Die Tage Drei und Vier der Proben in Belgrad sind gelaufen, wohl die interessantesten von allen. Mit gleich drei sicheren Anwärtern auf das Finale, wenn nicht gar den Gesamtsieg – und einem möglichen Favoritensturz. Die neunzehn Semifinalisten vom kommenden Donnerstag gaben sich ein Stelldichein und ließen die Konkurrenz der ersten beiden Probentage alt aussehen. Es regierte konzentriertes High-Camp-High-NRG: und genau das ist es, was wir vom Contest wollen!
Das ging los mit Island. ‘This is my Life’ entpuppte sich als der ideale Opener. Bereits im Vorfeld mein Favorit, ist nach dieser Performance Reykjavik 2009 nicht mehr auszuschließen. Frederik und Regina von der Euroband verzichten vollständig auf Tänzer. Eine hervorragende Entscheidung, denn bei ihrem Song handelt es sich bereits um Spitzencamp. Eine Tanzchoreografie könnte da zum Overkill geraten. Frederik reibt sein Gesicht offensichtlich noch immer jeden Morgen mit Speckschwarten ein, so rosig glänzt er. Beide strahlen so voller Enthusiasmus, dass man sie einfach lieb haben muss! Im direkten Vergleich dazu fällt der große Fan-Favorit Schweden etwas ab. Charlotte “Botox” Perrelli präsentiert exakt die gleiche Choreografie wie schon im Melodifestivalen. Und warum auch nicht, denn die ist schließlich perfekt! Stimmlich hielt sie sich bei der Probe etwas zurück – eine gewisse routinierte Professionalität ist ihr nicht abzusprechen. Wäre da nur nicht ihr geradezu beängstigendes Äußeres: die Gute sieht aus wie eine altersbedingt einmal zu oft geliftete, unter Magersucht leidende Barbiepuppe und könnte problemlos Chuckys Braut spielen. Da beide Acts auf das gleiche Publikum zielen, wird es extrem spannend, wer am Ende mehr überzeugen kann: der professionell exekutierte Schwedenschlager oder der fröhliche isländische Schwuppentechno?
I’m lovin’ it!
Nach dieser Doppeldosis Spitzencamp holen uns die türkischen Rocker Mor ve Ötesi wieder auf die Erde zurück. Alles an ihrer Performance ist unspektakulär, einschließlich des Songs. In ihrer Pressekonferenz seien sie, wie EscNation berichtet, von einer serbischen Journalistin gefragt worden, ob sie bereits Gelegenheit hatten, “örtliches serbisches Fleisch” zu kosten. “Oder Frauen?”. Und dann behaupte noch mal einer, die Belgrader seien homophob! Atemberaubend wirkt der Auftritt von Ani Lorak aus der Ukraine, der mal wieder deutlich die performative Überlegenheit des Ostblocks beweist. Ani bringt einen mannshohen, von innen mit Neon beleuchten Spiegelschrank mit auf die Bühne, in dem sich ihre Tänzer verstecken und auf den sie im Verlauf ihrer drei Minuten raufklettert. Ihre Show ist neu, originell, hochgradig unterhaltsam und passt perfekt zu ihrem eingängigen Discopopsong ‘Shady Lady’. Dazu noch kann die Frau singen! Es ist wie bei Tina Karol, nur mit besserer englischer Aussprache. Man merkt einfach, dass hier jemand den Sieg auch wirklich will und sich dafür alle Mühe gibt, ohne dass es angestrengt wirkt. Könnte wohl 2009 doch wieder auf Kiew hinaus laufen.
Leicht verkrampft: die junge Alta
Danach heißt es: Pinkelpause! Jeronimas Milius aus Litauen quält erneut drei Minuten seine Stimmbänder und meine Nerven. Er jault wie eine vergewaltigte Katze und verbreitet Depression und Langeweile. Sollte sich unter meinen Lesern in Belgrad ein guter Motivationstrainer befinden, so möge er doch bitte der armen Olta Boka geschwind unter die Arme greifen. Die 16jährige Albanerin erschien bei der Probe ganz offensichtlich hypernervös. Ganz ohne Grund, denn sie hat eine ergreifende Ballade und kann gut singen. Etwas mehr Selbstvertrauen bitte, denn es wäre schade um diesen wunderschönen Beitrag. Möglicherweise lag ihre Mißstimmung aber auch an den präsentierten grauenhaften Bühnenklamotten, die aussehen, als habe ein 95jähriger, dreiviertelblinder Schneider aus einem Dorf ohne Anschluß an die Außenwelt den Auftrag erhalten, etwas zum Thema “Musik” zu kreieren.
Praise the Lord of the Balls!
