Mit der (ungerechten) Rache-Relegation des damals ausgewählten Eurovisionsbeitrags ‘Planet of Blue’ hatte 1996 die zehn Jahre andauernde Regentschaft des NDR-Unterhaltungschefs Jürgen Meier-Beer als deutscher Grand-Prix-Verantwortlicher begonnen, die mit der (gerechten) Schande von Kiew enden sollte. Sprich: mit dem letzten Platz beim internationalen Wettbewerb mit nur vier armseligen Mitleidszählern für das seherisch betitelte ‘Run and hide’. Zwischen diesen beiden unglücklichen Ereignissen lag eine sehr beachtliche Bilanz: mit Guildo Horn hatte JMB ab 1998 den Grand Prix zu Hause wieder zur relevanten Show gemacht, mit dem auf EBU-Ebene maßgeblich von ihm gegen erhebliche traditionalistische Widerstände durchgedrückten Televoting, dem Wegfall des Orchesters und des Heimatsprachenzwangs gar den großen ESC aus der kulturellen Bedeutungslosigkeit zurückgeholt. Nach seinem Rücktritt herrschte in Hamburg völlige Ratlosigkeit. Und so holte sich der öffentlich-rechtliche NDR Unterstützung dort, wo die Unterhaltungskompetenz beheimatet ist: bei den Privaten. Genauer: bei ProSieben und dessen dessen damaligen Comedy-Aushängeschild Thomas Hermanns (Quatsch Comedy Club, Pop Club). Der offen schwule Entertainer und bekennende Grand-Prix-Fan stürzte sich mit Feuereifer an die Aufgabe und produzierte in völliger Umkehrung von JMBs Modernisierungsfortschritten eine glamouröse, schwelgerische Retro-Show rund um den eigentlich bereits im Vorjahr begangenen fünfzigsten Geburtstag des Song Contests.
Dickie will uns ein Gedicht aufsagen: der viel zu früh verstorbene Dirk Bach saß beim deutschen Vorentscheid 2006 mit auf der Promi-Couch (komplette Show).
Einen passenderen Rahmen als das so prachtvolle wie vergleichsweise kleine Hamburger Schauspielhaus mit seinen wenigen hunderten Sitzplätzen, auf denen die Hardcore-Fans komplett unter sich blieben, hätte er sich nicht aussuchen können für diese glanzvolle Gala. Schon die Rückkehr des Orchesters unterstrich, dass Hermanns nicht den Anspruch verfolgte, eine Sendung mit zeitgemäßer Popmusik zu produzieren, die auch heterosexuelle Zuschauer:innen unter Dreißig anspricht. Stattdessen inszenierte er einen intimen Abend für die queere Familie und plauderte sich gemeinsam mit handverlesenen Sofagästen wie dem schwulen Serienschauspieler Georg Uecker (Carsten Flöter aus der Lindenstraße), der ESC-Legende Joy Fleming, die neben der ebenfalls geladenen, schwulen RTL-Knutschkugel Dirk Bach (Dschungelcamp) richtig schlank wirkte, sowie der fröhlich durch den Abend fliegenden, lesbischen Lucy Diakowska (No Angels) lustvoll durch die Grand-Prix-Historie, unter besonderer Würdigung camper ESC-Elemente wie dem Trickkleid. Der Einsatz von Lys Assia als Überbringerin des goldenen Umschlags, Hape Kerkelings Gastauftritt als Reinkarnation von Toto Cutugno sowie sensationelle Medleys erhoben die Show zu einer Sternstunde schwulen Entertainments auf allerhöchstem Niveau. Welchen dekorativen und operativen Aufwand einige unserer besten Schlagergrößen wie Mary Roos und Ingrid Peters hier für gerade mal vierzigsekündige Performances betrieben, daran sollte sich die undankbare Schnepfe Nicole mal ein Beispiel nehmen! Die Eurovisionssiegerin von 1982 war wie andere ehemalige deutsche Vertreterinnen eingeladen, am Grand-Prix-Potpourri mitzuwirken, sagte aber mit der Begründung “da gehe ich lieber mit meinen Kindern Pizza essen!” ab.
Hape & die Kerkelettes mit der inoffiziellen Europahymne (IT 1990).
