Echter Fortschritt bei der deutschen Vorentscheidung: brauchte es in den Neunzigern mangels Konkurrenz noch eine Teilnahme am internationalen Eurovisionsfinale, um sich die lahmende Karriere endgültig zu Schanden zu singen (siehe die Münchener Freiheit), so konnte man das dieser Tage kostensparend bereits bei der heimischen Vorauswahl erledigen. Nach dem abrupten Karriere-Aus für den Big-Brother-Star Zlatko Trpkovski im Vorjahr tauschte diesmal die geschmacklich hochgradig kontroverse, kommerziell jedoch um so erfolgreichere Kelly Family die bis dato ausverkauften Stadthallen gegen Zirkustourneen. Und Schuld war wieder mal die Bild. Seit das Boulevardblatt 1998 mit einer gezielten Skandalkampagne (“Darf dieser Mann für Deutschland singen?”) den Meister nach vorne schrieb, herrschte dort offenbar die Auffassung, dass es der Bild-Redaktion nun zustünde, neben dem Bundeskanzler, dem Papst und dem Nationaltrainer auch die deutschen Grand-Prix-Gesandten zu bestimmen. Im Anschluss an Guildo Horn fiel jedoch die per “Schlagerwettbewerb” durch die eigenen Leser:innen ausgewählte Kandidatin des Lügenblatts, Jeanette Biedermann, beim Publikum durch.
Erneut führte Axel Bulthaupt durch einen bunten musikalischen Abend (ganze Show).
Im Vorjahr wiederum hatte die Bild der späteren Siegerin Michelle bereits im Vorfeld des Countdown Grand Prix massenhaft Platz im Blatt für rührselige Schicksalsstorys freigeräumt. Im Gegenzug nahm diese schweigend hin, dass deren Reporter Mark Pittelkau täglich aus Kopenhagen über sie berichtete und die heimischen Leser:innen dabei mit bunten Geschichten unterhielt, die nicht immer zwingend in der Realität fußten. Diesmal nun setzte der damalige Bild-Chef Kai Diekmann auf seinen persönlichen Spezi Dieter Bohlen. Der hatte, entgegen seiner beim Vorentscheid 2001 geäußerten Befürchtung, doch noch ein “tolles Mädchen” gefunden und seinem neuesten Schützling Isabel Soares, die bereits mit einem schnippischen Interview bei TV Total Aufsehen erregt hatte, eine wunderhübsche Ballade (‘Will my Heart survive’) geschrieben. Im Altbestand von Dieters ehemaliger Lebensabschnittsgefährtin Nadja Apfel Fahrrad fand sich sogar noch ein der putzigen Deutschportugiesin wie angegossen passendes, atemberaubendes rotes Abendkleid für ihren großen Auftritt, den die Bild nun als Zweikampf der Titanen zwischen Bohlen und Ralph Siegel inszenierte. Dennoch witterte man in der Hamburger Chefredaktion Gefahr. Denn eine der umstrittensten Bands Europas, von vielen abgrundtief gehasst, von ihren glühenden Fans umso bedingungsloser verehrt, ging ebenfalls ins Rennen: die Kelly Family.
Rabbit in the Headlight, wie der Brite sagen würde: Isabel Soares.
Die einstmals auf der Straße musizierende Großfamilie, die Mitte der Neunziger Millionen von Alben verkaufte, hatte zwar ihren Zenit längst überschritten, war aber noch immer für ihre fanatischen Anhänger:innen berüchtigt, denen man zutraute, so oft anzurufen, bis die Leitungen glühten und die Fingerchen bluteten. Also machte die Bild das, wofür sie berüchtigt ist: sie fuhr eine massive Kampagne gegen die Kellys. Erst hagelte es über Tage hinweg Meldungen über das angeblich arrogante Auftreten des singenden Wanderzirkus’ in Kiel, die kein:e andere:r Teilnehmer:in bestätigte. Dann legte man Joey Kelly ein Zitat in den Mund, nach dem er aufdringliche weibliche Fans als “Monster wie aus einem Horrorfilm, und das auch noch mit Übergewicht” beschimpft habe. Klug kalkuliert: da die meisten Kelly-Fans weder zu den Schlanksten noch den Schönsten im Lande gehörten, verfing die perfide Abwehrstrategie. Obwohl die Kellys mit der – angesichts der aufgeheizten Stimmung äußerst ironisch betitelten – dramatischen Spitzenballade ‘I wanna be loved’ den mit Abstand besten Titel des Abends am Start hatten und sich die absolut adorable Maite, wie immer, die Seele aus dem Leib sang, ging ihr Auftritt in einem Meer von Pfiffen unter. Auch bei der Telefonabstimmung reichte es nur für den vierten Rang. Schade, da ließen sich die Deutschen einen potentiellen Siegertitel wegnehmen.
