Bereits zum dritten Mal in Folge begrüßte der Mann mit Deutschlands strahlendstem Pferdegebiss, Thomas Hermanns, die fast ausschließlich schwule Fangemeinde im plüschigen Deutschen Schauspielhaus zu Hamburg und vor den Fernsehgeräten zu einem glamourös inszenierten Galaabend. Nach den eher enttäuschenden Ergebnissen der letzten beiden durch das vom Quatsch-Comedy-Macher konzipierte Format ausgewählten deutschen Grand-Prix-Vertreter:innen auf der internationalen Bühne nahm Hermanns Veränderungen vor, die sich im Wesentlichen in einem von drei auf fünf Acts aufgestockten Teilnehmendenfeld und einer Hinwendung an das aktuelle Popgeschehen manifestierten. Und tatsächlich bot die ARD diesmal Künstler:innen auf, deren letzte Hits größtenteils nur wenige Monate zurück lagen und nicht gleich einige Dekaden, so wie es bei den beiden ersten Ausgaben von Wer singt für Deutschland? öfters mal der Fall war. Selbst die für das ESC-Sieger:innen-Medley verpflichteten Acts Ruslana und Maria Šerifović stammten aus dem laufenden Jahrtausend. Einzig die Sofa-Gästin Katja Ebstein, die bei der Aufwärmmoderation vor Beginn der Liveübertragung für ihre Verdienste um das deutsche Eurovisionswesen spontan stehende Ovationen aus dem Saal erhielt, schlug die letzte verbliebene Brücke in die glorreiche Grand-Prix-Vergangenheit.
Aufs falsche Pferd gesetzt: mit knapper Mehrheit bevorzugten die deutschen Fans (einschließlich des Hausherren) vermeintliche Internationalität vor heimischen Tönen (komplette Show, wegen irgendwelcher behämmerter Rechteverwertungswichser leider teils ohne Ton bzw. geschnitten).
Den Auftakt gaben Marquess, eine für diese Sendung irgendwie exemplarische Mogelpackung. Mit ‘Vayamos Compañeros’, einem Sangriasaufsong im bei den Deutschen so beliebten schaumgebremsten Latino-Schlagersound, hatten die den Sommerhit des Jahres 2007 für die Ballermannparty in heimischen Großraumdiscos abgeliefert. Ihr selbst geschriebener Vorentscheidungsbeitrag ‘La Histeria’ kam im gleichen Erstklässler-Pidgin-Spanisch (“Die Señorita ist wie ein Bonbon”) daher wie ihre bisherigen Veröffentlichungen. Kein Wunder, stammen die vier Jungs doch aus Hannover und haben mit dem Land der knatternden Kastagnetten soviel zu tun wie Ralph Siegel mit zeitgemäßer Popmusik. Und obschon der schnuckelige Marquess-Frontmann Sascha Pierro (der Rest der Band… ist halt der Rest der Band) mit einer Teilnahme am deutschen Vorentscheid 2003 bereits über Grand-Prix-Erfahrung verfügte, geriet ihre Performance zwar teutonisch präzise, aber irgendwie unspektakulär. Also das genaue Gegenteil einer ‘Histeria’ verkörpernd. Insofern gut, dass sie nicht in das zum Zwecke der Publikumsmelkung und Sendezeitstreckung eingeführte Superfinale kamen oder gar gewannen, hätte ihre Entsendung nach Belgrad doch eine erhebliche Belastung des deutsch-iberischen Verhältnisses befürchten lassen.
Der Videoclip zu ‘Just one Woman’ entschädigt im Gegensatz zum Livemitschnitt wenigstens mit nacktem Oberkörper für Tommys fades Gewinsel. Dennoch lautet die Empfehlung: mit abgeschaltetem Ton anschauen.
