Sechs­te Deka­de 2006–2015: Der Back­lash beginnt

One Step for­ward und zwei zurück

Das schwe­di­sche Jahrzehnt

Auf die längst über­fäl­li­ge Demo­kra­ti­sie­rung des Abstim­mungs­ver­fah­rens durch das 1998 end­lich ein­ge­führ­te Tele­vo­ting folg­te beim Euro­vi­si­on Song Con­test die längst über­fäl­li­ge Pro­fes­sio­na­li­sie­rung der audio­vi­su­el­len Dar­bie­tun­gen. Mit immer auf­wän­di­ge­rer Büh­nen­tech­nik, abge­feim­te­ren Trick­klei­dern, spek­ta­ku­lä­re­ren Hoch­leis­tungs­cho­reo­gra­fien und wahn­sin­ni­ge­ren Mate­ri­al­schlach­ten, die beim rus­si­schen Sie­ger­bei­trag 2008 von Dima Bilan in einer Kunst­eis­lauf­bahn und einer mil­lio­nen­teu­ren Stra­di­va­ri als Büh­nen­prop ihren Höhe­punkt fan­den. Zum Ver­druss der west­li­chen Grün­der­vä­ter, deren Vertreter:innen mit den deut­lich ehr­gei­zi­ge­ren Kolleg:innen vom Bal­kan und aus den ehe­ma­li­gen Sowjet­län­dern schlicht­weg nicht mehr mit­hal­ten konn­ten. Was in einem eben­so ver­blen­de­ten wie laut­star­ken Lamen­to über das “Block­vo­ting” gip­fel­te und dazu führ­te, dass die um die Teil­nah­me­ge­büh­ren der Big-Four-Län­der fürch­ten­de EBU das Rad der Geschich­te zurück­dreh­te und die dia­bo­li­schen Jurys wie­der mit ins Boot hol­te – als “Kor­rek­tiv” mit 50% Stimm­macht. Immer­hin ende­te die Feu­er­tau­fe des neu­en Halb-und-halb-Ver­fah­rens auf mär­chen­haft ver­söhn­li­che Wei­se: mit dem (vor­her­seh­ba­ren) Erd­rutsch­sieg von Alex­an­der Rybak, einem in Weiß­russ­land gebo­re­nen und in Nor­we­gen auf­ge­wach­se­nen Musik­ta­lent, des­sen glei­cher­ma­ßen folk­lo­ris­ti­sches wie pop­mo­der­nes ‘Fairy­ta­le’ sowohl das klas­si­sche Musik­in­stru­ment Gei­ge als auch eine von sport­ge­stähl­ten Boden­tur­nern dar­ge­bo­te­ne Cho­reo­gra­fie auf­bot und somit mus­ter­gül­tig alle Ele­men­te eines Euro­vi­si­ons­bei­trags neue­rer Prä­gung in sich ver­ein­te. Inklu­si­ve des kom­mer­zi­el­len Erfolgs.

Cat­weaz­le und die Mana-mana-Sin­gers: Alex Rybak (NO 2009).

