Das Millennium begann beim deutschen Grand-Prix-Vorentscheid im Höhenrausch. Im Jahre zwei n.M. (nach dem Meister) segelte die Veranstaltung noch immer ganz oben auf der Welle der durch Guildo Horn bewirkten Pop-Revolution; zehrte der vorher lange Zeit als spießig geltende Song Contest weiterhin vom Nimbus der plötzlichen ironischen Hipness. Und so fand sich beim diesjährigen, hochgradig unterhaltsamen Countdown Grand Prix neben den üblichen chancenlosen Nullnummern eine illustre Runde bekannter B‑Listen-Stars ein, welche die heuer von Axel Bulthaupt alleine moderierte Veranstaltung zum Spitzenereignis des schlechten Geschmacks machten. Zudem sorgte die Teilnahme eines prominenten TV-Quatschmachers für massive mediale Aufmerksamkeit, hohe Einschaltquoten sowie eine Rekordzahl von Anrufen beim “T‑Vote-Call”, dem seit dem Vorjahr nun auch endlich beim internationalen Wettbewerb großflächig durchgesetzten, reinen Televoting. Hier in Bremen galt es jedoch zunächst einmal, vor einem vollkommen entfesselten Saalpublikum herrlich billigen Erotik-Trash, lustvoll zertrümmerte Klaviere, blinkende Bühnengarderobe und baumlange Transen zu bewundern. Sowie einen sehr spannenden und sehr ungleichen Zweikampf von Pathos und Spaß zu verfolgen. Es war groß!
Jeanette Meier von E‑Rotic kann kaum aus dem rechten Auge gucken. Ein Bukakke-Unfall? (Plus Playlist mit zehn der elf Vorentscheidungsbeiträge).
Eine Lehrstunde zum Thema “Essentielle Unterschiede zwischen dem Grand Prix Eurovision und den Single-Charts” (Verkaufshit des Jahres: DJ Ötzis ‘Anton aus Tirol’) lieferte uns gleich zum Auftakt die aus dem einstigen Schlagerquartett Xanadu (‘Einen Traum für diese Welt’, Vorentscheid 1989) hervorgegangene Kirmestechnokapelle E‑Rotic, welcher die platte Sexschiene (‘Help me Dr. Dick’) bereits zu beachtlichen Plattenverkäufen verholfen hatte. Dabei sang die vertraglich an den Utz-Utz-Utz-Act geknebelte Ex-Xanadesse Liane Hegemann alias Lyane Leigh noch bis anno 1999 die von David Brandes komponierten Stücke im Studio ein, obwohl sie bereits 1995, ein Jahr nach Gründung des Projektes, im Streit ausgestiegen war, da man sie in den reinen Zeichentrick-Videos der Band nie sah. Ihre Nachfolgerin, die blonde Schweizerin Jeanette Macci-Meier, musste bei Auftritten so stets nur ihren kurvenreichen Körper zum Beat sowie die Lippen synchron zum Playback mit der Stimme ihrer Vorgängerin bewegen. Beim Eurovisionsvorentscheid jedoch gilt die Pflicht zum Live-Gesang, und das machte sich hier auf fatale Weise bemerkbar. ‘Queen of Light’, so der mit Rücksicht auf das familienfreundliche Umfeld einer ARD-Primetimesendung im Verhältnis zum bisherigen Œuvre recht jugendfreie Titel, bombte dementsprechend hart. Macci-Meier stieg nur kurze Zeit später bei E‑Rotic aus und predigte fürderhin lieber die Enthaltsamkeit vor der Ehe und ähnlichen religiösen Fundiquatsch.
Daff ifft wie fliegen: Lotto & Lukaff Hilbert.