Der Auftritt von Tommy Reeve (bürgerlich: Thomas Vogt), Deutschlands unverlangt eingesandte Antwort auf das unerträgliche britische Weichei James Blunt, der im Vorjahr mit dem unentschuldbaren ‘I’m sorry’ unverständlicherweise einen Hit hatte, sorgte bei mir nicht nur wegen seines schleimigen sowie von der ersten Sekunde an als unaufrichtig und berechnend durchschaubaren Monogamiegesülzes ‘Just one Woman’ für akute Übelkeitsattacken: die im Fernsehen weniger präsenten, in der Halle aber um so sichtbareren Hintergrundeinblendungen auf der LED-Wand, die den Schmusebarden in einem dreiminütigen Potpourri seiner schlimmsten Schlafzimmerblick-Posen zeigten, bewiesen eine dermaßen eitle Selbstverliebtheit, dass dagegen Kate Moss bescheiden wirkt. Die ebenfalls auf fünf Personen aufgestockten Plaudercouchgäste (wer beim NDR auf die Idee kam, den komplett unlustigen Troll Oliver Pocher einzuladen, gehört übrigens noch im Nachhinein verprügelt) hatte man diesmal gezwungen, als Songpat:innen für jeweils einen der Acts zu fungieren, und die Tommy zugeteilte Kim Fisher sorgte mit ihren ans Notgeile grenzenden Heranwanzereien an den wimmernden Schönling für zusätzliche Fremdschamattacken. Dankenswerterweise versank Reeve im Anschluss an diese Sendung wieder in der Versenkung.
Wenn Du Tokio Hotel auf Wish bestellst: Cinema Bizarre.
Thomas Hermanns in der Sendung live spontan adoptierte Glamrock-“Kinder” Cinema Bizarre, die im Vorjahr mit ‘Lovesongs (they kill me)’ in den Top Ten landen konnten, waren trotz einiger erkältungsbedingter, leichterer (*hüstel*) stimmlicher Schwächen in der ersten Abstimmungsrunde meine persönliche Wahl. Einfach weil ihr Beitrag ‘Forever or never’, übrigens aus der Feder des gleichen dänischen Songschreiberteams wie der Siegersong der No Angels, sich als hübsch elektronisch fiepende Reminiszenz an die guten alten New-Wave-Zeiten entpuppte. Doch die als Tokio Hotel für Arme gebuchten Kajalkinder scheiterten trotz verzweifelter Beteuerungen in ihrem Einspielfilm, ihre Musik richte sich nicht nur an Pubertierende, sondern sei auch für “Ältere” gedacht, an ihrer Fanbasis. Denn die bestand natürlich vor allem aus Menschen, die noch nicht über eine Schambehaarung verfügten. Und die fanden vermutlich größtenteils das Erste gar nicht erst auf der Fernbedienung. Dem kommerziellen Erfolg schadete es nicht: ‘Forever or never’ chartete auf der #44, die bizarren Cineasten veröffentlichten im Jahr darauf noch ein zweites Album und durften sogar als Vorband für Lady Gaga fungieren. 2010 löste sich die Band auf, Drummer Shin tritt heute unter dem fantastischen Namen Rosetta Bleach als Dragqueen auf.
Wohl Fan der roten Spielart (“Vermisst Du meinen Arm?”): die Mutzenbacher.
Für meine vorangegangenen Lästereien über die Musicalsängerin Caroline Fortenbacher muss ich an dieser Stelle Abbitte leisten. Die Frau überzeugte bei ihrem Auftritt durch Stimmgewalt, Präzision, Dramatik und den Einsatz der Windmaschine sowie im Interview mit Thomas Hermanns durch Schlagfertigkeit und Humor. Live gesungen klang ihr absurder Fernbeziehungsschlager ‘Hinterm Ozean’ zudem gar nicht mal so dröge wie auf Platte. Dennoch stimmte ich im Superfinale für den international erfolgversprechenderen Act (im Rückblick gebe ich zu: da habe ich mich womöglich geirrt). Und war dementsprechend erleichtert über den – mit 50,5 zu 49,5% allerdings denkbar knappen – Sieg der No Angels über die Musicaltante. Frau Diakowski und ihre drei austauschbaren Begleitsängerinnen, denen trotz ihres sehr erfolgreichen Comebacks im Jahre 2006 ihre neue Plattenfirma Universal nach lediglich einer gefloppten Singleauskoppelung im Sommer 2007 die Pistole auf die Brust setzte und sie gegen Widerstand in Teilen des Quartettes zur Teilnahme am Eurovisionsvorentscheid zwang, lieferten einen gefälligen Popsong, eine passable Performance, hübsche Kleider mit lustigen Schleppen und gleich vier (!) Windmaschinen. Was wollte man mehr?
Stimmen im Wind, die sie rufen, wenn der Abend beginnt: die No Angels.
