem beschwingt-nachdenklichen, ausgerechnet von Alfons Weindorf (Atlantis 2000) verfassten ‘Ein bisschen Sonne, ein bisschen Regen’ zaghaft auf den Spuren von Lena Valaitis und Nicole. Schlechtes Timing: der Markt für klassischen deutschen Schlager implodierte just zu diesem Zeitpunkt; die letzten Überlebenden aus den Siebzigern wie Mary Roos und Marianne Rosenberg sollten bald gezwungen sein, in die lästigen lustigen Musikantenscheunen auszuweichen, um überhaupt noch TV-Auftritte zu bekommen, bevor Helene Fischer Mitte der 2010er erneut einen Schlagerbooom auslöste.
Der Junge mit der Mundharmonika: Patrick “so ein netter junger Mann” Lindner.
Zudem schalteten gerade in diesem Jahr viele konservative Schlagerfans ohnehin nicht zu, da sie wegen Guildo Horn – in ihren Augen ein Frevler und Spötter – im Unfrieden mit dem Grand Prix lebten. Zum Dritten aber, und viel entscheidender: für den armen Patrick stand so viel auf dem Spiel, dass man ihm die Nervosität deutlich anmerkte. So stark zitterte er, dass man drei Minuten lang förmlich darauf wartete, wann ihm das Mikro aus den Händen spränge. Es gab einen desaströsen neunten Platz. Erneut überließ der NDR den fünf größten Musikmultis die Auswahl der teilnehmenden Künstler:innen. Und obschon der unermüdlich gegen Windmühlenflügel kämpfende Jürgen Meier-Beer bei der EBU nach langem, zähen Ringen endlich durchsetzen konnte, dass ein:e Jede:r beim Eurovision Song Contest in der Sprache singen darf, die ihr oder ihm am meisten behagt (also eben auch in englisch, der besseren Vermarktungschancen wegen), zeigten sich diese erneut undankbar und schickten wiederum hauptsächlich blutjunge Nachwuchshoffnungen, von denen vorher noch nie jemand etwas gehört hatte. Und hinterher auch nicht. Nur zum Vergleich: die erfolgreichste deutsche Produktion des Jahres war das Cover ‘Mambo No. 5’ von Lou Bega, die meistverkaufte deutschsprachige Single hatte Xavier Naidoo mit ‘Sie hört mich nicht’. Der wollte sich aber erst anderthalb Dekaden später vom NDR vor den Zug schubsen lassen…
Und heut Abend hab ich Kopfweh: Megapeinlich.
Die Testbühnentalente trugen fast alle nur einen Vornamen, was man sich nur dann wirklich leisten kann, wenn man es zum internationalen Superstar geschafft hat wie Madonna oder Cher. Heißt frau hingegen Cathrin und bringt es gerade mal auf eine Tonträgerveröffentlichung und einen TV-Auftritt, bedeutet dies, dass sich nie wieder ein Mensch an sie erinnern wird. Was gleichermaßen für den blassen Jüngling Elvin galt, zumal sein Künstlername eigentlich bereits durch den erwähnten Atlantis-2000-Clanchef Alfons Weindorf belegt war, der in den Achtzigern unter diesem Pseudonym einen erfolglosen Eurodance-Titel veröffentlicht hatte. Naima (bürgerlich: Nathalie Pütz) brachte es anschließend immerhin auf zwei mindere Hitsingles, darunter die Big-Brother-Titelmelodie ‘Nur die Wahrheit zählt’. Ihr hier dargebotenes, völlig harmloses Kinderliedchen ‘Itzy Bitzy Spider’ floppte hingegen hart. Die honigsüße Carol Bee aus meiner Heimatstadt Frankfurt am Main versank zwar im Anschluss ebenso so schnell wieder in der Versenkung wie ihre einnamigen Kolleg:innen, ging aber immerhin als die allererste Künstlerin, die bei einem deutschen Vorentscheid ein komplett auf Englisch gesungenes Lied präsentierte, in die Annalen ein. Wobei man sich fragt, weswegen: ihr ‘Loverboy’ bestand im wesentlichen aus vier Wörtern Refrain und zeichnete sich durch eine extrem hohe Redundanz aus.
Winke-winke: Sürpriz.
