Eine durchaus stolze Zahl: in diesem Jahr beging das das Festivali i Këngës (FiK) sein fünfzigstes Jubiläum. Und wie es das Schicksal wollte, sollte es Albaniens besten (und bestplatzierten) Eurovisionsbeitrag hervorbringen. Der Sender RTSH beging das festliche Ereignis, in dem er zwischen die beiden üblichen Semis mit ihren jeweils 14 Kombattant:innen und das diesmal auf einem Donnerstag liegenden Finale eine nostalgiesatte Galashow einschob, in denen die größten Klassiker aus der Festivalgeschichte nochmals zur Aufführung gelangten. Und zwar nicht als popelige Sechs-Songs-in-drei-Minuten-Potpourris wie beim vergleichbaren deutschen Vorentscheid von 2006, sondern in ihrer vollen Länge. Gekürzte Fassungen gab es hingegen während der Wertungsphase im Finale, wo man der Funktion des Liederwettbewerbs als Eurovisionsvorentscheid seit 2004 gedachte und alle seitherigen skipetarischen Grand-Prix-Vertreter:innen mit Ausnahme des durch Abwesenheit glänzenden Luiz Ejlli (war da einer zickig oder gab es einen Gagenstreit?) über die Bühne scheuchte. Was den vermutlich nicht eingeplanten Nebeneffekt hatte, die vergleichsweise doch eher enttäuschende musikalische Qualität der 20 durch Juryentscheid in die Endrunde gelangten, aktuellen Beiträge augenfällig zu betonen.
Und zum Schluss noch eine kleine Ansprache an die Nation: Gruftrocker Bojken Lako in Begleitung der bulgarischen Elvira von 2009.
Was, wenn Sie mitgerechnet haben, bedeutete, dass eben jene Jury sich in den beiden Qualifikationsrunden der harten Aufgabe gestellt hatte, jeweils ganze vier von 14 Liedern zu eliminieren. Opfer dieses Verfahrens wurde im zweiten Semi ausgerechnet ein selbst im dritten FiK-Anlauf noch immer verschüchtert wirkendes, blutjunges Ding mit dem großartigen Namen Goldi Halili und einem halbgaren Discosong mit dem Titel ‘Rroj për Dashurinë’ (‘Ich lebe für die Liebe’), der an seinen besten Stellen ganz entfernt an das epochale Italo-Disco-Meisterwerk ‘Like a Yo Yo’ von Sabrina Salerno erinnerte. Schade drum! Die gestrige Sendung gab indes Aufschluss über eine drängende Frage, die sicherlich jede:n meiner Leser:innen schon seit langem beschäftigt: was wurde bloß aus Nu Pagadi? Die 2005 nach nur zwei Single-Veröffentlichungen rasch wieder aufgelöste deutsche Popstars-Retortenband tauchte beim FiK überraschend unter dem Namen Bojken Lako auf, wo sie mit dem finster dahingemurmelten, von mehreren Tempiwechseln durchzogenen Gothicsong ‘Të zakonshëm’ (‘Ordinär’) für etwas satanische Düsterkeit sorgte. Ich bin überzeugt: spielt man die Nummer rückwärts ab, kommt sicher so etwas wie ‘Vampires are alive’ heraus!
Ja, natürlich ist es ‘Personale’, wenn er dich nicht in den Club lässt: Dr. Flori.
Ebenfalls finster und hochdramatisch der Auftritt des damals tatsächlich erst Anfang Dreißigjährigen albanischen Gangsterrappers Florian Kondi alias Dr. Flori († 2014), der sein optisches, deutlich höher liegendes Alter tragischerweise niemals erreichen sollte. Er wusste neben der Dringlichkeit seines Vortrags, bei dem es offensichtlich um etwas sehr Persönliches gehen musste, auch durch eindrucksvoll präsentiertes Brusthaar und die Statur eines erfolgreichen Schutzgeldeintreibers zu überzeugen. Ein Fest für die Augen auch Saimir Braho, der sich mit einer Neubearbeitung des Weihnachtsklassikers ‘Little Drummer Boy’ namens ‘Ajër’ (‘Luft’) als Little Drummer Bear positionierte und damit meine persönlichen Douze Points einsammelte. Im Kongresspalast reichte es immerhin noch für 50 “Pik” (Punkte) und eine Bronzemedaille. Was um so mehr Anerkennung verdient, da die Gaben diesmal deutlich spärlicher flossen als sonst und man fast die Hälfte des Feldes mit Nul Points nach Hause schickte. Darunter auch den ehemaligen Eurovisionsvertreter Frederik Ndoci, der als früherer dreifacher FiK-Gewinner jeweils einen Auftritt sowohl in der 50-Jahres-Gala als auch im ESC-Potpourri hatte, nur um dann im aktuellen Wettbewerb auf ganzer Linie zu scheitern: demütigender hätte es für ihn wohl nicht laufen können.