Nun ja: vielleicht ein Siegerlied, das man nicht schon während des Hörens wieder vergaß. Denn tatsächlich sollte sich der Songtitel ‘Disappear’ als selbst erfüllende Prophezeiung erweisen. Auf die durch einen bestenfalls als “indisponiert” zu umschreibenden Auftritt eigenverschuldeten Blamage von Belgrad mit einem geteilten letzten Platz und in Anbetracht ihrer Leistung geradezu peinlichen Douze Points aus Lucys Heimat Bulgarien folgte im Jahr darauf die durch eine publicitygeile Staatsanwaltschaft auf skandalöse Weise öffentlichkeitswirksam inszenierte Verhaftung von Nadja Benaissa mitten in der Frankfurter City und damit verbunden ihr Zwangsouting als HIV-positiv. Hierdurch trudelte die Girlgroup in einen Abwärtsstrudel mit platzenden Werbeverträgen und schwindenden Verkaufszahlen. Im Sommer 2010 löste sich das Quartett de facto erneut auf. Mit ‘Disappear’ begann indes eine neue Zeitrechnung beim deutschen Eurovisionsvorentscheid, der in diesem Jahr die niedrigste Einschaltquote seit der Übernahme durch den NDR im Jahr 1996 erreichte: nämlich die Phase der von ausländischen Seriensongschreiberteams komponierten, auf stromlinienförmige Durchhörbarkeit konzipierten, vollkommen austauschbaren Radiomucke. Die sich trotz der damit verbundenen Langeweile und der überwiegenden Erfolglosigkeit beim TV-Wettbewerb Eurovision Song Contest beim lernresistenten NDR bis heute ungebrochen hoher Beliebtheit erfreut.
Als hätte ihnen jemand den Stecker gezogen: der saft- und kraftlose Auftritt der No Angels in Belgrad war schmerzhaft mitanzuschauen und peinlich für den Popstandort Deutschland.
Deutsche Vorentscheidung 2008
Grand Prix Vorentscheid. Donnerstag, 6. März 2008, aus dem Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Fünf Teilnehmer:innen, Moderation: Thomas Hermanns. Televoting mit Superfinale.# | Interpreten | Songtitel | Televote | Super | Platz | Charts |
---|---|---|---|---|---|---|
01 | Marquess | La Histeria | n.b. | n.b. | n.b. | 15 |
02 | Tommy Reeve | Just one Woman | n.b. | n.b. | n.b. | 88 |
03 | Cinema Bizarre | Forever or never | n.b. | n.b. | n.b. | 44 |
04 | Caroline Fortenbacher | Hinterm Ozean | n.b. | 49,5% | 02 | 44 |
05 | No Angels | Disappear | n.b. | 50,5% | 01 | 04 |
*Hinweis zur Tabelle: der NDR veröffentlichte nur das Ergebnis der zweiten Abstimmungsrunde zwischen den beiden Erstplatzierten.
Letzte Aktualisierung: 13.11.2022
hi Carolin war mein fave!!! Sie hat das so geil gesungen!!! Aber im nachinein finde ich cinema bizzare immer besser aber die no angels fadn ich gar net toll!!!! Ich denke mit jedem anderen aussser tommy Reeve hätten wir besser abgeschnitten;) naja mit marquees vllt auch nicht aber mit carolin und cinema bizzare aufjedenfall;) mfg pasi
Marquess müssen wohl hellseherisch über Ishtar gesunden haben in ihrem Campino-Kleid. 😆
[…] Da ist dem NDR durchaus eine positive Überraschung gelungen: nach ewiger Geheimhaltung, die bereits befürchten ließ, man habe mal wieder niemand Gescheites gefunden, gab der Sender heute via Bild und Eurovisionshomepage die fünf Namen bekannt, die es am 6. März im Deutschen Schauspielhaus zu Hamburg gegeneinander auszufechten haben. Und diese Namen beeindrucken! Neben der gestern Abend bereits durchgesickerten Girlgroup No Angels handelt es sich um die Sommerhit-Kapelle Marquess, die Tokio-Hotel-Epigonen Cinema Bizarre, Crooner Tommy Reeve und die Musicalsängerin Carolin Fortenbacher. Weitere erfreuliche Nachricht: Thomas Hermanns moderiert erneut den Grand Prix Vorentscheid 2008. […]
[…] dem restlichen Füllmaterial fanden sich noch der spätere (DVE 2008, ‘La Histeria’) Marquess-Frontmann Sascha Pierro mit einem erbärmlichen […]
[…] Bach richtig schmal wirkte, und der fröhlich durch den Abend fliegenden Lucy Diakowska (No Angels, DE 2008) gestaltete der Entertainer ein intimes Fest für die engere Familie. Auch die Einspieler, Hape […]