Ein erwartungsfroher Schauer durchläuft jedes Jahr gegen Ende Dezember Grand-Prix-Fans in ganz Europa, wenn sich im Kongresspalast der albanischen Hauptstadt Tirana die Türen zum dreitägigen Festivali i Këngës, dem Festival des Liedes, öffnen und uns der Balkanstaat zum FiKmas mit der ersten öffentlichen nationalen Vorentscheidung der Saison ein reiches Präsent unter den Weihnachtsbaum legt. Dissonant kreischende Frauen in eleganten Abendkleidern, Landessprachenzwang, alternde Rocksänger mit schütterem Haupthaar und drögen Songs mit überlangen, nervtötenden Gitarrensoli, ein festliches Live-Orchester mit opulentem Chor sowie vollkommen intransparente, meist hanebüchene und oftmals von Korruptionsvorwürfen begleitete Juryentscheidungen gehören zur unverzichtbaren Folklore dieses Wettbewerbs, dessen traditionsreiche Geschichte 1962 begann, gerade mal anderthalb Jahre nach der Gründung des albanischen Staatsfernsehens RTSH und sehr stark beeinflusst vom italienischen Vorbild, dem San-Remo-Festival. Wie bei den einstmaligen Besatzern von der gegenüberliegenden Adriaküste wurden in den Anfangsjahren alle Wettbewerbsbeiträge von mehreren Interpret:innen in mindestens zwei unterschiedlichen Fassungen präsentiert, wobei zunächst ausgebildete Opernsänger:innen das Feld dominierten.
Der Siegersong des allerersten Festivali, das passend betitelte ‘Fëmija i parë’ (‘Erstgeborenes’), in einer späteren Coverversion.
Die im Jahre 2014 verstorbene, mit gleich drei Staatsorden ausgezeichnete Verdiente Künstlerin des Volkes, Vaçe Zela, musikalisch eher der Kategorie “Liedermacherin” zuzuordnen, legte bei der FiK-Première mit ihrem ersten von insgesamt rekordhaften elf (!) Siegen den Grundstein für ihren Status als eine der einflussreichsten und beliebtesten Sängerinnen des Landes. Beim FiK 55 (2016) ehrte sie der Sender mit einem umjubelten, posthumen Auftritt via Hologramm. Während der sozialistischen Phase des Balkanstaates stand das Festival unter strenger Zensur und Aufsicht durch den diktatorisch regierenden Staatschef Enver Hoxha. So ließ dieser bereits nach der zweiten FiK-Ausgabe den Teilnehmer Besnik Taraveshi verhaften. Sein Vergehen: er hatte beim Vortrag seines Beitrags ‘Djaloshi dhe Shiu’ (‘Der Junge und der Regen’) ein (!) Wort falsch betont. Besonders hart griff der Diktator 1972 durch: nachdem die Festivalmacher:innen den Event vorsichtig für etwas zeitgemäßere Musik und Darbietungen öffneten, erklärte der erboste Hoxha sie zu “Volksfeinden” und ließ unter anderem den Senderchef, den FiK-Organisator sowie den Sänger Sherif Merdani (†2021) festnehmen und zu sechzehnjährigen (!) Haftstrafen verurteilen. Die Vorwürfe: Gefährdung der Moral und Konspiration gegen den Staat. Andere Teilnehmende belegte man mit lebenslangen Auftrittsverboten.
Synthesizer, wilde Tempiwechsel und sozialismuszersetzende “Yeah Yeah”-Gesänge: Sherifs “Driba-Straße” führte direkt in den kulturellen Höllenschlund. Nach seiner späteren Rehabilitation fungierte Sherif zeitweise als albanischer Konsul in Rom.
Weitere direkte Interventionen folgten in den Achtzigern: gerüchtehalber hatte sich die Jury beim FiK 19 (1980) ursprünglich für die Sängerin und vormalige zweifache Siegerin Alida Hisku und ihr Lied ‘Njerëzit e Agimeve’ (‘Leute von Morgen’) entschieden. Dieses thematisierte so blumenreich und subtil wie möglich die Hoffnung einer jungen Generation auf ein gesellschaftliches “Erwachen”: der in betonharter stalinistischer Lehre erstarrte Hoxha roch natürlich den Braten und ließ den Siegespokal stattdessen der aufrührerischer Agitation unverdächtigen Vaçe Zela zuschanzen. Hiskus Karriere endete zwei Jahre später, als sie in ihrem privaten Tagebuch (!) Kritik an den harten Lebens- und Arbeitsbedingungen im Lande niederschrieb: ihr eigener Ehemann (!) spielte der Geheimpolizei das Dokument zu, es schlossen sich Verhöre durch die Staatssicherheit, ein Auftrittsverbot und die Scheidung an. 1990 beantragte Hisku politisches Asyl in Deutschland, wo sie bald wegen der unmenschlichen Bedingungen im hiesigen Auffanglager demonstrierte. 2009 veröffentlichte sie ihre fesselnde Autobiografie Die Hofnärrin des Diktators – Von der Propaganda missbraucht, vom Publikum geliebt, von den Mächtigen verboten. Doch selbst nach Hoxhas Tod im Jahre 1985 gingen die Einmischungen weiter.
Lieder vom Aufbruch gefallen gerontischen Staatsführern natürlich nicht: Alida Hisku (hier bei einem späteren Auftritt) durfte 1980 nicht siegen.
Dessen Witwe Nexhijme ließ gerüchtehalber beim FiK 26 (1987) der Jury ausrichten, dass ihr das von ebendieser als Siegersong ausgewählte ‘Lot me ty o djalë’ (‘Wir weinen mit dir, Junge’) von Kozma Dushi persönlich nicht gefalle. Prompt gewann stattdessen der Discoschlager ‘Nuk e harroj’ (‘Ich werde es nicht vergessen’) der Libohova-Schwestern. Belarussische Zustände! Für Aufsehen sorgten nämliche Irma und Eranda Libohova auch im Jahre 1999, lange nach dem politischen Zusammenbruch der letzten stalinistischen Enklave der Erde, als sie mit dem Titel ‘Apokalipsi’ zu den Triumphatorinnen des FiK 38 ausgerufen wurden, jedoch nicht zur Siegerreprise erschienen, da sie ihren Song selbst nicht als würdiges Gewinnermaterial erachteten. Sie sollten mit ihrer Einschätzung Recht behalten: wie sich erst am nächsten Tag bei der Kontrolle des Jury-Resultates herausstellte, hatte irgendjemand die Punkte falsch zusammengerechnet. So korrigierte man nachträglich das Ergebnis und deklarierte mit Aurela Gaçe (‘Sjam Tribu’) das erste uns auch in Eurovisionszusammenhängen bekannte skipetarische Goldkehlchen zur rechtmäßigen Ersten. Und damit nähern wir uns endlich der Phase der Nutzung des Festivali als nationale Vorentscheidung!
https://youtu.be/q_roCm6w-rI
Klingt bereits sehr grandprixesk: ‘Nuk e harroj’, FiK-Siegersong von Hoxhas Gnaden im Jahre 1985.
Eigentlich hatte der Sender RTSH bereits für den Jahrgang 2003 Interesse an einer Eurovisionsteilnahme bekundet. Damals war das lediglich aus dem Finale bestehende Contest jedoch so hoffnungslos überlaufen, dass selbst langjährige Teilnehmerländer aussetzen mussten. Für den Wettbewerb 2004 in Istanbul führte die EBU jedoch erstmalig ein Semifinale (mit seinerzeit 22 Startplätzen) ein, uns so gab es diesmal grünes Licht aus Genf. Die Entscheidung, das 42. FiK (bis heute ist die fortlaufende Nummerierung integraler Bestandteil des jeweiligen Festivallogos) als nationale Vorentscheidung zu nutzen, erwies sich für RTSH als goldener Griff. Nach dem Ende des Sozialismus und der Entstehung von Privatsendern, die jeweils eigene, beim Publikum sehr viel beliebtere Musikfestivals auf die Beine stellten, umflorte die einstmals konkurrenzlose Veranstaltung mittlerweile ein leicht muffiger, altmodischer Geruch. Und obschon der skipetarische Sender am althergebrachten Konzept mit Live-Orchester und Jury festhielt (was bereits bei der Première für Korruptionsvorwürfe sorgte), verlieh das Eurovisionssiegel der angestaubten Show wieder Relevanz und ließ die zwischenzeitlich stark abgesackten Einschaltquoten nach oben schnellen. Per Livestreaming im Internet – mittlerweile Standard, damals noch ein Novum – lockte die Show zudem Grand-Prix-Fans aus ganz Europa an, die hier einen ersten Vorabeindruck des neuen Kindes auf ihrem Spielplatz zu erhaschen suchten.
Die Playlist mit den aktuell auffindbaren Songs (größtenteils Audio) des ersten albanischen Eurovisionsvorentscheids.
Doch auch, wenn diese sich an die neuen Töne aus Tirana erst mal gewöhnen mussten: die seit den 1990ern aufgrund der disparaten ökonomischen Lage in der Heimat mit extremer Massenarbeitslosigkeit und weit verbreiteter Korruption erfolgte Auswanderung von schätzungsweise einem Drittel der Bevölkerung ins europäische Ausland sollte beim damals noch reinen Televoting meist das Weiterkommen des albanischen Beitrags ins Eurovisionsfinale sichern. Richtig: das gefürchtete Diasporavoting, eines der offiziellen Argumente für die Wiedereinführung der Jurys im Jahre 2009. Wobei man die Geschmacksbevormunder hierfür nicht bräuchte: streicht beim Televoting einfach die Option des Mehrfachanrufens für ein Land, und schon wäre das Problem gelöst! Doch zurück zum FiK 42: insgesamt 29 Acts traten an in den beiden Vorrunden am 18. und 19. Dezember 2003. Für elf von ihnen endete die Reise auch gleich wieder, darunter für die nur einmalig in Erscheinung getretene Anila Jonuzi, die beim Vorsingen ihrer drögen Ballade ‘E kam një sekret’ (‘Ich habe ein Geheimnis’) derartig bedröppelt und geistesabwesend dreinblickte, als habe ihr jemand nur Minuten zuvor die Nachricht vom Tod eines Familienangehörigen überbracht. Google zufolge spielte Anila 2010 in einer französischen Miniserie mit und betreibt heute in Paris einen Friseursalon.
So extrem leise ausgesteuert wie der Youtube-Clip müssen auch Anilas In-Ears gewesen sein: das ständige verzweifelte Dranklopfen blieb alles, was sie uns an Performance gab.
Auch wenn sich leider nur der geringste Teil der FiK-Finalauftritte im Netz aufspüren lassen, so finden sich doch ein paar Highlights darunter. Würde sich der unbedarfte Musikkenner unter dem Duo Rudi & Ingrid wohl ein älteres deutsches Schlagerpärchen vorstellen, so entboten die beiden mit dem Familiennamen Jushi nichts dergleichen, sondern einen leicht herben Ethnoriemen mit sehr ausführlichen, vom Strizzibärtchenträger Rudi ausgesprochen sauber dahingerappten Sprechgesangseinlagen. Schlagerhaftes bot stattdessen der Anfang der Siebziger in seiner Heimat kurzzeitig erfolgreiche Singer-Songwriter Françesk Radi feil: sein ‘Syri i saj po me verbon’ (‘Ihr Auge blendet mich’) verknüpfte eine irritierende Instrumentierung mit einer süffigen Melodie, einem interessant kontrastierenden Chorgesang und einem völlig aus der Zeit gefallenen Bontempi-Drumcomputerbett. Optisch ließe sich der in eine lachsrosa, ungefähr fünfzehn Nummern zu große Kunstlederjacke eingewickelte Radi (†2017) wohl am Besten als Bata Illic auf LSD beschreiben, nur ohne dessen gutes Aussehen, natürlichem Charme und Rhythmusgefühl. Einem verdächtig jubilanten Wikipedia-Eintrag zufolge zählte er 1972 mit einem Lied über den Vietnamkrieg ebenfalls zu den Teilnehmern des weiter oben thematisierten FiK 11 und Opfern von Hoxhas Zorn: das Hauptstadtkind wurde zur Umerziehung in den bäuerlichen Norden des Landes geschickt.
Sah in den Siebzigern schon unvorteilhaft aus, trat aber damals rudelweise auf: die halskrausenlange Nicht-kurz-nicht-lang-Haarfrisur mit Außenwelle über den Ohren.
Wie diese beiden abschnitten, wissen wir nicht: trotz eines 50/50-Mixes aus Televoting und Jury bei der Ergebnisermittlung hielt RTSH die Punkteverteilung unter Verschluss und gab nur die drei ersten Plätze bekannt. Die durch ihre Teilnahme an der Premierenstaffel von Albanien sucht den Superstar nur kurze Zeit zuvor zu Ruhm gelangte, blutjunge Rosela Gjylbegu musste sich, wie im Finale nämlicher Castingshow, auch hier mit dem Bronzeplatz zufriedengeben. Eine Schande, denn zwar verdiente ihr sauber und harmonisch gesungenes, melodisch gefälliges ‘Hirushja’ (‘Aschenputtel’) keinen Innovationspreis, stellte jedoch fraglos das mit Abstand beste musikalische Angebot des Finalabends dar. Nach Istanbul durfte sie dennoch: als Chorsängerin für die Siegerin sowohl des ebenfalls auf RTSH ausgestrahlten Pop-Idol-Ablegers als auch dieses Vorentscheids, Anjeza Shahini. Die präsentierte mit ‘Imazhi yt’ (‘Dein Bild’) ein sehr belangloses und nach dreißig Sekunden auserzähltes Null-Acht-Fünfzehn-Poprockliedchen von der Stange. Für den ESC kürzte man es von den in der albanischen Fassung über vier auf Grand-Prix-konforme drei Minuten und versah es mit einem englischen Text: ein Verfahren, das sich seither als Standard etablierte und internationale Fans regelmäßig verzweifeln lässt. Denn auch, wenn dieser vermutlich bereits fertig in der Schublade lag, da der Song erkennbar für den (daran allerdings komplett desinteressierten) internationalen Markt geschrieben war: durch die linguistische Transformation verlor ‘The Image of you’ endgültig jedweden Reiz.
Wie so viele albanische ESC-Repräsentantinnen setzte auch Anjeza weniger auf gesangliche Finesse, sondern vor allem auf Lautstärke: hier die Siegerreprise.
Anjezas Durchmarsch beim FiK rief jedoch auch harschen Protest hervor: als offensives Zeichen ihrer Missbilligung verließ die Zweitplatzierte Maria Ikonomi, selbst von dem verzehrenden Wunsch beseelt, ihr Land auf internationaler Bühne zu vertreten, bei der Verkündung der Ergebnisse wutentbrannt den Saal. Nun kann man sie deswegen, dem ersten Impuls folgend, als schlechte Verliererin brandmarken, zumal ihre gleichzeitig hochdramatische wie etwas zähe Ballade ‘Mbi urë’ (‘Über die Brücke’) vielleicht doch ein bisschen zu angestrengt wirkte, um sich der Goldmedaille würdig zu zeigen. Und natürlich liegt es nahe, dass insbesondere das Teil-Televoting entscheidend zum Erfolg der Castingshow-Elevinnen beitrug, zumal auch in den Folgejahren meist die jeweiligen Superstar-Sieger:innen zum ESC durchgereicht wurden. Andererseits kann man die vollkommen unnötige Geheimniskrämerei des Senders im Umgang mit der Abstimmung nicht gerade als vertrauensbildende Maßnahme bezeichnen, insbesondere im Hinblick auf die skandalreiche Vorgeschichte des Festivali. Das knüpfte so auch in seiner neuen Funktion an den altgewohnten Traditionen an, welche es bis heute größtenteils beibehielt. Inklusive der beinahe jährlichen Skandale und Betrugsbezichtigungen. Von den horrenden Fehlentscheidungen der größtenteils grotesk gerontischen Jurys erst gar nicht zu reden…
Um die Ökonomie steht es in Albanien seit jeher eher schlecht bestellt. Da bildete auch 2004 keine Ausnahme.
Vorentscheid AL 2004
Festivali i Këngës 42. Samstag, 20. Dezember 2003, aus dem Kongresspalast in Tirana, Albanien. 18 Teilnehmer:innen. Moderation: Adi Krasta, Ledina Çelo. Televoting (50%) und Jury (50%).# | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz |
---|---|---|---|---|
01 | Arbër Arapi | Bota ime | n.b. | n.b. |
02 | Kujtim Prodani | Ju të dashurat e mia | n.b. | n.b. |
03 | Anisa Dervani | Sytë e Zemrës | n.b. | n.b. |
04 | Françesk Radi | Syri i saj po më verbon | n.b. | n.b. |
05 | Rudi + Ingrid Jushi | Me ty | n.b. | n.b. |
06 | Edmond Mancaku | Trill Vjeshte | n.b. | n.b. |
07 | Evis Mula | E dashuruar | n.b. | n.b. |
08 | Kozma Dushi | E nesërmja tjetër kujt i takon | n.b. | n.b. |
09 | Klajdi Musabelliu | Një Shpresë për jetën Time | n.b. | n.b. |
10 | Rovena Dilo | Njëmijë Zemra | n.b. | n.b. |
11 | Mariza Ikonomie | Mbi urë | n.b. | 02 |
12 | Anjeza Shahani | Imazhi yt | n.b. | 01 |
13 | Eneda Tarifa | Qëndroj | n.b. | n.b. |
14 | Rosela Gjylbegu | Hirushja | n.b. | 03 |
15 | Ermonia Lekbello | Ç’punë ke ti me Dashurinë | n.b. | n.b. |
16 | Orges Toçe | Eja | n.b. | n.b. |
17 | Voltan Prodani | Kthehu dhe kujto | n.b. | n.b. |
18 | Andi Kongo | Sikur të rroja sa kjo Botë | n.b. | n.b. |
Zuletzt aktualisiert: 13.06.2022