Der nächste Auftritt erstaunte: den als Gerrit Heesemann geborenen Lotto King Karl, einen von zahlreichen Talkshowgastspielen für sein erfrischend flapsiges Mundwerk bekannten Hamburger Deutschrocker, rechnete ich bis dato eher der Spaßfraktion zu (Anspieltipp: ‘Da ist die Tür’ mit Roberto Blanco). Was er hier mit dem Titel ‘Fliegen’ (nicht verwandt mit Nino de Angelos gleichnamigem ESC-Beitrag) ablieferte, entpuppte sich jedoch als recht poetisches, gefühlvolles Stück Deutschpop. Eines, das man an verträumten Sonntagvormittagen vielleicht gerne mal zum Milchkaffee hört, das aber zu unspektakulär erschien, um bei einem Wettbewerb gewinnen zu können. ‘Fliegen’ stammte aus der Feder von Carsten Pape, der die heimische Musiklandschaft 1987 mit seiner damaligen Band Clowns & Helden um die absolut herzergreifend authentische Gefühlsdeklaration ‘Ich liebe Dich’ bereichert hatte und nun als Teil seiner aktuellen Kapelle Roh mit auf der Bühne stand. Zu dieser gehörte auch der einst als “unehelicher Sohn Udo Lindenbergs” bekannt gewordene Lukas Hilbert, der im Laufe seiner Komponistenkarriere zahllose Hits für Stars wie Blümchen, Nena, Nu Pagadi, Yvonne Catterfeld, Oli P., Peter Maffay oder Thomas Anders (‘Songs that live forever’, Vorentscheid 2006) schrieb, bei seinen Solo-Versuchen jedoch meist auf Granit beißen sollte.
Orangensafthersteller Marcel hat nach eigener Aussage “nur mit einer La Bamba gemacht” und damit die deutsche Schlagertextklischeeschublade um den womöglich vitaminreichsten Euphemismus fürs Pimpern bereichert.
Marcus Wolter, später Geschäftsführer von Deutschlands größter unabhängiger TV-Produktionsfirma Banijay sowie einst Entdecker von Stefan Raab, deren legendär lustige Show Vivasion Wolter aus der Taufe hob, bevor Raab zu ProSieben wechselte und zum Thomas Gottschalk des Privatfernsehens degenerierte, war der Mastermind hinter dem schlichtweg unglaublichen Marcel (Anspieltipp: der von Colombina entdeckte, ebenso grandiose Trash-Knaller ‘Bin ich zu jung, dich zu lieben’). Daher verwette ich meinen Hintern, dass der gesamte Act – einschließlich des im braun-beigen Höllenwohnzimmer seiner Eltern aufgenommenen, absichtlich Brechreiz induzierenden Vorstellungsclips – nur eine einzige, hochgradig subversive Parodie gewesen sein kann. Solcherart subtil homoerotische Textzeilen wie “Nie war so tief jemand in bei mir / Auch wenn Du jetzt sagst: Verzeih mir / […] Wird der Schmerz jemals wieder vergehn?”, mit denen Marcel wohl über seine eigene, recht ruppig verlaufene Entjungferung reflektierte, können schließlich nur als Schlagertravestie gemeint sein. Und die war absolut großartig! Dass Stefan (ohne zu viel vorweg nehmen zu wollen) am Ende gewann, während Marcel den letzten Platz belegte, bedeutet wohl, dass die Zuschauer:innen den (besseren) Witz nicht verstanden.
Da fall ich ja vom Glauben ab: Corinna zersägt Siegels Religionsepos.
A propos Witz: der später in seiner (mittlerweile zur Ruhe gebetteten) Rolle als fiktiver afrikanischer Toilettenmann Motombo Umbokko bekannt gewordene Kölner Comedian Dave Davis legte hier als David Kisitu mit dem latent sexistisch-herablassenden ‘Du musst kein Model sein’, mit dem der selbst auf der zehnteiligen Attraktivitätsskala bestenfalls die 6 markierende Sohn ugandischer Flüchtlinge seine absolut selbstlose Bereitschaft erklärte, auch Damen zu beschlafen, die keine 9 oder 10 erreichen, einen veritablen Flop hin. Die Münchenerin Claudia Cane drehte ihr Vorstellungsvideo in einer heimischen Spelunke, und ihr anschließender Live-Auftritt in Bremen mit dem mauen ‘Sailing’-Abklatsch ‘Free’ ließ den Eindruck aufkommen, dass sie dabei deutlich zu tief ins Glas geschaut hatte. Die vom Schicksal doch bereits so hart gestrafte Corinna May lief nach dem Debakel ihrer ungerechten und unglücklichen Disqualifikation im Vorjahr zu allem Überfluss auch noch ihrem Schlächter Profiteur direkt in die Arme. Mit ihrem entsetzlichen Siegel-Ouevre läutete sie an dieser Stelle die langlebige deutsche Sakropopwelle (vgl. Xavier Naidoo, Normal Generation) ein. Dabei entsprang die hier zur Schau gestellte Frömmigkeit (‘I believe in God’) einem eigennützigen Kalkül: gäbe es einen Gott, so vermutlich die Überlegung der blinden Bremerin, so würde er die schmerzvolle Schmach vom letzten Mal durch einen Sieg bei dieser Vorentscheidung wieder ausgleichen.
