Im Oktober 2006 offerierte der (bezeichnenderweise) größte Popstar der Schweiz, DJ Bobo, in einer TV-Show, die Eidgenossenschaft beim Eurovision Song Contest in Helsinki zu vertreten – falls das Volk es denn wolle. Wie von ihm erhofft, übernahmen die heimischen Medien daraufhin kostenlos das Marketing und stellten in ihren Onlineangeboten entsprechende Umfragen parat, die der seit 1990 aktive Breakdancer und Rapper, auf deren Erstlingssingle ‘I love you’ einst die ehemalige helvetische Grand-Prix-Repräsentantin und ‑Kommentatorin Sandra Simó die weibliche Stimme beisteuerte, natürlich für sich entschied. Nun stellte er seinen Eurovisionsbeitrag vor, für den er sich bei Michael Jacksons ‘Thriller’ bediente und daraus eine lustige Musical-Nummer machte. ‘Vampires are alive’ heißt das Stück, und wie alles von René Baumann – so der Geburtsname Bobos – ist es ein im Hinblick auf die geschmacklichen Vorlieben der neutralen Schweiz bis zur Unkenntlichkeit verwässertes Popzitat, in diesem Fall eben aus dem Fundus des King of Pop. Im SonntagsBlick verriet er sein ESC-Geheimrezept: “Unser Song tönt genau so, wie es im Balkan gut ankommt. Keine Romantik, nichts Herzerwärmendes, nur wuchtige Beats, stampfender Disco-Pop – das kommt in Russland, Polen und Ungarn sehr gut an.”
Der schweizerische Fürst der Finsternis: DJ Bobo.
Und da mittlerweile drei Viertel der abstimmungsberechtigten Teilnehmerländer dort liegen, wo man im noch immer vom Kalten Krieg geprägten deutschsprachigen Raum den Osten verortet (die Balkanbewohner selbst begreifen sich ja eher als Mitteleuropäer, aber diese Illusion teilen sie mit den Ostdeutschen), kalkuliert der in den angesprochenen Ländern durchaus kommerziell erfolgreich gewesene schweizerische DJ entsprechend. Wobei, hier von bewusster Kalkulation zu sprechen, tut ihm zu viel der Ehre an: was anderes als wuchtige Stampfbeats kann er ja ohnehin nicht. Und die kommen natürlich nicht nur im Ostblock gut an, werden von dort beim Grand Prix allerdings üblicherweise von knappst geschürzten drallen Blondinen vorgetanzt und nicht von zwergwüchsigen, abgelutschten Tanzpiraten. Oder ist das Lied gar selbstrezitativ? Vampire leben ja bekanntlich davon, anderen das Blut auszusaugen. So wie der Bobo anderen Künstlern (seien es Dance-Acts wie 2Unlimited, Mambokönige wie Perez Prado oder eben Michael Jackson) die kreativen Ideen aus den Adern saugt und in verdünnter, verharmloster Form widergibt. Oder anders gesagt: kennt irgendjemand ernsthaft jemanden, der älter ist als neun und DJ-Bobo-Fan?
Aus Bobos Anfangsjahren: der Eurodancetrack ‘I love you’ mit Sandra Simó (Repertoirebeispiel).
Unterstützung erhielt der vom Schweizer Fernsehen konkurrenzlos intern bestimmte Baumann aus dem Kolleg:innenkreis: nachdem ein paar hirnverbrannte evangelikale Fundichristen die absurde Behauptung aufstellten, der harmlose Song betreibe Teufelsanbetung, und eine Petition zum Verbot seiner Eurovisionsteilnahme ins Netz stellen, die tatsächlich knapp 50.000 Stimmen einsammelte, sprang ihm Francine Jordi zur Seite. “Da gäbe es viel fragwürdigere Lieder, über die man diskutieren müsste,” sagte sie der Aargauer Zeitung. Deutlich ernsthaftere Probleme als die Religioten bereiteten dem bis heute für seine perfekt durchchoreografierten Masseninszenierungen bekannten Bobo jedoch die Grand-Prix-Regeln, namentlich die Pflicht zum Livegesang und die Sechs-Personen-Grenze. Ohne seine übliche, vielfache Zahl an Tänzer:innen und Backup-Sänger:innen sah das Ganze nämlich einfach nur armselig aus und klang auch so. Die zur Vortäuschung der üblichen Personenfülle auf die Eurovisionsbühne gestellten Schaufensterpuppen machten alles nur noch schlimmer. Mit Platz 20 schied die Neunzigerjahreikone im berüchtigten Blutbadfinale von Hellsinki mit seinen 28 Startern aus. Ironischerweise gewann stattdessen eine herzerwärmende, romantische Balkanballade diesen Jahrgang.
Mit den heute beim ESC zugelassenen Chorstimmen vom Band und einer digitalen Visualisierung hätte der Bobo zweifelsfrei abgeräumt. Schade drum!
Zuletzt aktualisiert: 30.05.2023