Den Tiefpunkt setzten unterdessen zwei auf den Namen Megasüß hörende Mädels, die ihre Plattenfirma offensichtlich als billiger Abklatsch im Marktsegment von Tic Tac Toe aufzubauen gedachte. ‘Ich habe meine Tage’, informierten sie rappend ihre gleich drei aufdringlichen Verehrer sowie ein desinteressiert-irritiertes Publikum. Denn natürlich taten die Beiden das nicht, um gesellschaftliche Aufmerksamkeit für die mangelnde Verfügbarkeit kostenloser Menstruationsprodukte an öffentlichen Orten herzustellen, sondern des Schockwertes wegen. Zumal sie sich inhaltlich eher im Bereich von Ireen Sheers ‘Heut Abend hab’ ich Kopfweh’ bewegten. Da wünschte man sich, insbesondere als von der Erdbeerwoche bislang verschont gebliebener schwuler Grand-Prix-Fan, beinahe Ralph Siegel zurück. Und wie auf’s Stichwort lugte der Grand-Prix-Opi auch schon im Einspieler zwischen seinen Feigenblatttürk:innen von Sürpriz hervor. Ein Taxifahrer habe ihm die geniale Idee eingeflüstert: mit der Einführung des reinen Televotings gingen im Vorjahr erstmalig die deutschen Douze Points an die Türkei (das Diaspora-Voting). Warum also nicht eine Gruppe Deutscher osmanischer Abstammung zusammenstellen? Das sollte die Chancen beim Vorentscheid erhöhen, zwölf Gegenpunkte aus der Türkei beim ESC sichern und ließe sich zudem imagefördernd als liberal-weltoffenes Multi-Kulti verkaufen.
Könnte mit diesen absolut entzückenden Segelohren selbst von der Landebahn abheben: der absolut entzückende Michael von der Heide.
Auch wenn sich ‘Die Reise nach Jerusalem’ natürlich doch nur als der selbe alte opportunistisch-ranzige Weltfriedensquark herausstellte wie immer. Das Kalkül sollte daheim erst mal nicht wie erhofft aufgehen: Rang 2 im “T‑Vote-Call”, wie die Publikumsabstimmung nun offiziell hieß, was uns zwei von der Telekom abgestellte, geschäftig hinter klobigen PC-Monitoren residierende Herren vergebens einzutrichtern suchten. Denn neben den letzten Resten von Wind, die hier scheppernd ihr laues Lüftchen aushauchten, und einem charmant-versponnenen, leider vollkommen chancenlosen Schweizer Gastbeitrag in Form von Michael von der Heides lustigem Besuch in der ‘Bye Bye Bar’ (die Helvet:innen mussten aufgrund der von Alexis Bulthaupt mit diebischer Schadenfreude erwähnten Nul Points für Gunvor in Birmingham heuer aussetzen und versuchten nun, ihren queeren Saftschubsenschlager im Fluggepäck des nördlichen Nachbarn nach Jerusalem zu schmuggeln), gab es da noch die Heimfavoritin, die blinde Bremerin Corinna May. Die saß festzementiert vor sich hin schaukelnd auf ihrem Hocker und intonierte mit lauter, hoher Stimme das verlogen-kitschige ‘Hör den Kindern einfach zu’: wer schon einmal unausgeschlafen und schlecht gelaunt im morgendlichen Berufsverkehr in eine mit kreischenden, plappernden und tobenden Schüler:innen voll besetzte Straßenbahn geraten ist, teilt diese wohlfeile Forderung nicht!
Einmal so liebevoll von der Seite angehimmelt werden wie Corinna May von ihrem Komponisten Frank Zumbroich!
Währenddessen gab der ihr direkt zur Seite gestellte Zivi Gitarrist Corinna per Gedankenübertragung die Einsätze vor. Das hatte ein bisschen was von betreutem Singen, rührte jedoch die Herzen der Zuschauer:innen. Behinderten- plus Kinderbonus: es fehlten nur noch Tiere auf der Bühne (wobei, der Drummer…)! Aber auch so ging das Kalkül auf: mit einem guten Drittel der abgegebenen Stimmen gewann sie haushoch. Doch die Tränen, die Corinna May (bürgerlich: Meyer) noch vor laufenden Kameras vor Freude über ihren Sieg vergoss, sollten nicht ihre letzten bleiben. Denn kaum war die Siegerreprise verklungen, fingen die Maulwürfe an zu buddeln. Irgendeine missgünstige Petze fand heraus, dass Corinnas Produzent die englischsprachige Ursprungsfassung ihres Titels bereits 1997 auf eine Promo-CD hatte pressen lassen, in einer Auflage von sage und schreibe 500 Stück! Wenngleich man das schwerlich als kommerzielle Veröffentlichung bezeichnen kann: dem NDR reichte es, den Titel zu disqualifizieren, vermutlich aus Angst vor einer rachebeflügelten, tagelangen Schlagzeilenkampagne in der Bild. Und so profitierte Ralph Siegel nach 1976 bereits zum zweiten Mal von der nachträglichen Streichung des Siegertitels und konnte doch noch seine Kapelle auf die Reise nach Jerusalem schicken. Zufälle gibt’s!
Deutsch-schweizerische Koproduktion: der deutsche Vorentscheid 1999.
