Ach, Schweiz! All dieser riesige Aufwand, und dann für… das? Nach einer katastrophalen Durststrecke beim Eurovision Song Contest und vier am Stück aufeinanderfolgenden Nichtqualifikationen für das internationale Finale mit intern nominierten Vertretern (nein, ich verwende nicht entgegen meinen Gepflogenheiten das generische Maskulinum: unter der vier Qualifikationsrundenversagern fand sich keine einzige Frau) entschied sich die Eidgenossenschaft heuer für eine Rückkehr zum öffentlichen Auswahlverfahren. Und zwar zu einem extrem öffentlichen: im Vorfeld der bereits im Dezember 2010 als allererste nationale Vorentscheidung der Saison in der Kreuzlinger Bodensee-Arena angesetzten, mit nach den drei Sprachgruppen des Landes paritätisch besetzten zwölf Startplätzen versehenen Großen Entscheidungsshow veranstalteten zumindest das Fernsehen der Deutschschweiz und der Tessiner Sender eigens vorgeschaltete, offene Bewerbungsverfahren (was in der französischsprachigen Romandie vor sich ging, hüllt sich wie immer in die Nebel des Matterhorns). Wie zuvor schon Spanien und Deutschland nutzte man dazu dieses nagelneue Dingsda, na wie heißt es noch: Internet, wo Interessierte aus aller Welt ihre Bewerbungsvideos hochladen durften.
Das Top-Highlight aus dem schweizerischen Internet-Hades 2011: die Jodel-Time.
An die 500 Titel kamen so zusammen, und neben der bei solchen Verfahren stets unvermeidbaren Schwemme seichter Stücke aus Malta sowie jeder Menge wirklich unfassbar schlechter Hobbyproduktionen fanden sich auch etliche absolut erlesene Trash-Perlen darunter. Doch zielsicher sortierten die Internetvotenden und Senderjurys diese samt und sonders aus. Fragen Sie mich dabei bitte nicht nach den Details: diese variierten von Sprachregion zu Sprachregion und wären, selbst wenn ich sie wüsste und verstanden hätte, so unendlich kompliziert zu erklären, dass wir bis ans Ende aller Tage mit nichts anderem mehr beschäftigt wären. Und entscheidend ist ja, wie schon der GröKaZ wusste, was hinten rauskommt: in das Finale der von dem zur Familie gehörenden Schönling Sven Epiney moderierten und merkwürdigerweise für ihre Grafik die selbe Schrifttype wie die deutsche Elektromarktkette Saturn verwendende Entscheidungsshow gelangten am Ende zwölf unglaublich mittelmäßige Beiträge, vom Mainstream-Poprock über Mundart-Folkrock bis zu Pseudo-Hip-Hop, allesamt nicht unterirdisch schlecht, aber eben auch nicht eine Minute lang nur ansatzweise unterhaltsam.
Mittelalte Hetero-Cis-Männer in Schottenröcken sind natürlich schon sehr edgy… nicht: die Playlist mit den auffindbaren Beiträgen in Startreihenfolge.
Den Auftakt machte die nach Eigenbeschreibung “knackigste aller Cover-Rockbands” Polly Duster aus der Innerschweiz, die sich seit ihrer Gründung 1999 als sehr straighte Partykapelle eine feste Fanbasis erarbeitet hatte und mit ‘Up to you’ hier nun unter Beweis stellte, dass ein selbstgeschriebener Rocksong noch schlechter sein kann als die üblicherweise von ihnen gecoverten, “soliden” Hits von Van Halen, Kings of Leon, Kaiser Chiefs und wie der ganze Rotz noch heißt. Die zum Zeitpunkt des Auftritts gerade erst fünfzehnjährige Andrina Travers fügte einige sehr nach Vanillearoma schmeckende ‘Drops of Drizzle’ hinzu. Die blinde Sängerin Bernarda Brunović bewies mit ihrem Auftritt ‘Confidence’, was ihr die alleine abstimmungsberechtigten Zuschauer:innen mit einem zweiten Platz entlohnten. Ihr weiterer musikalischer Weg führte sie in die Heimat ihrer Familie, nach Kroatien, wo sie seit 2019 mehr oder minder regelmäßig an der Dora teilnimmt. Das nach einer lästigen Entzündungskrankheit klingende Poppärchen Aliose (Alizé Oswald und Xavier Michel) versuchte es mit einer plinkernd-plätschernden Ballade von solch unaufdringlicher Sanftheit, dass man unweigerlich dabei einschlief.