Interessant: die unterschiedlichen Reaktionen, welche die Probe von Paolo Meneguzzi hervorrief. Während deutsche Fans weiterhin Lobarien auf den Schweizer singen, verlieh der irische Blog All Kinds of Everything ihm die diesjährige Kate-Ryan-Plakette für den zu erwartetenden Favoritensturz. Ich bin geneigt, mich dieser Meinung anzuschließen, denn weder konnte der Gute stimmlich überzeugen noch showtechnisch. Spannenderweise klingt er auf unterschiedlichen Probenmitschnitten unterschiedlich schlecht – für viel entscheidender aber halte ich, dass seine Show mit vier halbherzigen Shuffle-Tänzern und viel Umhergelaufe dermaßen abgestanden und achtzigerjahremäßig herüberkommt, dass einem die Füße einschlafen. Auch ich prophezeihe ein Ergebnis im DJ-Bobo-Bereich. Und zu Recht. Tereza Kerndlóva (Tschechei) ist die neueste osteuropäische Anwärterin für die Goldmedaille im Wettbewerb um das kürzeste Beinkleid. Der Rest bleibt schlecht gesungener Lärm. Ruslan Alenkho (Belarus) schließlich hüpft während seiner drei Minuten auf verschieden großen goldenen Kugeln herum. Man wartet förmlich darauf, dass er abrutscht und sich das Kinn aufschlägt. ‘Hasta la Vista’ jedenfalls, in der Ursprungsfassung schöner Eurotrash, bleibt im Belgrad-Remix lahm wie ausgelutschter Kaugummi.
So muss eine Choreo aussehen!
Die zweite Hälfte der zweiten Qualifikationsrunde präsentierte sich, passend zum Sommerwetter, nautisch: von den lustigen lettischen Piraten eröffnet und von der dramatisch düsteren portugiesischen Fischersfrau Vânia abgeschlossen. Und kaum einen besseren Opener hätte man sich für diesen Tag vorstellen können als die Pirates of the Sea, den – ich betone es immer wieder gerne – allerersten baltischen Eurovisionsbeitrag ever, den ich uneingeschränkt mag. Ein purer, schamloser Spaßbeitrag, der auf keiner Ballermannparty fehl am Platze wäre. In der Pressekonferenz ergingen sich, wie die Schlagerboys rapportieren, die lustigen Letten in pausenlosen anzüglichen Anspielungen auf Robertos großes Schwert – die Schlingel! Das zückt das putzige Bärchen auch in der Show, wenn er und seine Piratenfreunde sich nicht gerade in ‘YMCA’-reifen Verrenkungen ergehen. Übrigens soll beim Semifinale auch noch ein Wikingerschiff auf die Bühne segeln – wenn es denn bis dahin dem widerspenstigen lettischen Zoll entrissen werden kann. ‘Grandma beats the Drum’ war gestern – DJ Opi ist heute! Der charmant vor sich hin knotternde kroatische Rentnerrapper 75 Cents (man weiß nicht: schimpft er über die Schlechtigkeit der Jugend oder verbreitet er politische Brandreden?) ist nicht nur durch eine bereit stehende Blutbank (oder ist das der Notfall-Sliwowitz?) gegen plötzliche Schwächeanfälle abgesichert. Die cleveren Straßenmusikanten von Kraljevi Ulice stellen ihm auch ein antikes Grammofon auf die Bühne, auf dem er am Ende ein wenig scratcht. Ein echter Knüller – OnEurope ruft ‘Romanca’ bereits als möglichen Siegertitel aus. Nicht abwegig, wie ich meine: das ganze Ding ist einfach sehr, sehr bezaubernd!
“Sprechen Sie Deutsch”?
Von einem Plattenkratzer zum nächsten: die Bulgaren schicken gleich zwei DJs, die hinter brennenden Turntables agieren, während ein billiges osteuropäisches Falsifikat von Christina Uglyera in einem schäbigen Animieroutfit den netten Neunzigerjahre-Dancekracher ‘DJ take me away’ zu Schanden singt. Die große “12” auf dem T‑Shirt ihres Begleittänzers soll wohl die Punktehoffnung des Landes signalisieren, ist aber auch als ihr Preis pro Stunde dechiffrierbar. Horst Buchholz Simon Mathews sieht nach wie vor zum Niederknien aus (seit ich gelesen habe, dass er Polizist lernt, möchte ich das um so lieber!), solange er seine Schiebermütze auflässt. Darunter bedürfte es nämlich dringendst einer Schur! ‘All Night long’ ist und bleibt ein schrecklicher dänischer Swing-Schunkelschlager, den ich nur mit den Fingern in den Ohren zu ertragen vermag. Nicht nur wegen ihrer Blindheit liegt der Vergleich der georgischen Diana Gurtskaya zu Corinna May auf der Hand: auch sie gibt schmerzhaft laute, kreissägenartige Töne von sich und bewegt sich völlig ungelenk. Während der Show verhüllen ihre Tänzer sie zweimal kurz mit einem Tuch – ein Kostümwechsel steht also zu erwarten, was meine Hoffnung nährt, dass das heutige schlimme Outfit nicht das letzte Wort bleibt!