Um sich das üppige Rahmenprogramm leisten zu können, sparte Hermanns beim Hauptteil ein: lediglich drei nicht unbedingt dem jugendaffinen Segment des Popmarktes zuzurechnende Acts gingen ins Rennen um das Ticket nach Athen. Die von ebendort stammende, von mir ursprünglich als sichere Siegerin getippte Vicky Leandros landete am Ende auf dem letzten Rang. Mit ihrer – sachlich vermutlich gerechtfertigten – anschließenden Wehklagerei in der Bild über die mangelhafte Soundtechnik im Deutschen Schauspielhaus (sowie ihrem köstlich angepissten Gesichtsausdruck nach der Ergebnisverkündung) erwies sie sich leider als schlechte Verliererin. Denn auch als glühender Verehrer der einzigartigen Schlagerikone muss ich sagen: ihr (selbstgeschriebener) Song war halt einfach dröge. Um die Sendezeit von 90 Minuten vollzukriegen, musste jede:r der Drei vor dem eigenen Wettbewerbsbeitrag zunächst einen Eurovisionsklassiker anstimmen. Für diese Pflichtübung suchte sich die gebürtige Griechin ausgerechnet ihren Grand-Prix-Siegertitel ‘Aprés toi’ aus. Kein all zu kluger Schachzug: erstens meisterte sie diesen nicht mehr ganz so stimmgewaltig und scheinbar anstrengungslos wie noch vor 34 Jahren. Und zweitens trat im direkten Vergleich dazu die musikalische Beliebigkeit und Glanzlosigkeit von ‘Don’t break my Heart’ um so deutlicher zu Tage. Bei allem Respekt für ihren Mut, nach so einer verdienstvollen Vorgeschichte noch mal das Risiko auf sich zu nehmen: das war leider nichts!
Große Geste, schwacher Song: Vicky Leandros.
Thomas Anders, die ehemals bessere Hälfte von Dieter Bohlen (ist Ihnen eigentlich auch schon mal aufgefallen, dass alle der zahlreich folgenden Lebensabschnittspartnerinnen des DSDS-Impresarios mit ihrem dunklen Teint, langen Haaren und meist pinkfarbenen Lippenstift exakt so aussahen wie Thomas Anders in seiner Modern-Talking-Phase, während dessen damalige Gattin Nora dem Dieter wie aus dem Gesicht geschnitten schien? Aber ich schweife ab!), verdiente sich an diesem Abend meine aufrichtige Hochachtung: die Art und Weise, wie er das durch die Tonregie gleich zweifach versemmelte Song-Intro meisterte (“Ich kann es auch Acappella singen, wenn ich muss!”) war hoch professionell, unglaublich souverän und verdient absoluten Respekt. Sein (von ihm mitkomponierter) Beitrag ‘Songs that live forever’ war indes erwartbar unterirdisch. Und nach seiner vorangegangenen, Liberace-würdigen Darbietung des ESC-Klassikers ‘Volare’, bei der er alle Register des schlechten Schlagersänger-Schmierlappentums zog, dürfte er wohl das Schmerzensgeld zurückzahlen müssen, das ihm ein Richter einst wegen der Invektive “höhensonnengegerbte Sangesschwuchtel” zusprach. Danke für diese drei Minuten hochgradig amüsanten Entertainments: so hab ich mich lange nicht mehr beömmelt!
Wer hätte gedacht, dass Thomas Anders so eine coole Sau ist?
Doch obwohl Anders in seinem Einspieler noch nur halb augenzwinkernd einfließen ließ, das er für uns viele Bekanntheitsstimmen aus dem ehemaligen Ostblock holen könnte, wo er mit Modern Talking einst ebenfalls eine wirklich große Nummer war, entschieden sich die Zuschauer:innen stattdessen mehrheitlich für Dittsches Country-Kapelle Texas Lightning (wie sexy Jon Flemming Olsen erzählte, der amerikanische Slang für die “Warmsanierung einer Farm”, also Versicherungsbetrug). Das Quintett hatte mit dem von der australischstämmigen Frontfrau Jane Comerford selbst geschriebenen, sehr possierlichen ‘No no never’ (dem dritten auf Englisch gesungenen Beitrag des Abends, womit dieser deutsche Vorentscheid als erster in die Annalen einging, bei dem kein einziges muttersprachliches Lied im Rennen war) den frischesten Song, den stimmigsten Auftritt und die sympathischste Einstellung. “Das gibt’s gar nicht, dass man mit so einer kleinen tapferen Band dahin kommen kann”, freute sich ihr Schlagzeuger und früherer RTL-Samstagnacht-Star Olli Dittrich aufrichtig nach dem Sieg. Und stimmte, um die frenetisch nach einer Zugabe jubelnden Grand-Prix-Fans im Saal glücklich zu machen und da die Tontechniker eine Minute nach Ende der TV-Übertragung bereits alle Stecker gezogen hatten, einfach eine Acappella-Version ihres Siegertitels an, begleitet von im Takt fingerschnipsenden, fröhlich stehschunkelnden Reihen im Hamburger Schauspielhaus.