Einen um so bittereren Beigeschmack erhielt der Vorfall dadurch, dass Siegels Völkerverständigungsschlager sogar noch ein paar Jahre mehr auf dem Buckel hatte: bereits 1984 veröffentlichte er die Nummer als B‑Seite der Single ‘Tingel Tangel Mann’, seines damaligen Vorentscheidungsbeitrags der Einweg-Retortenformation Harmony Four. Doch die entsprechenden Einwände der Grand-Prix-Lordsiegelbewahrer des OGAE verhallten sowohl beim NDR, der sich nicht noch weiter öffentlich blamieren wollte, als auch bei der EBU, die im Zuge einer widerwillig anberaumten Überprüfung ums Verrecken kein Eigenplagiat feststellen konnte. Lässt sich halt auch schwer heraushören, wenn zeitgleich die Geldscheine so laut in den Jackentaschen rascheln! Auf internationaler Ebene funktionierte der Plan des gewieften Eurovisionsstrategen wie am Schnürchen: beim Contest in Jerusalem tauschten Deutschland und die Türkei jeweils 12 Punkte aus, und auch aus den Niederlanden kamen die Diaspora-Douze. Selbst das vom ranschmeißerischen Titel gebauchpinselte Gastgeberland gab dem Siegel-Sextett die Höchstwertung. Mit dem Bronzeplatz verbesserte der Komponist sogar sein letztes Ergebnis aus nämlicher Stadt um eine Position. Bloß kaufen wollte den Schrott natürlich niemand. Sürpriz nahmen noch ein – lediglich in der Türkei veröffentlichtes – Album auf und lösten sich 2002 auf.
Was das kreative Recycling angeht, kann es der Münchener Altmeister locker mit seinem Komponistenkollegen Dieter Bohlen aufnehmen, der uns bei Modern Talking ebenfalls erfolgreich mindestens sechs Mal dasselbe Lied verkauft hat.
Deutsche Vorentscheidung 1999
Countdown Grand Prix. Samstag, 21. Februar 1999, aus der Stadthalle in Bremen. Elf Teilnehmer:innen. Moderation: Axel Bulthaupt und Sandra Simó. Televoting.# | Interpreten | Songtitel | Televote | Platz | Charts |
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01 | Jeanette Biedermann | Das tut unheimlich weh | 12,2% | 03 | - |
02 | Carol Bee | Loverboy | n.b. | 07 | - |
03 | Patrick Lindner | Ein bißchen Sonne, ein bißchen Regen | n.b. | 08 | - |
04 | Megasüß | Ich hab meine Tage | n.b. | 06 | - |
05 | Sürpriz | Reise nach Jerusalem | 16,2% | 01 | - |
06 | Elvin | Heaven | 06,1% | 04 | - |
07 | Corinna May | Hör den Kindern einfach zu | 32,9% | dq. | 59 |
08 | Naima | Itzy Bitzy Spider | n.b. | 10 | - |
09 | Michael von der Heide | Bye Bye Bar | n.b. | 05 | - |
10 | Wind | Lost in Love | n.b. | 09 | - |
11 | Cathrin | Together we’re strong | 15,9% | 02 | - |
*Anmerkung zur Tabelle: der NDR gab nur die ersten drei Plätze samt Prozentergebnis bekannt. Der Rest ist Hörensagen.
Letzte Aktualisierung: 09.11.2022
Oh! Mein!! Gott!!!
Küdüs E Seyahat / Reise Nach Jerusalem – Mein absoluter Hassbeitrag! EInzig und allein aus dem Grund weil das Ralph Siegels billiger Versuch war, sich bei der türkischen Gemeinde hier in Deutschland auf die schleimigste Art einzuschleimen. Wobei das zugegebenermaßen nicht dumm war: Wenn man es sich mit den Deutschen endgültig verscherzt hat, dann bleiben einem immer noch die Türken, von denen es hier nicht zu wenige gibt, wie auch Ralph Siegel erkannt hat.
Gibt es da was postives? Ja! Wenigstens konnten sich Deutsche und Türken mal gemeinsam für ein musikalisch-kulturelles Desaster made by Siegel/Meinunger schämen.
Ansonsten – Mit Corinna May wäre Deutschland zwar vielleicht nicht weiter gekommen, aber es wäre keine Blamage gewesen.
Ahhh, auch dieser Artikel wurde überarbeitet, freut mich! Vor Allem deswegen, weil nun auch Naima erwähnt wurde! Sie ist nämlich die Sängerin der Lieder in der (ersten Staffel der) zauberhaften Pettersson-und-Findus-Serie von 2000, die ich in meiner Kindheit geschaut und geliebt habe!
Wie Naimas Lied bei all dem Müll (außer Corinna Mays Lied), den der Vorentscheid sonst zu bieten hatte, letzter werden konnte, ist mir ein großes Rätsel. Ich finde Itzy Bitzy Spider cool und schön poppig!
Ihr einziges Album habe ich mir letztens aus Interesse zugelegt und finde es überraschend gut! Heute arbeitet sie als Backgroundsängerin für Schlageracts wie Helene Fischer, Ben Zucker und Vanesssa Mai. Schade, denn sie kann mehr als das!