Erwähnte ich die vier hünenhaften schwedischen Tänzer bereits?
Wie überaus originell von der Ungarin Csézy, den Bühnenhintergrund zu ihrem Song ‘Candlelight’ mit brennenden Kerzen zu übersäen. Origineller jedenfalls als ihre lahme Balladenmischung aus ‘Will my Heart survive’ und ‘One Moment in Time’. Die quirlige Malteserin Morena lässt sich bei ihrem Werbefeldzug für den Alkoholkonsum (von dem angeblichen Spionagetext ist dank ihrer Aussprache außer “Wodka”, “Nastrowje!” und “Everywhere is Bitch Talk”, womit sie sich zweifellos auf die schwulen Eurovisionsblogs bezieht, kein Wort zu verstehen) von vier hünenhaften schwedischen Tänzern die Arbeit abnehmen: sie bewegt sich so gut wie gar nicht, sieht dabei in ihren Silberglitterstiefeln aber fabelhaft aus! Fast so fabelhaft wie ihre vier hünenhaften schwedischen Tänzer. Im Gegensatz zu Olivia Lewis trifft sie alle Töne, und ihre Choreografie ist nicht so over the Top – das könnte diesmal weiter kommen. Ich hoffe es jedenfalls stark, alleine schon, um am Samstag noch mal die hünenhaften schwedischen Tänzer bewundern zu können. Evdokia Kadi zieht die gleiche Show ab wie in der zypriotischen Vorentscheidung: ein bisschen Sirtaki, ein wenig Tabledance. Dazu perlen auf der Videoleinwand Wassertropfen. Na klar, bei einer ‘Femme fatal’ beschlägt schon mal die Mattscheibe. Ahem.
Sweet as Candy: die supersympathische Vânia
Die Mazedonier schicken denselben schlampig dargebotenen pseudomodernen Lärm wie immer. Um so spannender, ob die neue Halbfinalformel wirkt und sie diesmal schon in der Vorrunde scheitern. Und noch spannender, ob es Portugal diesmal endlich schafft! Der Chansondomina Vânia Fernandes und ihrem Chor der armen Fischersleut’ (deswegen die absichtlich billigen Klamotten) ist es unbedingt zu gönnen: dank der tätigen Mithilfe eines kroatischen Songschreibers gelingt es den Portugiesen endlich, die inhaltliche Dramatik ihres zornigen Gebetes (‘Senhora du Mar’ ist die Wehklage an die Königin der See, die Vânias Mann zu sich nahm) auch musikalisch adäquat umzusetzen und sich nicht in der üblichen, landestypischen Fadheit zu verlieren. ‘Senhora du Mar’ ist ein Eurovisionsdrama, wie es im Buche steht – sensationellerweise kommt im letzten Refrain gar die Windmaschine zum Einsatz! Dazu guckt die (im Interview zum Abbusseln süße) Vânia beim Auftritt derartig gebieterisch in die Kamera, dass Europa schon aus Angst vor dem bösen Blick für sie anrufen muß. Ein fantastischer Abschluß für das zweite Semifinale!
Zweites Semi 2008: der Nachbericht
Stahlbeton Ich hoffe sehr, dass die Finnen es ins Finale schaffen. Teräsbetoni und ‘Missä miehet ratsastaa’ gefällt mir nämlich um Längen besser als Lordi und ‘Hard Rock Hallelujah’. Leider werden sie diesmal wohl aber nicht gewinnen. Zweimal mit Rock innerhalb von drei Jahren ist unmöglich, leider, aber richtig fair war der Contest ja eh noch nie. da gewinnen dann auch schon mal schlechtere Nummern nur weil sie eher da waren. *seufz*
Die Finnen, auf die freue ich mich schon – nicht nur, weil die Jungs optisch mein Herz höher schlagen lassen, sondern auch weil mir ihr Song von Hören zu Hören besser gefällt und mittlerweile zu meinen Favoriten gehört. Als absolut furchtbar habe ich in den letzten Tagen den Herrn Bilan empfunden; ein bisschen Drama ist ja nie schlecht – aber wie der Russe für sein divenhaftes Herumgeheule von den Blogs in den Himmel gelobt wird, nervt mich doch schon sehr.