You’ll meet some lovely Country Girl: Texas Lightning.
Das war richtig, richtig schön, für mich einer der unvergesslichsten Eurovisionsmomente überhaupt! Dafür danke! Der NDR jedenfalls konnte, nicht zuletzt dank einer umfangreichen Vorberichterstattung sowohl im Ersten als auch bei der öffentlich-rechtlichen und der privaten Konkurrenz, mit der Einschaltquote für den diesjährigen Vorentscheid zufrieden sein: über fünf Millionen Zuschauende, doppelt so viele wie bei Stefan Raabs Nachahmersendung Bundesvision Song Contest. Und mit dem Ergebnis: nach ‘Zwei kleine Italiener’ (1962), ‘Dschinghis Khan’ (1979), ‘Ein bisschen Frieden’ (1982) und ‘Can’t wait until tonight’ (2004) war ‘No no never’ der fünfte von sechs deutschen Beiträgen, die es in knapp 60 Jahren Contestgeschichte an die Spitze der heimischen Verkaufscharts schaffen sollten (‘Satellite’ komplettierte 2010 das Sextett). Auch in der Jahresabrechnung schnitt die hierzulande nachhaltig beliebte Nummer mit Rang vier außergewöhnlich gut ab. Der Haken: steht die Nation mal ausnahmsweise geschlossen hinter dem deutschen Beitrag, dann erwartet sie auch den internationalen Sieg. Der aber natürlich mit einem – noch so tollen – Countryschlager nicht zu holen war, denn außerhalb der USA und Deutschlands zählt diese Musikrichtung halt nicht so viele Anhänger:innen. Und so war – nach Rang 15 in Athen – am Ende mal wieder die Enttäuschung groß.
Große Liebe an den wundervollen Dirk Bach für die Ehrenrettung von Vicky Leandros gegenüber der wirklich unverschämt sexistischen Fragestellerin des RTL-Investigativmagazins ‘Exklusiv’!
Deutsche Vorentscheidung 2006
Der deutsche Vorentscheid – 50 Jahre Grand Prix. Donnerstag, 9. März 2006, aus dem Deutschen Schauspielhaus, Hamburg. Drei Teilnehmer:innen. Moderation: Thomas Hermanns. Televoting.# | Interpreten | Songtitel | Televote | Platz | Charts |
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01 | Thomas Anders | Songs that live forever | 27,23% | 02 | - |
02 | Texas Lightning | No no never | 45,96% | 01 | 01 |
03 | Vicky Leandros | Don’t break my Heart | 26,81% | 03 | 69 |
Letze Aktualisierung: 12.11.2022
Say: wo ich hier gerade von der Einstimmungs-Pflicht lese: was haben damals Texas Lightning eigentlich gesungen? Vicky Leandros “Apres toi”, Thomas Anders “Volare”, aber was war der Grand-Prix-Hit, den die Sieger dargeboten haben?
Spontan würde ich auf Waterloo tippen. Bin aber alles andere als sicher.
So ist es tatsächlich.
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[…] Humorzentrum jederzeit millimetergenau trifft, hatte den deutschen Grand-Prix-Vorentscheid seit 2006 nicht nur moderiert, sondern auch mitproduziert. Das Format einer glamourösen Gala mit vielen […]
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[…] ein Thomas-Anders-gleicher Fehlstart (vermutlich lag der zuständige Tontechniker bereits im Tiefschlaf) bei Brincks […]
[…] hübsche, schwungvolle Countryballade ablieferten, an der sich selbst ‘No no never’ (DE 2006) noch eine Scheibe abschneiden kann. Leider war die Sängerin Jasmine so nervös, dass sie sich […]
Auch wenn ich Texas Lightning sehr mag, hätte ich Thomas Anders geschickt. Thomas ist im Ostblock ein Superstar und hätte uns verdammt viele Punkte gebracht. Hier hätte ich mir mehr Zockermentalität vom Publikum gewünscht.