Um den kaum mehr zu bewäl­ti­gen­den Spa­gat zwi­schen den Prä­fe­ren­zen der Jury und den Vor­lie­ben der Zuschauer:innen hin­zu­be­kom­men, kauf­ten immer mehr Län­der nun ihre Bei­trä­ge bei schwe­di­schen Autor:innen und Bera­tungs­teams ein, deren Erfolgs­quo­te (nicht nur) in die­ser Deka­de dar­auf hin­deu­tet, dass das skan­di­na­vi­sche Volk tat­säch­lich ein Händ­chen für die Show hat. Nicht umsonst genoss das 2002 unter Chris­ter Björk­man rund­erneu­er­te Melo­di­fes­ti­valen für gute zwei Deka­den den Sta­tus als unan­ge­foch­te­ner Gold­stan­dard unter den natio­na­len Vor­ent­schei­dun­gen. Wel­che in Zei­ten von wie Pil­ze aus dem Boden schie­ßen­den Euro­vi­si­ons­blogs, die über jede noch so pup­si­ge Nich­tig­keit hyper­ven­ti­lie­ren, und von Live­streams eben jener Aus­wahl­pro­zes­se im Netz die ehe­dem ein­mal im Jahr statt­fin­den­de Show zu einer immer stär­ker aus­ufern­den Ganz­jah­res­be­schäf­ti­gung für Hard­core­fans trans­fe­rier­ten. Mit dem zwei­ten Grand-Prix-Sieg im Jah­re 2010 läu­te­te Deutsch­land dann eine wei­te­re kul­tu­rel­le Zei­ten­wen­de ein: die Ära der Authen­ti­zi­tät. Lena Mey­er-Land­rut sieg­te ohne gro­ßen Show-Fir­le­fanz, ledig­lich mit einem ein­gän­gi­gen Pop-Lied­chen und dank ihrer fri­schen, pop­p­rin­zes­sin­nen­haf­ten Aus­strah­lung, die spür­ba­ren Sie­ges­hun­ger mit über­zeu­gend gespiel­ter, schein­ba­rer jugend­li­cher Unbe­küm­mert­heit und dem Wil­len ver­band, dabei Spaß zu haben. Man nahm ihr ab, den Wett­be­werb ernst zu neh­men, ohne ihn all zu ernst zu neh­men. Mit exakt die­ser Ein­stel­lung sieg­ten auch die eso­te­risch-ver­strahlt wir­ken­de schwe­di­sche House-Elfe Loreen und die öster­rei­chi­sche LGBTIQ*-Ikone Con­chi­ta Wurst.

Es geht auch ohne die typisch deut­sche Ver­bis­sen­heit: Lena per­form­te mit spie­le­ri­scher Leich­tig­keit (DE 2010).

Der über­wäl­ti­gen­de Sieg der zunächst auch im Hei­mat­land hoch­gra­dig umstrit­te­nen und ange­fein­de­ten, tra­dier­te Geschlech­ter­rol­len so spie­le­risch wie macht­voll auf­bre­chen­den Frau mit Bart illus­trier­te auf das Treff­lichs­te die vor­züg­li­che Sou­ve­rä­ni­tät des Publi­kums, das damit die rich­ti­ge Ant­wort auf die zuneh­men­den fort­schritts- und viel­falts­feind­li­chen Töne aus Russ­land und ande­ren ost­eu­ro­päi­schen Staa­ten, aber auch von west­li­chen Modernisierungsverlierer:innen und Ewig­gest­ri­gen gab. Und auf die fei­ge Vogel-Strauß-Poli­tik der EBU beim The­ma Men­schen­rech­te, die sich bei­spiels­wei­se im völ­lig hilf­lo­sen Umgang mit dem aser­bai­dscha­ni­schen Régime wäh­rend des Protz-Con­tests von 2012 mani­fes­tier­te, wofür der Jour­na­list Ste­fan Nig­ge­mei­er den tref­fen­den Begriff vom “Mulm von Baku” präg­te. Und er sorg­te für berech­tig­te Kri­tik an der Jury, die Con­chi­tas Sieg zwar nicht ver­hin­dern konn­te, die von Fans und Medi­en ein­hel­lig gelieb­te “Sis­si die Zwei­te” aber – nicht nur im offi­zi­ell homof­eind­li­chen Osten, son­dern auch im angeb­lich so tole­ran­ten Deutsch­land – mas­siv her­un­ter­wer­te­te. Selbst unter den grund­sätz­li­chen Befürworter:innen der Jury als Gegen­ge­wicht zum schlech­ten Mas­sen­ge­schmack fan­den sich dar­auf­hin Stim­men, die for­der­ten, ihre Macht zumin­dest etwas ein­zu­schrän­ken. Was durch den letz­ten Con­test die­ser Deka­de zusätz­lich Nah­rung erhielt, in dem erst­mals nicht der kla­re Zuschauer:innenfavorit, das ita­lie­ni­sche Pope­ra-Trio Il Volo, gewann, son­dern Jury­lieb­ling Måns Zel­mer­löw aus – natür­lich! – Schwe­den. Immer mehr Men­schen frag­ten sich zu Recht, wofür sie über­haupt noch anru­fen soll­ten, wenn am Ende ein Häuf­lein von fünf will­kür­lich aus­ge­wähl­ten “Expert:innen” das Ergeb­nis bestimmt?