Die tun nix, die wollen nur spielen: Knorkator.
Corinna machte die Rechnung ohne den Wirt: der Eurovision Song Contest ist gottlob eine gottlose Veranstaltung; das Publikum honorierte ihr anstrengendes und verkrampft vorgetragenes Glaubensbekenntnis Gott sei Dank nicht. Gerechtigkeit kann grausam sein! Empörend: wie viele unschuldige Flokatis mussten für die Bühnenkostüme der Berliner Neue-Deutsche-Härte-Band Knorkator (gewissermaßen die Teletubbies-Version von Rammstein) wohl ihr Leben lassen? Mit ihrem sozialkritischen Beitrag ‘Ik wer zun Schwein’ wollten sie auf die Gefahren der Genmanipulation von Lebensmitteln aufmerksam machen, wie uns Axel Bulthaupt hilfreich erläuterte. Hilfreich deswegen, weil man von dem Songtext aufgrund der jeglichen Schlagerhörgewohnheiten brüsk widersprechenden, brüllenden Vortragsweise kein einziges Wort verstand. Dazu wälzten sich die großflächig tätowierten Herren wie vom Beelzebub besessen über die Bühne und zertrümmerten ihre Instrumente, was insbesondere im direkten Kontrast zu der gottgefälligen Gospeltante davor wie ein erfrischender Befreiungsschlag wirkte. Und biedere ARD-Zuschauer:innen zu schocken (Bild: “Wer ließ diese Irren ins Fersehen?”), kommt natürlich immer gut. Nur der Lärm war halt unerträglich. Einer Kreissäge im Holzwerk zu lauschen machte sicher mehr Spaß.
Ein Festival schwuler Unterhaltungskunst: Fancy versetzt Berge!
A propos Sägewerk: die nachfolgende Hamburger Kneipenband Kind of Blue lässt mich auch heute noch beim Wiederholungsschauen umgehend in störungsfreien Tiefschlaf hinabgleiten, wirksamer als jedes Narkotikum! Sie verschwand ebenso umgehend wieder in der Versenkung wie die Schülerkapelle Goldrausch, die großspurig verkündete, Stefan Raab “schlagen” zu wollen. Und doch nur als egales optisches Beiwerk fungierte. Den Höhepunkt der diesjährigen Freakshow bildete eine schockierende Sozialstudie über das geheime Doppelleben des Herrn Tess (eigentlich: Manfred Segieth). Tagsüber ein gestandener Biobauer im schönen Allgäu, mutiert er abends zum europaweit gefürchteten Discofox-Travestiestar Fancy! Die im Fahrwasser der Modern-Talking-Reunion ebenfalls wieder unter ihrem Stein hervor gekrochene Achtzigerjahreplage (‘Slice me nice’, ‘L.A.D.Y.O.’) präsentierte uns den fantastischen Village-People-Gedächtnis-Knaller ‘We can move a Mountain’, flankiert von leckeren, körperfettfrei durchtrainierten Backgroundboys in glitzernden Jäckchen und mit tuffigem Kopfschmuck sowie der Transsexuellen Gloria Gray, die opernhafte Gesangseinlagen und zwei riesige Melonen beisteuerte. ‘La Cage aux Folles’ auf einer deutschen Grand-Prix-Bühne: hach, dass ich das noch erleben durfte! Bleibt nur die Frage, warum sich Fancy das Toupet für seinen Comebackversuch ausgerechnet bei Tony Marshall borgte?
Das mit dem Umhang hat Guildo aber lässiger hinbekommen: der Spaß-Bully Stefan Raab.
