Von einer “Kreativpause” war seitens des NDR die Rede. Und von der Chance, nach der Blamage von Belgrad und nachdem der ProSieben-Comedian Thomas Hermanns, an welchen der Sender den deutschen Vorentscheid in den letzten drei Jahren outgesourcet hatte, den Bettel hinwarf, mit dem Verzicht auf einen öffentlichen Vorentscheid endlich echte Megastars zum Contest zu locken. Etablierte Künstler:innen also, die sich nicht mit einer Niederlage in der Publikumsabstimmung die Karriere kaputt machen wollten und daher sonst immer kniffen. Und so tagte stattdessen eine funkhausinterne Jury unter Vorsitz des NDR-Unterhaltungschefs Thomas Quibeldey und entscheid sich unter den Tonnen von Einsendungen für einen ganz, ganz großen Namen. Atemlose Spannung, imaginärer Trommelwirbel, Tusch: Oscar Loya. Jawohl, meine Damen und Herren, der Oscar Loya! Wie jetzt, den kannten Sie nicht? Noch nie vorher gehört? Macht nichts, der sang auch nur. Entscheidender war der Komponist: Alex Christensen. Den kennen Sie jetzt aber! Der deutsche Kommerztechnopionier, der schon Millionen von Platten verkaufte und Hits schrieb wie ‘Das Boot’ (oh, das war eine Coverversion) oder das textlich anspruchsvolle ‘Du hast den schönsten Arsch der Welt’: okay, auch nur ein Ripoff des Neunzigerjahre-Hits ‘Runaway’ von den Soundlovers, aber beweisen Sie das mal!
Das Vorbild für den deutschen Eurovisionsbeitrag 2009: ein James-Bond-Song von 1965.
Exakt jener Alex C. also, der letztes Jahr nach der Blamage von Belgrad den NDR noch harsch öffentlich kritisierte und den der ARD-Unterhaltungschef und neue deutsche ESC-Beauftragte Thomas Schreiber daraufhin nach dem Motto “dann mach’s doch besser” zur Teilnahme aufforderte, der siegte nun beim “anonymen” Auswahlverfahren. Zufälle gibt’s! Er stand also nun beim Grand Prix mit Oscar Loya zusammen im Rampenlicht. Oder vielmehr: er saß am Klavier. Und reihte sich damit nahtlos ein in die Galerie der deutschen Grand-Prix-Komponisten mit Profilneurose: ob Ralph Siegel (1980 und 1982 ebenfalls am Klavier) oder Stefan Raab (1998 am Taktstock, 2004 an der Gitarre) – der Anziehungskraft der Eurovisionsbühne entzieht sich so schnell keiner. Im Interview mit dem Hamburger Abendblatt zeigte sich Herr C. im Vorfeld sehr überzeugt von seinem Grand-Prix-Beitrag: “ ‘Miss Kiss Kiss Bang’ ist der beste Song, den ich seit Ewigkeiten geschrieben habe,” sagte er der Zeitung. Nun ist “Schreiben” eine etwas eigenwillige Bezeichnung für den kreativen Prozess des Zusammenfügens dreier bereits vorhandener Popstücke. Nämlich Shirley Basseys abgelehntem Titelsong ‘Mister Kiss Kiss Bang Bang’ für den 1965er James-Bond-Streifen ‘Feuerball’ sowie den 1999er Hits ‘Livin’ la Vida loca’ und ‘Mambo No. Five’ in der Neubearbeitung von Lou Bega. Damit auch der Dümmste die Rollenverteilung zwischen den Beiden kapiere, nannte sich das Duo Alex swings! Oscar sings!
Live beim Echo: Alex schwingt, Oscar singt (naja, mimt)
Die offizielle Songpräsentation im Rahmen der im Ersten übertragenen Echo-Verleihung ging dann schon mal grandios in die Hose: “Germany: two Points” fasste Moderator Oliver Pocher (was hatte der eigentlich gegen die ARD in der Hand, dass man ihn immer wieder vor die Kamera ließ?) den Vollplayback-Auftritt und die mehr als verhaltene Reaktion des im Saal sitzenden Fachpublikums, angesichts derer Alex C. wunderschön die Gesichtszüge entglitten, treffend zusammen. Zwar fuhren ASOS eine durchaus stimmige Choreografie auf, mit deutlich mehr als den in Moskau erlaubten sechs Personen auf der Bühne. Dafür aber performte Oscar Loya steif und verkrampft. Und hinterließ einen “arroganten” Eindruck, wie sich in ersten Fanreaktionen mehrfach lesen ließ. Zudem leistete die beauftragte Produktionsfirma MME eine katastrophale Kameraarbeit und war fast immer am falschen Platz. Sowie viel zu oft auf Alex C., dessen Anwesenheit auf der Bühne schlichtweg überflüssig war. Ein späterer Auftritt bei der NDR-Talkshow bestätigte dann zweierlei: nämlich einerseits, dass Herr Christensen tatsächlich unter einer massiven Profilneurose leidet und sich als den eigentlichen Star betrachtete. Oder, wie die Abendschau es taktvoll ausdrückte: “Loya übernimmt den Rest. Sprich: singen, tanzen, steppen und einen weißen Anzug tragen. Das sind Dinge, die der aus Kalifornien stammende Wahl-Münchner gelernt hat”. Und, zweitens, dass Loya live sehr schnell an seine stimmlichen Grenzen gelangt.
Der Videoclip: Und immer schön blank ziehen, Oscar!
Anschließend drehte man auf Kuba sogar ein Musikvideo, in dem ASOS so taten, als unternähmen sie exakt jene – für eine gute Grand-Prix-Platzierung mehr als hilfreiche – Promotiontour durch Europa, die zu organisieren der NDR im echten Leben mal wieder zu dumm, zu faul oder zu geizig war. Aber in Hamburg wollte man den Eurovision Song Contest ohnehin um keinen Preis der Welt ausrichten müssen. Abschließend lüftet aufrechtgehn.de noch das Geheimnis, wie es überhaupt zur Zusammenarbeit des deutschen Technomackers und des amerikanischen Musicalsängers kam. Darüber gab nämlich die Homepage des in einer südkalifornischen Kleinstadt aufgewachsenen Latinos in sehr offenherziger Weise Auskunft. Nach einer zu Tränen rührenden Darstellung der entbehrungsreichen Jugend Loyas schilderte diese seinen durch einen Umzug nach New York ins Rollen gebrachten Karrierestart: “Nach nur vier Wochen (…) wurde er auf den Straßen des Broadway entdeckt. Ein bekannter Produzent sprach den smarten Neuling an.” Porno-Alex, der ihn nach dem Preis fragte? Für “Kiss, Fist, Gang Bang”? Das sind doch Geschichten, die das Leben schreibt! Kommerziell konnte Alex übrigens nicht ganz an den ‘Schönsten Arsch der Welt’ anknüpfen: Platz 27 in den deutschen Verkaufscharts für ASOS’ Grand-Prix-Beitrag (nur zum Vergleich: die erfolgreichste deutsche Produktion in den Jahrescharts hieß ‘Haus am See’ von Peter Fox).
http://youtu.be/ybmSq-ltxwg
Künstlerisch gereift: Oscar Loya 2011 beim Frankfurter CSD
Deutsche Vorentscheidung 2009
Echo. Samstag, 21. Februar 2009, aus der O2-Arena in Berlin. Ein Teilnehmer, Moderation: Barbara Schöneberger und Oliver Pocher (Songpräsentation im Rahmen der Show).
Zuletzt aktualisiert: 13.11.2022
[…] Dass der Däne Jakob Sveistrup mit seinem drögen Diätreggae überhaupt ins Finale kam, erboste mich. Auch wenn er persönlich ja sympathisch und sein ‘Talking to you’ während der ersten Strophe noch erträglich wirkte: spätestens, wenn der Refrain einsetzt, ist es mit meiner Toleranz vorbei. Dass er es auch noch hier unter die Top Ten schaffte, damit bin ich nicht einverstanden. Um so mehr freute mich das verdiente schlechte Abschneiden des schwedischen Beitrags. Die eigentliche Siegerin des Melodifestivalen in diesem Jahr hieß Nanne Grönvall (SE 1996): ihr fantastisches ‘Håll om mig’ erhielt fast doppelt so viele Stimmen wie der Zweitplatzierte Martin Stenmarck, den die SVT-Jury in belarussischer Manier dennoch gegen die breite Publikumsmehrheit nach Kiew manipulierte, wo er mit einer swingorientierten Cabaretnummer über das bekannte skandinavische Spielerparadies ‘Las Vegas’ die Menschen befremdete. Ob sein Herumgefuchtel mit einem neonbeleuchteten Mikrofonständer eine Reminiszenz an seine stangentanzende Landsfrau Lena Phillipson (2004) darstellen sollte? Oder hoffte er, vom grassierenden Star-Wars-Fieber (Die Rache der Sith) zu profitieren? Nutzte jedenfalls nix, denn auf Swing regiert Europa nun mal allergisch – ob der NDR das nun glaubt oder nicht! […]