Is she asking too much? Maite Kellys eindringliches Flehen um etwas Liebe wurde zurückgewiesen. Wenn auch nicht vom Blogbetreiber, in dem just in diesem Moment eine immerwährende platonische Zuneigung entflammte.
Gebracht hat es übrigens nichts: das bühnenunerfahrene Fohlen vom Bohlen sang vor lauter Aufregung ohrenzermürbend schief. Und zog dazu ein Gesicht, als habe Naddel das Kleid innen mit Buttersäure bestrichen. Abgeschlagen landete sie im Mittelfeld. Wenn zwei sich streiten, freut sich die Dritte: in diesem Fall Corinna May, die bei ihrem dritten Anlauf mit einem typischen Seniorendisco-Potpourri von Ralph Siegel gewann. ‘I can’t live without Music’: warum er sie dann so schänden muss, dafür blieb uns der Münchener bis heute die Erklärung schuldig. Es entbehrt nicht einer grimmigen Ironie, dass die ursprünglich aus dem Jazz kommende Bremerin sich für die ersehnte Eurovisionsteilnahme bis zur Unkenntlichkeit verbiegen lassen musste: Corinna wurde in einem herbstbraunen Lederfetzenmantel, der irgendwie an eine verunglückte Laubsägearbeit erinnerte, auf die Bühne geführt, wo sie zu den hoffnungslos campen Discobeats hilflos (und ohne jedes Taktgefühl) hin und her wankte. Um die optisch-akustische Diskrepanz noch zu verstärken, vollführten ihre Backings hinter ihr fröhlich beschwingte Tänze. Das passte zusammen wie die sprichwörtliche Faust auf die Augen. Welche die blinde Sängerin hier erstmals mit einer Sonnenbrille verdeckte, so als müsse sie uns den Anblick ihrer Behinderung ersparen.
Wie ein Fremdkörper im eigenen Auftritt: Corinna ist in diesem campen Disco-Trash nicht zuhause.
Das auf 15 Teilnehmer:innen aufgestockte Feld benötigte jede Menge Füllmaterial, daher räumte der NDR den beschickenden Plattenfirmen viel Platz für hoffnungslose Fälle ein. So hatte das Komponistenteam von ‘Wer Liebe lebt’ noch einen belanglosen Midtemposchlager namens ‘Du bist mein Weg’ in der Schublade herumliegen, für den aber weder Michelle noch ein:e andere:r bekannte:r Künstler:in das Gesicht hinhalten wollte. Daher würfelte man in höchster Not am Dienstagnachmittag vor dem Einsendeschluss aus einer Handvoll Redaktionssekretärinnen und Kabelhilfen noch schnell die Tuesdays zusammen und ließ die sechs erkennbar überforderten Gestalten in der Show ins mediale Messer laufen. Aus den laut Axel Bulthaupts mokanter Ansage “nicht gerade als musikalische Hochburgen bekannt gewordenen” Städten Paderborn und Dortmund stammte das Einweg-Damenduo Unity 2, dessen Namensgebung es bereits als zum Scheitern verurteilt kennzeichnete, und das sich nach dem Auftritt umgehend auflöste. Die in Deutschland gebürtige Kosovo-Albanerin Shemsi Kamaj versuchte ihr Glück später bei The Voice of Holland, Verena Stanley kann man laut ihrer zuletzt 2011 aktualisierten Homepage für Galas und Firmenfeiern buchen. Die weiteren Wege der Russlanddeutschen Natalie Schumakov und einer gewissen Zarah (wer?) verloren sich ebenfalls in den Nebeln von Norwegen.
Nahm hier der ARD-Schlagerbooom die Idee für die zwanghafte Refrain-Reprise her? Joy Fleming und der Gospelchor Jamabalaya.
Eine weitere wahrnehmbare Gruppe bildeten die dicken Frauen. Neben der bereits erwähnten Maite Kelly ist hier die fabelhafte Joy Fleming zu nennen, die diesmal in einem etwas dezenteren Kleid als noch im Vorjahr und unterstützt von dem fantastischen Kölner Gospelchor Jambalaya antrat. Für ihre selbstreferentielle, musikalisch jedoch leider etwas schwachbrüstige Nummer ‘Joy to the World’ reichte es immerhin für den zweiten Platz. Gleich “Two Tons of Fun” grub der Münchener Produzent Harald Reitinger in Form der legendären Weather Girls aus, die uns 1983 die discotastische, wohltuendes Wunschdenken und stimmungshebende doppelte Handklatscher vereinende Gay-Hymne ‘It’s raining Men’ schenkten, damals noch in der Ursprungsbesetzung mit der legendären Martha Wash und Izora Rhodes. Letztere verschlug es in den Neunzigern aus den USA nach Hessen, hierzulande trat sie dann gemeinsam mit ihrer Tochter unter dem alten Gruppennamen auf. Mit der Neuauflage ihres Klimawandelklassikers, aber auch dem von Izora mitgeschriebenen ‘We shall all be free’ hatten sie 1994 bei uns kleinere Hits. Das hier nun präsentierte, leider lendenlahme ‘Get up’ bombte hingegen zu Recht. Mutter Rhodes, die man bereits im Präsentationsvideo am Stock laufend sah, erlag zwei Jahre später einem Herzleiden, ihre Tochter Dynelle führte das Duo mit ihrer Cousine fort.
