song.null.zwo 2002: Kannt bei mir dahoam sei

Unnö­tig kom­pli­zier­te und ver­wir­ren­de Abstim­mungs­pro­zes­se orga­ni­sie­ren: das kann der ORF! Nach­dem der letz­te öster­rei­chi­sche Euro­vi­si­ons-Vor­ent­scheid geschla­ge­ne sie­ben Jah­re zurück lag und die vom Sen­der seit­her vor­ge­nom­me­nen inter­nen Nomi­nie­run­gen dem Land gleich zwei unfrei­wil­li­ge Aus­zei­ten wegen zu schlech­ter Ergeb­nis­se beim Haupt­wett­be­werb bescher­ten, woll­te man heu­er die Ver­ant­wor­tung wie­der allei­nig in die Schu­he der Zuschauer:innen schie­ben. Doch dann mel­de­te sich das sehr popu­lä­re Sati­ri­ker­duo Ster­mann & Gris­se­mann an, das sich durch die lang­le­bi­ge Kult-Radio-Show Salon Hel­ga eine gro­ße, ein­ge­schwo­re­ne Fan­ge­mein­de erar­bei­tet hat­te. Eben­so wie mit der spitz­zün­gi­gen Live-Kom­men­tie­rung des Euro­vi­si­on Song Con­test auf FM4, die selbst das Fern­se­hen im Zwei­ka­nal­ton­ver­fah­ren über­nahm. Mit ihrem als Sprech­ge­sang insze­nier­ten, absicht­lich dilet­tan­ti­schen ‘Das schöns­te Ding der Welt’ troll­ten die Aus­tria-Ter­ry-Wogans den Con­test hart. Den­noch (oder des­we­gen) stand auf­grund ihrer gro­ßen Bekannt­heit ihr Sieg zu befürch­ten. Und so teil­te der ORF die rei­ne Zuschauer:innenabstimmung vor­sorg­lich in drei gleich­wer­ti­ge Blö­cke auf: neben dem klas­si­schen Tele­fon- und SMS-Voting instal­lier­te man in Zusam­men­ar­beit mit der Radio­wel­le Ö3 eine aus 2.002 Fan-Expert:innen bestehen­de Inter­net­ju­ry, für die man sich durch brei­tes Grand-Prix-Nerd­wis­sen über ein Aus­wahl­quiz qua­li­fi­zie­ren musste.

Da hat­te sich der ORF tat­säch­lich zwei “Pro­blem­bä­ren” ein­ge­fan­gen: die deut­schen 3sat-Seher:innen durch die Late-Night-Show ‘Will­kom­men in Öster­reich’ bekann­ten Ster­mann & Grissemann.

Der vom Sen­der erhoff­te Effekt trat ein: durch die­ses Aus­wahl­kri­te­ri­um gesteu­ert, ver­sam­mel­ten sich in der Fan-Jury haupt­säch­lich bein­har­te Grand-Prix-Ultras, die für den Spott über ihre Lieb­lings­ver­an­stal­tung kei­ner­lei Ver­ständ­nis auf­brach­ten. Wie übri­gens auch das Wie­ner Stu­dio­pu­bli­kum, das den Auf­tritt der Bei­den mit Buh­ru­fen bedach­te. Zur Sicher­heit erhiel­ten in der End­ab­rech­nung nur die jeweils fünft best­plat­zier­ten Titel in jeder Abstim­mungs­art Punk­te, der Rest ging leer aus. Und so konn­ten die bei­den Frev­ler zwar im Tele- und SMS-Voting abräu­men (wo sie ver­mut­lich mit rie­si­gem Vor­sprung führ­ten, genau Zah­len gab der ORF jedoch nicht bekannt), fie­len in der Fan­ab­stim­mung aber durch. Die­se auf­wän­di­ge Reche­narith­me­tik kos­te­te sie am Ende den alles ent­schei­den­den Punkt. Den schanz­ten die Euro­vi­sio­nis­tas statt­des­sen dem Lin­zer Manu­el Orte­ga zu, der bereits seit sei­nem sechs­ten Lebens­jahr in Kna­ben­chö­ren und spä­ter den ver­schie­dens­ten Musik­pro­jek­ten sang. So gewann er 1997 das Cas­ting der Kro­nen-Zei­tung für die Boy­band Whatz up, die sich aller­dings nur ein Jahr spä­ter nach drei geflopp­ten Sin­gles wie­der auf­lös­te. Nun­mehr solo trat der mit einem gro­ßen… Selbst­ver­trau­en aus­ge­stat­te­te, gut­aus­se­hen­de und zei­ge­freu­di­ge Halb­s­pa­nier hier mit dem super­ein­gän­gi­gen Pop­song ‘Say a Word’ an und gewann.

Sing three Words and then repeat: Manu­els Text zeich­net sich unbe­dingt durch Abwechs­lungs­reich­tum aus.

Ver­glei­chen Sie selbst: hier das Ori­gi­nal von Free aus dem Jahr 1971 (Reper­toire­bei­spiel).