“Das Morgen bringt nur hoffnungslose Hoffnung und Torheit”: die seherische Rona beschreibt die Zukunft in der Klimaapokalypse sehr präzise.
Um so besser lief es für Rona Nishliu, die klare Fan-Favoritin des ersten Semis (welches ich leider verpasste), mit dem hochdramatischen ‘Suus’. Ihre dortige Darbietung irritierte zwar zunächst aufgrund des optisch-akustischen Crashs von offen getragener, verfilzter Goafestival-Rastafrisur und geigenumschmeicheltem Hochleistungsgekreische. Und über ihren Bühnenfummel hätte wohl selbst Barbara Dex die Nase gerümpft. Andererseits jodelte Rona mit einer Eindringlichkeit, als ginge es um Leben und Tod – und auf sowas steh ich ja! Im Finale arrangierte sie ihre dicken Zöpfe dann zu einem beeindruckenden, medusenhaften Dutt, der für sich alleine genommen schon des Sieges würdig gewesen wäre. Da fiel ihr Outfit, ein katastrophal geschnittener Krokodillederblouson, der stellenweise den Eindruck erzeugte, ein Alligator verspeise gerade die Sängerin, gar nicht mehr so ins Gewicht. Denn obschon ‘Suus’ zwar nur in leisesten Spurenelementen über so etwas wie eine Melodie verfügte, von einem wahrnehmbaren Refrain erst gar nicht zu reden, beeindruckte die Fünftplatzierte von Albanien sucht den Superstar 2004 mit einer absolut präzisen Vokalakrobatik, die an die besten Momente polnischer Eurovisionskunst der Neunziger heranreichte.
Narrenhände beschmieren Tisch und Wände: der alptraumhafte Videoclip mit der verdichteten Drei-Minuten-Fassung.
Und so konnte die seinerzeit 24jährige gebürtige Kosovarin mit ihrer tiefschwarzen Ballade über die durch das Trinken von viel zu heißem Gewürztee verursachten Schmerzen die Juror:innen überzeugen und gleich fünf Höchstwertungen einsammeln. Wobei es erneut zu lustigen Momenten bei der Ergebnisermittlung kam, als die überforderte Hilfskraft mit dem zeitnahen Eingeben der stakkatoartig schnell vorgelesenen “Pik” in das eingeblendete Excel-Sheet nicht hinterherkam, was zu deutlichem Murren im Publikum führte. Für Baku musste Rona ihren im Original fast viereinhalb Minuten langen, dankenswerterweise in Landessprache belassenen Song natürlich auf die eurovisionskonformen 180 Sekunden amputieren. Für das im März 2012 veröffentlichte Präsentationsvideo hatte sich die Ärmste augenscheinlich mit der Albanermafia angelegt und wartete darin, bereits mit einem entsprechenden betonfüßigen Beinkleid präpariert, in einer bis auf zwei retardierte Kinder leeren Lagerhalle auf ihren Abtransport in den nächstgelegenen Fluss. Ihr flehendes, ja verzweifeltes Rufen nach einem “Tschai” als Schierlingsbecher verhallte ungehört; noch nicht einmal die beiden imbezilen Schrazen, die Ronas Immobilität zum straffreien Beschmieren der Wände nutzten, machten Anstalten, sie mit dem begehrten Heißgetränk zu versorgen. Obwohl doch sogar schon ein improvisiertes Stövchen zum Erhitzen parat stand. Welch rüdes Benehmen!
Die Quintessenz albanischen Eurovisionsschaffens: die unter der Last des Lebens zusammenbrechende und aufschreiende Frau, niemals zuvor und hernach so anrührend und kompetent dargeboten wie hier.
Musikalisch litt Ronas Werk unter der Herausnahme eines Refrains und eines Teils der Brücke zwar deutlich weniger als befürchtet. Dennoch schade um die leider unvermeidliche Kürzung, für welche sie alle eigens eingebauten etwas leiseren Stellen opfern musste, in denen sowohl sie als auch die Zuhörer:innen zuvor mal kurz durchatmen konnten. Trotz dieser extrem herausfordernden Arbeitsverdichtung absolvierte Rona, die sich neben ihrer musikalischen Karriere als Pop- und Jazzinterpretin auch dem Kampf gegen misogyne Gewalt widmet, ihre beiden Liveaufritte meisterlich und erzielte mit Rang 2 im Semi (welches das albanische Fernsehen wegen eines am gleichen Tag stattgefundenen, tragischen Busunglücks mit 13 Toten um zwei Stunden zeitversetzt zeigte) und Platz 5 im Finale ein herausragendes, wenngleich deutlich unterbewertetes Ergebnis.
Nur das Herz spricht: Ronas Beitrag zur UN-Kampagne “Bleib cool, schlag nicht zu” (Repertoirebeispiel).
Was sagst Du zum albanischen Beitrag?
- Ganz große Eurovisionskunst! (35%, 30 Votes)
- Entsetzliches Geschreie! (34%, 29 Votes)
- Tolle Stimme, aber wo ist das Lied? (20%, 17 Votes)
- Noch nix. Erst mal den Remix abwarten. (12%, 10 Votes)
Total Voters: 86
Vorentscheid AL 2012
Festivali i Këngës 50. Donnerstag, 29. Dezember 2011, aus dem Kongresspalast in Tirana, Albanien. 20 Teilnehmer:innen. Moderation: Enkeleida Zeko, Hygerta Seko, Nik Xhelliaj.# | Interpreten | Songtitel | Jury | Platz |
---|---|---|---|---|
01 | Bojken Lako + Breza | Të Zakonshëm | 018 | 10 |
02 | Saimir Braho | Ajër | 050 | 03 |
03 | Marjeta Billo | Vlen sa një Jetë | 000 | 14 |
04 | Hersi Matmuja | Aty ku më le | 000 | 14 |
05 | Xhensila Myrtezaj | Lulet Mbledh për Hënën | 008 | 13 |
06 | Toni Mehmetaj | Ëndrra e parë | 010 | 12 |
07 | Iris Hoxha | Pa ty… asnjë Sekond | 019 | 09 |
08 | Gerta Mahmutaj | Pyete Zemrën | 000 | 14 |
09 | Bashkim Alibali | Këngën time merr me vehte | 000 | 14 |
10 | Altin Goci | Kthehem prapë | 038 | 05 |
11 | Elton Deda | Kristal | 055 | 02 |
12 | Endri + Stefi Prifti | Mbi çdo Iluzion | 025 | 06 |
13 | Rona Nishliu | Suus | 077 | 01 |
14 | Kamela Islamaj | Mbi Yje | 025 | 06 |
15 | Frederik Ndoci | Oh… Jeta ime | 000 | 14 |
16 | Mariza Ikonomi | Më lër të të dua | 013 | 11 |
17 | Elhaida Dani | Mijëra Vjet | 000 | 14 |
18 | Rudina Delia | Më kërko | 000 | 14 |
19 | Samanta Karavella | Zgjomë një tjetër ëndërr | 047 | 04 |
20 | Dr. Flori | Personale | 021 | 08 |
Letzte Aktualisierung: 07.09.2022
Das einzige Lied des Abends hat gewonnen. Danke!
Mein Favorit war der Chanson “Lulet Mbledh Per Henen”; mit dem dramatischeren “Suus” hat die Jury aber dennoch eine sehr gute Wahl getroffen. Meine strikte Bitte nun, den Beitrag so nach Baku zu schicken wie er gewählt wurde: d.h. keinen billigen Pop-Remix, keine Umdichtung ins Englische, keine Anbiederung an Jurys mit Allerweltskitsch und eine maßvolle Kürzung auf drei Minuten.
Ein schöner Start in die ESC-Saison. 🙂
Das Geschrei ist einfach unerträglich, was hat die Jury sich dabei nur gedacht. Das wird wieder nix mit dem Finale.
Ich glaube noch nicht mal, dass das überhaupt keine Siegchancen hat. Für die paar west- und nordeuropäischen Länder ist das zwar überhaupt nix, aber der Rest Europas und bestimmt auch die eine oder andere Jury werden davon angetan sein.
Und in der Tat, es ist zwar überhaupt nicht meine Musik, aber trotzdem hat es was.
Da bleibt wirklich nur abzuwarten wie sich das in der finalen ESC-Version anhört. Ich finde es in dieser Version gar nicht verkehrt…
Aua. Nein danke, so bitte gar nicht. Wie ich im Zusammenhang mit der Musikrichtung Metalcore gerne mal anmerke: ich bezahle doch kein Geld dafür, mich drei Minuten lang anschreien zu lassen. Meine Nummer 42 dieses Jahrgangs.
Oh mein Gott! Was hat die Ärmste denn bloß gegessen, das solche Schmerzen verursacht? Oder hatte sie eine Nierenkolik? Hatten die keinen Arzt da? Das kann man ja nicht mit ansehen (und ‑hören schon mal gar nicht).
Ooops, war natürlich keine Antwort auf Ospero. Tschuldigung.