Reborn and trans­for­med: Frau Wurst (AT 2014).

Ein Ärger­nis, auf das die EBU bis­lang aller­dings eben­so wenig eine schlüs­si­ge Ant­wort fand wie auf die schlei­chen­de Bedeu­tungs-Ero­si­on des Wett­be­werbs in den neue­ren Euro­vi­si­ons­län­dern, deren mas­sen­haf­tes Zuströ­men zum jähr­li­chen euro­päi­schen Pop­kul­tur-Schau­lau­fen die Aus­deh­nung der Show auf mitt­ler­wei­le drei Aben­de über­haupt erst nötig mach­te, wo man aller­dings mitt­ler­wei­le dem Event des Öfte­ren aus finan­zi­el­len Grün­den oder auf­grund der Unzu­frie­den­heit mit der unge­rech­ten Pri­vi­le­gie­rung der Big Five fern­bleibt. Statt­des­sen such­te man in Genf sein Heil in der welt­wei­ten Expan­si­on: nach einer ent­spre­chen­den Ein­stim­mung des Publi­kums durch Ein­spie­ler und Pau­sen­acts aus dem Land der Kän­gu­rus und Wom­bats prä­sen­tier­te die EBU 2015 anläss­lich des sech­zig­jäh­ri­gen Euro­vi­si­ons­ju­bi­lä­ums Aus­tra­li­en als neu­es­tes Teil­neh­mer­land – angeb­lich “ein­ma­lig”, was sich aber flugs als eben­so durch­schau­ba­re wie über­flüs­si­ge Lüge ent­pupp­te. Denn es hat ja nie­mand etwas gegen Down Under: der ozea­ni­sche Kon­ti­nent ver­fügt durch sei­ne bru­ta­le bri­ti­sche Kolo­ni­al­ge­schich­te über eine enge kul­tu­rel­le Bin­dung an Euro­pa, die Australier:innen sind begeis­ter­te Fans und coo­le Leu­te, und bereits der Pre­mie­ren­teil­neh­mer Guy Sebas­ti­an leg­te die musi­ka­li­sche Mess­lat­te für alle eins höher. Ob ange­sichts des all­mäh­li­chen gesell­schaft­li­chen Aus­ein­an­der­drif­tens Euro­pas die­ser Schritt, der natür­lich auch Begehr­lich­kei­ten aus Asi­en Tür und Tor öff­ne­te, in die rich­ti­ge Rich­tung führt, wird erst die Zeit zei­gen. Der Ver­such eines Ame­ri­can Song Con­tests schei­ter­te jeden­falls 2022 so kläg­lich wie vorhersehbar.

Mit ihm ger­ne heu­te Nacht noch­mal: der aus­tra­li­sche Guy.