Bonbonbunt: das Hanauer Mutter-und-Tochter-Duo The Weather Girls (plus Playlist mit allen verfügbaren Liveauftritten).
Nicht fehlen durften zudem die Spaßacts. Großartig natürlich das Frankfurter Comedyduo Mundstuhl, deren Ode an das ‘Fleisch’ (“Ich kratz vom Schnitzel die Panade / dafür bin ich mir zu schade”) selbst ich als eingefleischter überzeugter Vegetarier unglaublich lustig fand. Wie auch ihren hervorragend choreografierten Auftritt in Gummistiefeln und Metzgerschürzen – und, wie sich beim Bühnenabgang herausstellte, ohne was drunter (Axel Bulthaupt: “Hoffentlich haben sich die Jungs nichts verkühlt!”). Wie ich Axel einschätze, hat er sich selbst in der Garderobe der “Jungs” davon überzeugt. Und Ande Werners verkühlte Teile würde ich noch heute jederzeit persönlich liebevoll wieder anwärmen! Comedybegabung zeigte Bulthaupt auch, als er bei der Anmoderation der Cottbusser Punkformation SPN‑X, der nach Eigenwerbung “schnellsten Band der Welt”, die “Ich will in die Bravo” forderten, einen alten Bravo-Starschnitt von Nino de Angelo entrollte, der garantiert früher in Klein-Axels Jugendzimmer hing! Der deutsche Eros Ramazotti versuchte sich nämlich höchstselbst an einem Comeback, konnte mit dem Kinderverherrlichungsschlager ‘Und wenn Du lachst’ aber nicht punkten. Zwar strahlte Nino trotz frisch überstandener Salmonellenvergiftung siegeswillig in die Kamera, dafür nervte der penetrante Einsatz seiner Gören (“Gib Gas, Papa!”) im Einspieler und im Publikum um so mehr.
Zwei lustige Metzgersgesellen, die nicht nur dem fleischlichen Genuss zuneigen, sonder dazu auch gerne mal vom Wurstwasser trinken: Mundstuhl.
Extrem erheiternd hingegen die für das zynische Auge wie eine Eigenparodie erscheinende, in Wahrheit aber völlig ernst gemeinte (und damit natürlich umso lustigere) Junge-Christen-Kapelle Normal Generation?. Optisch in keinem Kelly-Family-Fanclub deplatziert, führten die vier vom kirchlichen Sendungsauftrag beseelten Stuttgarter:innen zu ihrem poppigen, wenn auch erbarmungswürdig schief gesungenen Preiset-den-Herrn-Schlager ‘Hold on’ eine vermutlich hipp gemeinte, tatsächlich jedoch schreiend peinliche Synchrontanzchoreografie mit zahlreichen Pirouetten auf. Diese lachkrampfauslösende Spitzendarbietung der unfreiwilligen Komik ermutigte wohl zahlreiche Trashfreunde, für sie anzurufen: der musikalische Bibelkreis landete überraschend auf dem dritten Platz. Und damit deutlich vor den selbsternannten letzten Aufrechten des deutschen Schlagerunwesens, Bernhard “Pudelfrisur” Brink und Ireen “Kopfweh” Sheer. Ihr bedeutungsschwerer, hochpolitischer 9/11-Schlager ‘Es ist niemals zu spät’ setzte den New Yorker Terroranschlägen, die kein halbes Jahr zuvor die westliche Welt in ihren Grundfesten erschüttert hatten, ein mutiges “Steh auf und sag nein” entgegen. Das tat das Publikum auch: es sagte zu Recht “nein” zu solcherart berechnender, sich anbiedernder Schlagerware.
Himmel hilf: die Normal Generation.