Sang Scilla durch die Nase oder war der Mikroständer einfach nur einen Tick zu hoch eingestellt?
Das einzige auch nur entfernt Interessante am Auftritt von Dominique Borriello waren leider die drei im Hintergrund zu einer völlig anderen Melodie herumhupfenden, leichtbekleideten Ischen. Die als Scilla Spinosa geborene Scilla Hess, die noch ein paar Mal wiederkommen sollte, präsentierte mit dem englischsprachigen ‘Barbie Doll’ einen erwartbar öden, radiotauglichen Poprockseich. “Geschliffener Country-Pop nach ihrem US-Vorbild Lady Antebellum, aber in Mundart”: so beschrieb der SRF das neu gegründete Trio Country Helvetia oder kurz CH (genau wie das offizielle Landeskürzel der Schweiz – wie *hüstel* einfallsreich!). Das bekräftigte mit ‘Gib nid uf’ seinen unbedingten Durchhaltewillen, von dem man den Dreien weniger gewünscht hätte. Die als Tochter kosovoalbanischer Eltern im Berner Oberland geborene, seinerzeit erst sechzehnjährige Ilira Gashi sollte ihren kommerziellen Durchbruch trotz eines dritten Platzes für ihre Ballade ‘Home’ erst im Jahr 2018 schaffen, mit dem von ihr mitgeschriebenen Stück ‘Fading’ (Platz 16 bzw. 17 in den Single-Charts aller drei DACH-Länder). Nicht fehlen durfte natürlich die unvermeidliche Acapella-Gruppe, hier in Form der Baseler Formation The Glue.
https://youtu.be/mHsLoL7VsFs
Ist aktuell nicht mehr gesanglich aktiv: die ehemalige American-Idol-Teilnehmerin Sarah Burgess.
Der Preis für den besten einzigen Unterhaltungsmoment des Abends geht indes an die US-Amerikanerin Sarah Burgess, die in einem tuffigen Girlanden-Trickkleid performte, das sich in einen osteuropakompatiblen Baywatch-Badeanzug mit Schweizer Landesfahne verwandelte. Gefragt, warum sie als Amerikanerin für die Eidgenossen singen wollen, antwortete sie: “Switzerland’s where it’s at, musically” – ohne das Gesicht zu verziehen! Gut, dass ich gerade nichts trank: es hätte Tage gedauert, meinen Bildschirm wieder zu säubern! Aus diesem Aufmarsch der Langeweile pickten die Televoter:innen dann zielsicher den seichtesten Beitrag von allen heraus: das putzige Popgeplätscher ‘In Love for a While’ von Anna Rossinelli, die im kurzen schwarzen Kleidchen und mit typischer Bauchkrampf-Pose auch optisch die Kaffee-Hag-Variante der deutschen Vorjahressiegerin Lena Meyer-Landrut gab. Ein bisschen Pling-Pling, ein bisschen Summ-Summ und ganz viel ‘Na na na’… nett und harmlos, so wie die Schweiz eben. Um die Geduld der Zuschauenden nicht überzustrapazieren, durfte Anna entgegen aller üblichen Gepflogenheiten nach der Bekanntgabe ihres Sieges das Lied nicht noch einmal singen.
Anna-Lena Meyer-Landrossinelli im Schweizer Vorentscheid.
Und wie das immer so ist: je öder der Beitrag, desto mehr Versionen davon existieren. Zunächst stellte die gelernte Behindertenbetreuerin und zeitweilige Betreiberin eines Freibadkiosks bei der SwissAward-Gala am 8. Januar 2011 eine geringfügig überarbeitete, neue Fassung vor. Und mittlerweile existiert auch ein offizieller, angeblich nochmals musikalisch aufgepimpter Videoclip. Ich höre ehrlich gesagt keine Unterschiede: klingt für mich alles gleich langweilig! Zu allem Ärgernis ging die Schweizer Sicherheitsstrategie, sich so weit wie möglich am Vorjahressieger zu orientieren, in Düsseldorf sogar auf. Wenn auch nur in der Qualifikationsrunde, wo es Anna auf Rang 10 gerade so eben ins Finale schaffte. Um dann dort wieder das für die Eidgenossenschaft bislang so typische Ergebnis einzufahren, die rote Laterne nämlich. Für einen vermutlich einer Form des trotzigen Nationalstolzes geschuldeten Platz 3 in den heimischen Single-Charts und eine solide Popkarriere mit bislang fünf Erfolgsalben reichte es dennoch. An dem Format der Entscheidungsshow und der damit verbundenen Unverhältnismäßigkeit von Aufwand und Ertrag sollte das Schweizer Fernsehen noch acht weitere Jahre festhalten.
Die offizielle Videoversion im finalen Eurovisionsremix.
Vorentscheid CH 2011
Die große Entscheidungsshow. Samstag, 11. Dezember 2010, aus der Bodensee-Arena in Kreuzlingen. Zwölf Teilnehmer:innen. Moderation: Sven Epiney. Televoting.# | Interpreten | Songtitel | Televote | Platz |
---|---|---|---|---|
01 | Polly Duster | Up to you | 04,36% | 08 |
02 | Duke | Waiting for ya | 02,66% | 11 |
03 | Andrina | Drop of Drizzle | 03,30% | 09 |
04 | Bernarda Brunović | Confidence | 13,36% | 02 |
05 | Anna Rossellini | In Love for a While | 23,93% | 01 |
06 | Aliose | Sur les Pavés | 06,49% | 07 |
07 | Dominique Borriello | Il Ritmo dentro di noi | 02,33% | 12 |
08 | Scilla | Barbie Doll | 02,88% | 10 |
09 | CH | Gib nid uf | 11,73% | 04 |
10 | Ilira + The Colors | Home | 13,05% | 03 |
11 | Sarah Burgess | Just me | 07,70% | 06 |
12 | The Glue | Come what may | 08,21% | 05 |
Letzte Aktualisierung: 30.05.2023
< Concours Eurovision 2004
Die große Entscheidungsshow 2012 >
DEN Beitrag, der vielleicht was hätte reißen können (wenigstens mal die Finalteilnahme) wollten die lieben Nachbarn ja gar nicht erst im Finale haben. Schön, ich bin auch dafür, das zu wählen, was einem persönlich am besten gefällt und nicht das, wovon man glaubt, dass die anderen es am meisten mögen könnten. Aber hinterher darf man sich dann halt auch nicht beklagen. Ein weiteres Halbfinal-Aus für die Schweizer ist anzunehmen.
‘DEN Beitrag, der vielleicht was hätte reißen können (wenigstens mal die Finalteilnahme) wollten die lieben Nachbarn ja gar nicht erst im Finale haben.’ Ja, leider. Armer Fred Weston. 😆
Och joh Ich finde die Nummer gar nicht mal so schlecht. Ich würde zumindest nicht umschalten, wenn das im Radio läuft. Ob das aber für nen Finaleinzug langt? Ich glaub es auch nicht.
Joah, öhm… nett. Und wir wissen ja, wie die große Schwester von nett heißt…
😆
Ich weiß echt nicht was alle an der überdrehten Amitusnelda da hatten. Das war mir zu künstlich, diese ganze Liebe zu der Schweiz. In Wirklichkeit hat sie bestimmt vor dem Wettbewerb, gar nicht gewußt wo die Schweiz liegt, geschweige denn was der ESC ist. Ich finde das Siegerlied mal gar nicht so schlecht, macht leidlich Laune und gut gesungen hat sie auch. Solche Nummern kann man schlecht einschätzen. Dem Belgier hat man letztes Jahr ja auch nicht zugetraut das er das Finale erreicht, und dann ist er immerhin 6. geworden. Warum sollte das der Rossinelli nicht auch gelingen? Die anderen Lieder müssen erstmal besser sein.
Schön übrigens, dass Fred Weston in dem obigen Artikel eine Erwähnung erhält… 😀 Unfassbarer Hochzeitssänger 😆 Ich hab’ nicht allen der über 500 Anmeldungen gelauscht bzw. sie mir angeschaut, aber keiner wusste mich so zu erheitern wie Fred Weston 😀 Und mit Fräkmündt wäre das Überstehen der Semis denkbar gewesen – finde ich wenigstens… 🙁
SwitzerlandI .…das Gewinnerlied der guten Anna ist in der Tat – wie die Schweiz – blass und sehr langweilig. Substanzlosigkeit wird durch NANANA-Parts überdeckt, ein alter Trick. So wirklich grottig ist das alles nicht, aber eben unspektakulär und berechenbar – bei starker Konkurrenz wird es also schwer, das Finale zu erreichen.