Stand: 23.04.2023

Die Euro­vi­si­ons­jahr­gän­ge 2006–2015

Logo des Eurovision Song Contest 2006 (Semifinale)
Euro­vi­si­on Song Con­test 2006, Semifinale
Logo des Eurovision Song Contest 2006 (Finale)
Euro­vi­si­on Song Con­test 2006, Finale
Logo des Eurovision Song Contest 2007 (Semifinale)
Euro­vi­si­on Song Con­test 2007, Semifinale
Logo des Eurovision Song Contest 2007 (Finale)
Euro­vi­si­on Song Con­test 2007, Finale
Logo des Eurovision Song Contest 2008 (1. Semi)
Euro­vi­si­on Song Con­test 2008, 1. Semi
Logo des Eurovision Song Contest 2008 (2. Semi)
Euro­vi­si­on Song Con­test 2008, 2. Semi
Logo des Eurovision Song Contest 2008 (Finale)
Euro­vi­si­on Song Con­test 2008, Finale
Logo des Eurovision Song Contest 2009 (Semi 1)
Euro­vi­si­on Song Con­test 2009, 1. Semi
Logo Eurovision Song Contest 2009 (Semi 2)
Euro­vi­si­on Song Con­test 2009, 2. Semi
Logo des Eurovision Song Contest 2009 (Finale)
Euro­vi­si­on Song Con­test 2009, Finale
Logo des Eurovision Song Contest 2010 (Semi 1)
Euro­vi­si­on Song Con­test 2010, 1. Semi
Logo des Eurovision Song Contest 2010 (Semi 2)
Euro­vi­si­on Song Con­test 2010, 2. Semi
Logo des Eurovision Song Contest 2010 (Finale)
Euro­vi­si­on Song Con­test 2010
Logo des Eurovision Song Contest 2011 (Semi 1)
Euro­vi­si­on Song Con­test 2011, 1. Semi
Logo des Eurovision Song Contest 2011 (Semi 2)
Euro­vi­si­on Song Con­test 2011, 2. Semi
Logo des Eurovision Song Contest 2011 (Finale)
Euro­vi­si­on Song Con­test 2011, Finale
Logo ESC 2012 erstes Semi
Euro­vi­si­on Song Con­test 2012, 1. Semi
Logo ESC 2012, zweites Semi
Euro­vi­si­on Song Con­test 2012, 2. Semi
Logo ESC 2012 Finale
Euro­vi­si­on Song Con­test 2012, Finale
Euro­vi­si­on Song Con­test 2013, 1. Semi
Euro­vi­si­on Song Con­test 2013, 2. Semi
Euro­vi­si­on Song Con­test 2013, Finale
Euro­vi­si­on Song Con­test 2014, 1. Semi
Euro­vi­si­on Song Con­test 2014, 2. Semi
Euro­vi­si­on Song Con­test 2014, Finale
Euro­vi­si­on Song Con­test 2015, 1. Semi
Euro­vi­si­on Song Con­test 2015, 2. Semi
Euro­vi­si­on Song Con­test 2015, Finale

Natio­na­le Vor­ent­schei­dun­gen 2006–2015

Land2006200720082009201020112012201320142015
AL2006200720082009201020112012201320142015
AM200720082009201020112012201320142015
AT2007201120122013intern2015
AUintern
AZ20082009201020112012201320142015
BE200720082009201020112012201320142015
BG2007200820092010201120122013
BY200820092010intern2012201320142015
CHinterninterninternintern20112012201320142015
CYintern200820092010intern201220132015
CZ2007200820092015
DE200620072008intern201020112012201320142015
DK200720082009201020112012201320142015
EE200720082009201020112012201320142015
ES20072008200920102011201220132014intern
FI200720082009201020112012201320142015
FR2007interninterninterninterninternintern2014intern
GE200720082009201020112012internintern2015
GR200720082009201020112012201320142015
HR20072008200920102011internintern
HU200720082009intern2012201320142015
IE200720082009201020112012201320142015
ILintern2008200920102011intern201320142015
IS200720082009201020112012201320142015
IT201120122013intern2015
LT200720082009201020112012201320142015
LV200720082009201020112012201320142015
MDintern20082009201020112012201320142015
ME20072008interninterninterninternintern
MK20072008200920102011interninternintern2015
MT200720082009201020112012201320142015
NL2007intern200920112012interninternintern
NO200720082009201020112012201320142015
PL2007200820102011internintern
PT20072008200920102011201220142015
RO200720082009201020112012201320142015
RS20072008200920102011intern20132015
RUintern200820092010intern2012interninternintern
SE200720082009201020112012201320142015
SI200720082009201020112012intern20142015
SK20092010internintern
SMinterninterninterninterninternintern
TRinterninterninterninterninternintern
UA20072008200920102011201220132014
UK2007200820092010interninterninterninternintern

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