Ganz weit hinten landete Linda Carriere. Sie kam als Abgesandte des Frankfurter 3p-Stalls um den Labelchef Moses Pelham, der die beim Countdown Grand Prix 2001 durch Dieter Bohlen ausgesprochene Herausforderung angenommen hatte. Das von der bei ihm unter Vertrag stehenden gebürtigen Britin mit verfasste ‘Higher Ground’ erwies sich jedoch für den Wettbewerb als zu hochklassig und vor allem zu ruhig: in den sehr sanften Song verliebt man sich leider erst nach dem zwanzigsten Hören, dann allerdings umso nachhaltiger. Ein bisschen überschattet wurde ihr Auftritt von zwei Herren: dem heute unter seinem bürgerlichen Namen Costa Meronianakis als Comedian bekannten Rapper Illmatic sowie dem 3p-Produzenten Thomas Hofmann, der während der Anmoderation des Titels dem sichtlich amüsierten Axel Bulthaupt ständig von der Seite ins Mikro krähte. So sind sie, die harten Jungs aus Rödelheim! Lustigerweise gelang der vom Bild-verhetzten Publikum geschmähten Kelly Family von allen Kombattant:innen die höchste Chartplatzierung (# 31), noch ein paar Positionen vor Isabel Soares – und ganz weit vor der blinden Tante vom Siegel. Dennoch setzte sich Corinna May beim Televoting im dritten Anlauf dank der Heckenschützen aus dem Hause Springer durch. Und an dieser Stelle fand die 1998 eingeleitete deutsche Grand-Prix-Aufbruchphase ihr unrühmliches Ende; der für wenige Jahre auch bei jüngeren Menschen kredible Event verkam erneut zum peinlichen Kuriositätenkabinett. Danke, Bild!
In Lindas Backgroundchor: Cassandra Steen, Deutschlands schönste Soulstimme, und der damals wie heute endsexy aussehende Illmatic.
Deutsche Vorentscheidung 2002
Countdown Grand Prix. Freitag, 22. Februar 2002, aus der Ostseehalle in Kiel. 15 Teilnehmer:innen, Moderation: Axel Bulthaupt. Televoting mit Superfinale.# | Interpreten | Songtitel | Televote | Super | Platz | Charts |
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01 | Disco Brothers + Weather Girls | Get up | n.b. | - | 13 | - |
02 | Normal Generation? | Hold on | 12,0% | 26,4% | 03 | 47 |
03 | Nino de Angelo | Wenn Du lachst | n.b. | - | 09 | 100 |
04 | Unity 2 | You never walk alone | n.b. | - | 15 | - |
05 | Mundstuhl | Fleisch | n.b. | - | 11 | - |
06 | Isabel Soares | Will my Heart survive | n.b. | - | 06 | 36 |
07 | Linda Carriere | Higher Ground | n.b. | - | 12 | - |
08 | SPN‑X | Bravo Punk | n.b. | - | 08 | - |
09 | Zarah | To be or not to be | n.b. | - | 14 | - |
10 | Ireen Sheer + Bernhard Brink | Es ist niemals zu spät | n.b. | - | 07 | - |
11 | Kelly Family | I wanna be loved | n.b. | - | 04 | 31 |
12 | Tuesdays | Du bist mein Weg | n.b. | - | 10 | - |
13 | Corinna May | I can’t live without Music | 19,5% | 41,1% | 01 | 72 |
14 | Natalie Schumakov | Don’t say goodbye | n.b. | - | 05 | 74 |
15 | Joy Fleming + Jambalaya | Joy to the World | 14,0% | 32,5% | 02 | - |
*Anmerkung zur Tabelle: der NDR gab nur die Ergebnisse der ersten drei Plätze bekannt, der Rest ist Hörensagen.
Letzte Aktualisierung: 10.11.2022
Ich habe nicht mal versucht, dort anzurufen (war eh immer besetzt), da ich wegen der Fans von einem sicheren Sieg der Kellys ausging. Stattdessen kam die Frau, die immer den Mikrofonständer umstieß, so kann man sich irren. Als Nicht-Bild-Leser habe ich von der Schmutzkampagne im Vorfeld nichts mitbekommen.
Ich hab’s damals durchaus versucht – mehrere Male – immer besetzt. Dann ein Testanruf für Corinna May – kam durch. Dann wieder für die Kellys versucht – besetzt, besetzt, besetzt. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!
Also die Kellys – ganz besonders Maite – auszubuhen, finde ich schon gemein. Aber wenn man die Bild-Zeitung gegen sich hat, kann man halt nichts mehr machen.
Isabel ist neben Juhrub, der später in Tallinn von einer Verkaufsveranstaltung getürmt ist, ein weiteres Beispiel dafür, dass manche Sänger/innen aus dem Süden es doch besser unterlassen sollten, auf Englisch zu singen. Wo sie doch schon so wundervolle Sprachen wie Portugiesisch, Spanisch und Italienisch haben. Auch wenn man sie dann doch besser versteht als die Osteuropäer.
Und bei dem Lied denkt man sofort an DSDS. Es lässt sich also manchmal erahnen, wer da die Finger im Spiel hatte.
Dieter Bohlen war zu dem Zeitpunkt übrigens mit Estefania Küster zusammen. Ich hätte mir damals Isabel als unsere ESC-Vertretung gewünscht