Burgess B*tch! .…kurz zur Burgess (Börgjes)- das war echt große Comedy: damit meine ich nicht ihren schiefen, kreischigen ‘Gesang’ oder das peinliche ‘Kleid’, sondern ihre kurze Vorstellung im Bewerberclip! Sie hat angeblich in 6 Monaten 120 (!) schweizer Schulen besucht (alle ohne Abschluss?) und bringt – als Mutter Teresa des Bitch-Pop – armen europäischen Kindern englisch bei. Natürlich sind das auch alles ihre Freunde UND den ersten Song schrieb sie ( 😆 ) auch in der Schweiz. So viel Müll und schamlose Volksverdummung gab es selten. Dabei ist sie doch schon seit Jahren als diese Dame in Deutschland unterwegs – der IQ und wikileaks haben sie verraten 😛 http://www.youtube.com/watch?v=aeGkWlix_BM
Na, wird langsam Zeit, dass auch ich in die diesjährige Saison einsteige 😉 …wobei ich das ja schon gemacht hab, als ich den Stream der Schweizer Vorentscheidung verfolgt habe. Bei der Burgess ist mir noch in Erinnerung, dass sie im Vorstellungsfilmchen damit reüssiert hat, bei American Idol unter die Top 30 gekommen zu sein. Super, wenn das nicht DIE Qualifikation ist, weiß ich auch nicht. Immerhin: Aus dem Liedchen hätte mit am ehesten der Schweizer Beitrag werden können, vorausgesetzt, man hätte noch ordentlich reininvestiert. Zuerst mal in Sarahs Stimme, denn die war nur für Francine Jordis Ohren Hammer. Aber Zeit genug wäre durch den frühen Vorentscheidungstermin für Gesangsunterricht noch gewesen. Und investieren hätte man noch in die Show müssen – damit die nicht nur aus Versatzstücken besteht. Aber darüber muss man sich nun ja keine Gedanken mehr machen. Was ist hängengeblieben vom Schweizer Vorentscheid? Eine Party-Band, die keinen Spaß verbreitet, deren Namen das einzig Lustige ist. Ein Italiener ohne Leidenschaft, der in Buchhaltermanier auf der Gitarre schrammelte, somit das vernichtendste Urteil des Abends bekam, er müsse noch an seiner Show feilen (aber nur ein bisschen, gell?). Ein Rapper, der ganz Genre-typisch hinter einer Wand verschwand, um sich umzuziehen – und keiner hat was davon bemerkt. ‘Die Zukunft der Schweizer Popmusik’, die man dazu beglückwünschen kann, eine Lehrstelle im Reisebüro bekommen zu haben – Papa und Mama haben doch recht, dass man besser was Solides lernen soll. Ach ja, es gab ja auch noch einen Sieger… Positiv ist, dass das Liedchen so dermaßen einfach gestrickt ist, dass man sich lange dran erinnern kann – weil man die von so vielem anderen her eh als Dauerschleife im Kopf hat. Jetzt muss man dran feilen, das herauszuarbeiten, was es aus der Masse heraushebt. Wenn es überhaupt was herauszuarbeiten gibt. Was ich momentan bezweifle. Ich würde es den Schweizern gönnen, denn ich habe dort Freunde. Und die sind gar nicht blass und langweilig.
Oh, Vorsicht. Sowas klappt entweder zu 100 Prozent oder überhaupt nicht – und wenn es im Vorentscheid schon so übel abraucht, wäre daraus höchstwahrscheinlich nichts geworden. Mittelaltermusik, besonders in dieser Form, ist ein sehr spezielles Phänomen des deutschsprachigen Raums. Ja, das gibt es auch woanders, aber es ist da längst nicht so verbreitet. Hätte ich aber auch lustig gefunden. Es gibt ja nicht mehr allzu viele Musikstile, die beim ESC noch nicht zu hören waren…
ganz schöner Griff ins Kloo, wie? Nein, nicht eure Anna. Dein selbstherrlicher Musikverstand. Ich sag mal so: was Du schreibst ist Trash. Hört sich eigentlich zu gut an: Müll – gequirrlte Ka*cke ist besser. Eure Anna, die wir gerne eindeutschen, hat sich qualifiziert. Ich Wette, sie landet am Ende unter die TopTen.
Dazu muss man nicht mehr viel sagen, oder? Mehr Glück nächstes Jahr. 😀