Ein­gän­gig vor allem des­we­gen, weil der Refrain den Zuhö­ren­den nicht nur immer und immer wie­der die sel­ben sie­ben Wor­te (“Say a Word and I’ll be the­re”) in End­los­schlei­fen ins Hirn häm­mer­te, son­dern er die dazu­ge­hö­ri­ge Melo­die bau­gleich aus dem Sieb­zi­ger­jah­re-Rock­hit ‘All right now’ von Free bezog. Trotz eines ent­täu­schen­den 18. Plat­zes beim Haupt­wett­be­werb im est­ni­schen Tal­linn zeig­ten sich Manu­els Lands­leu­te nach­sich­tig: Rang 11 in den hei­mi­schen Sin­gle-Charts, und erfolg­reich im Geschäft hal­ten konn­te sich der Sän­ger noch bis zum Ende des Jahr­zehnts. Auf­grund des absur­den Wer­tungs­sys­tems beim song.null.zwei mit unver­schäm­ten null Punk­ten zufrie­den geben muss­te sich hin­ge­gen der tür­kisch­stäm­mi­ge Künst­ler Kubi­lay Baş, zu des­sen wei­te­rem Reper­toire sol­che Titel wie das instru­men­ta­le Tech­no­stück ‘Fuck me’ oder der Deutschrap ‘König der Kana­ken’ zäh­len. Hier gab er mit dem kom­plett in der Spra­che sei­ner Ahnen vor­ge­tra­ge­nen Ori­ent-Dance­pop-Heu­ler ‘Güle Güle’ aller­dings den Hofer-Tar­kan. Und ich hof­fe ein­fach, dass sein Vor­ent­schei­dungs­auf­tritt bei dem bzw. der einen oder ande­ren FPÖ-Wäh­len­den einen wut­an­falls­be­ding­ten Blut­sturz aus­lö­sen konn­te. Dafür hät­te es sich schon gelohnt, anders als bei den haupt­säch­lich von den hei­mi­schen Plat­ten­la­bels ein­ge­reich­ten Rohrkrepierern.

Zehn mehr oder min­der bekann­te Künstler:innen, zehn vor­wie­gend maue Songs, sinn­freie Kurz­in­ter­views mit ehe­ma­li­gen ESC-Teilnehmer:innen in der Wer­tungs­pau­se, eine kom­pli­zier­te Abstim­mung und die scham­lo­se Lüge, in die­ser Show wür­de der “Pop­song des Jah­res” ermit­telt: der angeb­lich rund­erneu­er­te Vor­ent­scheid 2002 lief ab wie eigent­lich immer.

Nicht nur Manu­el Orte­ga ver­füg­te über Cas­ting-Erfah­rung: die Vor­arl­ber­ge­rin Ingrid Hofer, zuvor Sän­ge­rin einer Punk-Rock-Band, kam 1998 durch ein sol­ches zur Retor­ten-Girl­group i:levenless7 (wie hart hat die Krea­tiv­ab­tei­lung bei der Namens­fin­dung bit­te gekokst?), die hier mit ‘SMS4Love’ (schon mal was von Tin­der gehört, die Damen?) und einer recht schlud­rig getanz­ten Syn­chron­cho­reo­gra­fie für Fremd­scham­mo­men­te sorg­te. Heu­te bringt Frau Hofer im Eigen­ver­lag Kin­der­lie­der her­aus. Sol­che hat auch das nach einem wil­den Fabel­we­sen benann­te Tiro­ler Folk­duo Bluat­schink im Pro­gramm. Des­sen wie alle sei­ne Titel in Mund­art prä­sen­tier­te Gitar­ren­bal­la­de ‘Blu­a­ma in da Scher­ba’ (‘Blu­men in den Scher­ben’) wand­te sich aller­dings an eine erwach­se­ne Ziel­grup­pe, ver­ar­bei­te­te es in sei­nem unter die Haut gehen­den Text doch den uner­mess­li­chen “Schmerz und Ter­ror” der Jugo­sla­wi­en­krie­ge. Anstoß hier­zu lie­fer­te eine per­sön­li­che Begeg­nung mit zwei bos­ni­schen Kriegs­flücht­lin­gen bei einem Bene­fiz­kon­zert. 40.000 € konn­ten die Schin­ken mit einer Spen­den­ak­ti­on ein­sam­meln, die Tan­tie­men der Sin­gle leg­ten sie oben­drauf und ermög­lich­ten so etli­chen heim­keh­ren­den Fami­li­en den Neu­start. Wirk­lich, wirk­lich scha­de, dass es die­se nun defi­ni­tiv vom euro­päi­schen Gedan­ken der Völ­ker­so­li­da­ri­tät beseel­te Num­mer nicht bis auf die gro­ße Büh­ne nach Tal­linn geschafft hat. Was für eine ver­pass­te Gelegenheit!

Zuge­ge­ben: ohne hoch­deut­sche Über­set­zung ver­ste­he ich kein Wort, und musi­ka­lisch ist es auch nicht mei­ne Tas­se Tee. Kennt man aber die Geschich­te hin­ter dem Song, dann bricht er einem das Herz.

Vor­ent­scheid AT 2002

Song.Null.Zwei. Frei­tag, 1. März 2002, aus den ORF-Stu­di­os in Wien. Zehn Teilnehmer:innen. Mode­ra­ti­on: Andi Knoll. Tele­vo­ting (33%), SMS-Voting (33%), Inter­net-Fan­ju­ry (33%).
#Inter­pre­tenSong­ti­telTele­vo­teJuryPlatz
01The She­perdsOne Day in June000008
02Ster­mann & GrissemannDas schöns­te Ding der Welt090002
03ElaLove can chan­ge your Heart000306
04Hart­mannSupa­du­pa000008
05i:levenless7SMS4Love010007
06Bluat­schinkBlu­a­ma in da Scherba040403
07Manu­el OrtegaSay a Word090101
08Loud9Won’t for­get tonight060204
09Kubi­lay BaşGüle güle000008
10Anik Kadin­skiBe some­bo­dy, be someone010505

Zuletzt aktua­li­siert: 13.10.2021

< Ein Lied für Dub­lin 1994

song.null.drei 2003 >

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert