Con­cours Euro­vi­si­on 2004: Immer mit­ten in die Fres­se rein

Ein pop­kul­tu­rel­les Beben erschüt­ter­te 2003 die euro­päi­sche Musik­land­schaft, in Form der damals nagel­neu­en Cas­ting­show Pop Idol, beim gro­ßen Nach­barn als Deutsch­land sucht der Super­star ein Quo­ten­ren­ner. Dar­an woll­te auch der hel­ve­ti­sche Sen­der SRF par­ti­zi­pie­ren, aller­dings ohne eine direk­te Zusam­men­ar­beit mit dem ver­pön­ten kom­mer­zi­el­len Kon­kur­ren­ten RTL, der hin­sicht­lich der eid­ge­nös­si­schen Bestre­bun­gen bereits mit einer einst­wei­li­gen Ver­fü­gung droh­te. Die schlau­en Schwei­zer koope­rier­ten statt­des­sen mit dem ORF, dem sie für lächer­li­che 50.000 Fran­ken die Rech­te an derer selbst­ge­strick­ten Idol-Kopie Star­ma­nia abkauf­ten. “Mit der Bewil­li­gung, Titel und Inhalt zu ändern,” wie der dama­li­ge SRF-Unter­hal­tungs­chef Max Sie­ber 2018 dem Blick erzähl­te. Der Music­Star schlug ein wie eine Bom­be: die ers­te Staf­fel erziel­te Traum­quo­ten und die Shows waren Tages­ge­spräch auf Schul­hö­fen und Kan­ti­nen, wobei zar­te Roman­zen zwi­schen den Teilnehmer:innen mehr Auf­merk­sam­keit erziel­ten als die Musik. Selbst­re­dend zogen gleich die ers­ten Vier des nur eine Woche vor dem natio­na­len Vor­ent­scheid zu Ende gegan­ge­nen neu­en For­mats direkt in den Euro­song 2004 wei­ter, damit der Sen­der auch hier noch ein­mal deren immense Popu­la­ri­tät abschöp­fen konnte.

Die Play­list mit den ver­füg­ba­ren Bei­trä­gen des Euro­song 2004 in Start­rei­hen­fol­ge (teils Audio).

Kei­ne fai­re Chan­ce also für die übri­gen acht Füllkandidat:innen, noch nicht ein­mal für so gestan­de­ne Künst­ler wie den Ita­lie­ner Mau­ro Sab­bio­ne, zwi­schen 1981 und 1984 Key­boar­der der Hit­gi­gan­ten und Euro­vi­si­ons­teil­neh­mer Matia Bazar. Der ras­pel­te mit dem fan­tas­ti­schen ‘Sicu­ra­men­te Uomi­ni’ eine auf­re­gen­de Ode an die Männ­lich­keit vor – ob toxisch oder nicht, lässt sich lei­der nicht mehr ermit­teln, da weder Song noch Text heu­te irgend­wo auf­find­bar sind. Er schied bereits in der ers­ten von zwei Abstim­mungs­run­den aus. Die­ses Schick­sal traf mit Tif­fen, Fan­ny (*gickel*) und Iri­na zudem gleich drei nach­na­mens­lo­se New­co­me­rin­nen, die auf­grund ihrer unglück­li­chen Pseud­ony­me im Anschluss umge­hend wie­der in tiefs­ter Anony­mi­tät ver­schwan­den. Was zumin­dest im Fall der letzt­plat­zier­ten Iri­na scha­de ist, deren von einem ele­gi­schen Akkor­de­on und einer dis­kre­ten Folk­gi­tar­re zusam­men­ge­hal­te­ner Song ‘Heb ab’ – für mich selbst voll­kom­men uner­klär­lich – zu mei­nen per­sön­li­chen Vor­ent­scheid-Lieb­lings­lie­dern aller Län­der und Epo­chen zählt. Und dies, obgleich ich ange­sichts ihres schwy­zer­düt­schen Dia­lekts nicht zu sagen ver­mag, ob die sehr rau und aggres­siv bel­len­de Inter­pre­tin dar­in ihren Ex auf­for­dert, sich zu ver­pis­sen, oder wie der­einst Céli­ne eine Ode an Astro­nau­ten darbringt.

Eine Kör­per­hal­tung, als ob sie gleich gebärt: Irina.

In die aus sechs der zwölf Teil­neh­men­den bestehen­de End­run­de schaff­te es hin­ge­gen eine Anto­nella Laf­or­tez­za (wer?), und das, obwohl sie nicht nur eine unfass­bar lang­wei­li­ge Bal­la­de am Start hat­te, son­dern auch das Tref­fen der Töne zum Zufalls­spiel geriet. Eher laut als schön sang auch ihre mit einer hüb­schen, gül­de­nen Brust-Brüs­tung geschmück­te Kon­kur­ren­tin Caro­li­ne Ago­s­ti­nio (wer?). Von den drei ins Super­fi­na­le gelang­ten Music­Stars schnitt erstaun­li­cher­wei­se die dor­ti­ge Sie­ge­rin Car­men Fenk, die mit dem von einem der Juro­ren gefor­der­ten “Meh Dräck!” in der Stim­me, mit Platz 5 am schlech­tes­ten ab. Sie ver­öf­fent­lich­te ihren Euro­song ‘Some­thing new’ dar­auf­hin weder als Sin­gle noch als Track ihres Num­mer-Eins-Albums ‘Fen­ka­de­lic’. Wie bei sol­chen Shows üblich, war sie ziem­lich schnell wie­der weg vom Fens­ter, ein Come­back­al­bum von 2015 flopp­te. Anders lief es bei dem sowohl als Music­Star wie im Vor­ent­scheid Zweit­plat­zier­ten Mario Pac­chio­li. Der brach­te sei­nen zwei­spra­chi­gen Bei­trag ‘Tier tie / By your Side’ als Sin­gle raus und schaff­te es bis auf Rang 3 der Schwei­zer Charts. Nach zwei erfolg­rei­chen Alben ging er zum Musik­stu­di­um in die USA, spä­ter wech­sel­te er ins Schauspielfach.

Bil­ligs­ter Kin­der­lied­schrott, grau­sam into­niert: was ritt die Helvet:innen, aus­ge­rech­net die­sen Mist zu wählen?

Tra­gi­scher­wei­se ori­en­tie­ren sich vie­le Men­schen bei ihren Wahl­ent­schei­dun­gen in natio­na­len Vor­ent­schei­den ja oft dar­an, was beim Euro­vi­si­on Song Con­test in den letz­ten Jah­ren Erfolg hat­te. Dort gewan­nen 2001 und 2002 zwei abso­lut grau­en­haf­te, stump­fe Kin­der­ge­burts­tags­num­mern. Also votier­ten die Zuschauer:innen beim Euro­song 2004 für eine eben­sol­che: das vom gelern­ten Coif­feur und dritt­plat­zier­ten Music­Star Pie­ro Este­rio­re gemein­sam mit gleich vier sei­ner Castingshow-Kolleg:innen zele­brier­te ‘Cele­bra­te!’. Nun hät­te das Bei­spiel der spa­ni­schen Ope­ra­ci­on Triún­fo-Tri­um­pha­to­rin und Euro­vi­si­ons­ver­tre­te­rin Rosa Lopez War­nung genug sein kön­nen, die sich im Vor­jahr eben­falls ihre unter­le­ge­nen Mitstreiter:innen mit auf die Euro­vi­si­ons­büh­ne brach­te und dort von die­sen bei­na­he her­un­ter­ge­el­len­bogt wur­de. Aber mensch lernt ja nie dazu: der spä­ter vor allem durch einen unter­halt­sa­men Anschlag gegen die Pres­se­frei­heit in Erschei­nung getre­te­ne Sän­ger lie­fer­te sich in Istan­bul mit sei­ner Entou­ra­ge einen Über­bie­tungs­wett­streit in Sachen Over­ac­ting und hei­se­res Her­um­brül­len. Und schied am Ende mit Nul Points im Semi­fi­na­le so ver­dient wie bit­ter aus. Immer­hin brach­te er es den­noch auf vier in den Charts notier­te Alben – und eine fünf­jäh­ri­ge Pha­se als Chor­sän­ger für (schau­der) Andre­as Gabalier.

Unver­wüst­li­ches ESC-Come­dy­gold: die Stel­le nach 34 Sekun­den, wo ihm das Mikro­fon eine aufs Maul haut.

Nach die­ser neu­er­li­chen Total­bla­ma­ge zog sich die Schweiz für die nächs­ten sechs Jah­re auf inter­ne Nomi­nie­run­gen zurück. Und lan­de­te 2005 mit den est­ni­schen Fremd­ar­bei­te­rin­nen Vanil­la Nin­ja ein Top-Ten-Ergeb­nis. 2006 durf­te das mul­ti­na­tio­na­le Ralph-Sie­gel-Pro­jekt Six4One des­we­gen direkt im Fina­le star­ten. Erst die Rück­be­sin­nung auf ein­hei­mi­sche Künstler:innen wie den immer­hin euro­pa­weit bekann­ten DJ Bobo sorg­te ab 2007 wie­der für eine hun­dert­pro­zen­ti­ge Serie an Nichtqualifikationen.

Immer wie­der lus­tig: die Fan-Par­odie auf ‘If we all give a litt­le’, den Schwei­zer Bei­trag 2006.

Vor­ent­scheid CH 2004

Euro­song. Sams­tag, 6. März 2004, aus dem TSR-Stu­dio in Genf. Zwölf Teilnehmer:innen. Mode­ra­ti­on: Jean-Marc Richard. Regio­na­les Tele­vo­ting mit Superfinale.
#Inter­pre­tenSong­ti­telTele­vo­teSuperPlatz
01Tif­fenFly away1707
02Mau­ro SabbioniSicu­ra­men­te uomini1609
03Car­men FenkSome­thing new230305
04Loren­zo MarraJe rêve d’un Monde1410
05Danie­la BrunThe Ghost of you1707
06Fan­nyL’έle de Lumière1311
07Mario Pac­chio­liBy your Side261002
08Iri­naHeb ab1012
09A‑LiveYou are pretty260104
10Anto­nella LafortezzaDove nas­co­no gli amori210306
11Caro­li­ne AgostinioLe Mon­de danse240503
12Pie­ro Este­rio­re + The Music StarsCele­bra­te271101

Letz­te Aktua­li­sie­rung: 29.05.2023

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1 Comment

  • Wun­der­bar! Eine bes­se­re Pfingst­mon­tag­be­schäf­ti­gung, als mich durch alle Schwei­zer Vor­ent­schei­dun­gen von 1990 bis 2004 durch­zu­kli­cken, gibt es nicht! Dan­ke für dei­ne Archiv­ar­beit in den letz­ten Tagen. War fast schon erstaunt, in was für kur­zen Inter­val­len die Benach­rich­ti­gungs­mails zu dei­nen neus­ten Ein­trä­gen kamen.
    Eine Kor­rek­tur habe ich hier aber anzu­mer­ken: Die Schweiz muss­te sich 2006 wegen der Top 10-Plat­zie­rung im Vor­jahr nicht für das Fina­le qua­li­fi­zie­ren. In dem Semi von 2006 hät­te das doch kei­ne Chan­ce gehabt, sich zu qua­li­fi­zie­ren. Mei­ner Mei­nung nach. Ich ste­he da sicher nicht allei­ne da.

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