Letztlich handelte die Sendung aber vom ungleichen Zweikampf zwischen Stefan Raab, dem es in seinem absolut grenzenlosen Ehrgeiz nicht genügte, den Beitrag zur Rettung des Grand Prix (‘Guildo hat Euch lieb’) komponiert zu haben, sondern der mit der selbst geschriebenen Lachnummer ‘Wadde hadde dudde da’ unbedingt selbst auf die Bretter, die die Welt bedeuten, wollte, und Corinna May, die irrtümlich glaubte, die deutsche Antwort auf Whitney Houston und Lauryn Hill geben zu können. Also Comedy gegen Pathos, Spaß gegen Tradition, professionell-leichtkonsumierbares Entertainment (der gewiefte Showmensch Raab bot blinkende Kostüme, flotte Tanzeinlagen und leicht bekleidete Ischen) gegen anstrengenden, ranzig-verlogenen Gefühlskitsch. Das Ergebnis fiel eindeutig aus: mit einer absoluten Mehrheit von über 57% bewies der Metzgersgeselle einmal mehr, wer im deutschen Unterhaltungsgewerbe den Längsten hat. Nur, dass das hier nicht mehr den Charme der Revolution verströmte wie noch zwei Jahre zuvor, als der von einer echten Mission beseelte Guildo Horn die Talare der ARD lüftete, um den Schlagermuff von tausend Jahren auszutreiben. Sondern bloß ein unsympathischer Unterhaltungsstreber allen beweisen wollte, dass er’s drauf hat.
Hijackte den deutschen Vorentscheid 2000, wie es früher Ralph Siegels Art war: Stefan Raab.
Deutsche Vorentscheidung 2000
Countdown Grand Prix. Freitag, 18. Februar 2000, aus der Stadthalle in Bremen. Elf Teilnehmer:innen, Moderation: Axel Bulthaupt. Televoting.# | Interpreten | Songtitel | Televote | Platz | Charts |
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01 | E‑Rotic | Queen of Light | n.b. | 06 | - |
02 | Lotto King Karl + Barmbek Dream Boys | Fliegen | n.b. | 07 | 58 |
03 | Marcel | Adiós | 00,9% | 11 | - |
04 | Claudia Cane + Mother Bone | Free | n.b. | 10 | - |
05 | David Kisitu | Du mußt kein Model sein | n.b. | 09 | - |
06 | Corinna May | I believe in God | 14,1% | 02 | - |
07 | Knorkator | Ik wer zun Schwein | 07,1% | 04 | 76 |
08 | Kind of Blue | Bitter Blue | 07,4% | 03 | - |
09 | Stefan Raab | Wadde hadde dudde da? | 57,4% | 01 | 02 |
10 | Goldrausch | Alles wird gut | n.b. | 08 | - |
11 | Fancy | We can move a Mountain | n.b. | 05 | - |
*Hinweis zur Tabelle: die ARD gab nur die Ergebnisse der drei Bestplatzierten bekannt, der Rest ist Hörensagen.
Letzte Aktualisierung: 07.01.2023
Liebe Corinna, alles lässt ER sich dann auch nicht gefallen, ausgleichende Gerechtigkeit hin oder her! Derart schief und verkrampft besungen zu werden – autsch! 14,1 % der Abstimmenden waren offensichtlich taub oder gekauft. Im übrigen sah man bei diesem Auftritt auch schon klar und deutlich die Defizite, die dann zwei Jahre später zum Absturz in Tallinn führten. Ich würde mal sagen, da hat sich jemand drastisch überschätzt.
Marcel hat es sogar mal in die ZDF-Hitparade geschafft! https://www.youtube.com/watch?v=JaZ2NKRc_DY
@Colombina: Sorry, ich sehe dieses fantastische Geburtsgeschenk erst jetzt, anderthalb Jahre später, beim Aktualisieren der Seite. Das ist ja allerliebst! Fast noch schöner als sein Vorentscheidungsauftritt! Der Mann ist ja ein absoluter Trash-König! Vielen lieben Dank!
@aufrechtgehn: Wow, ich wurde sogar im Artikel erwähnt! Wahnsinn! 😁