Das hatte man sich wohl anders vorgestellt in Baku: da gibt das Aliyew-Régime schon rapportierte hunderte Millionen Euro aus, um sich mit einer glanzvollen Eurovisionsveranstaltung international in Szene zu setzen. Und dann bestimmen stattdessen Berichte über Menschenrechtsverletzungen und die Unterdrückung der Opposition die öffentliche Wahrnehmung, mehren sich sogar die Stimmen, die einen künftigen Ausschluß des Landes vom Eurovision Song Contest fordern. Und wem gibt man im Präsidentenpalast die Schuld am fehlgeschlagenen PR-Coup? Natürlich dem Westen – und der bösen Opposition, die man scheinbar noch nicht erfolgreich genug unterdrückt hat! Ali Hasanov, dem Chefideologen der Aliyew-Administration, platzte vor wenigen Tagen auf einer Konferenz der Kragen: “Ihr wollt uns belehren und seid doch nicht unseren kleinen Finger wert,” sagte er, an die Adresse des kritischen Westens gerichtet.
Der Opposition im Lande, die sich von der mit dem Eurovision Song Contest verbundenen öffentlichen Aufmerksamkeit eigentlich eine Verbesserung der Situation im Lande erhofft hatte, drohte er unverhohlen: “Diese Typen (…) sollten sich besser nicht nach draußen trauen! Ich fordere Euch nicht auf, sie zu attackieren, aber zeigt ihnen offen Euren Hass, so dass sie ausländischen Journalisten nicht mehr die Risse im Asphalt in einigen Gegenden zeigen, sondern die Flüchtlingscamps”, womit er sich wohl auf den Karabachkonflikt und aserbaidschanische Vertriebene bezog. Wie absurd wichtig es dem Régime schien, eine perfekt glattpolierte Hülle zu präsentieren, illustrierten Berichte aus Baku über Drehverbote auf Baustellen und die Farce um die von Brainpool bereits produzierten Postcards (die Clips zwischen den Beiträgen), die den Aseris nicht werbewirksam genug waren, so dass sie schnell noch selbst ein paar ironiefreie Hochglanzfilmchen drehten. Scheint, als würde sich die Lage erst mal nicht bessern – aber das war nach den Massenverhaftungen in Baku selbst während der Eurovisionswoche auch kaum zu erwarten.
Pompös: die Tourismuswerbeclips
Die EBU beeilte sich indessen, im Hinblick auf die von den skandinavischen Ländern angeschobene Diskussion um den künftigen Umgang mit von undemokratisch regierten Ländern darauf hinzuweisen, dass es auch künftig keine Ausschlüsse von Mitgliedsländern vom Eurovision Song Contest geben werde. Zwar bereite man derzeit eine Resolution vor, mit der sich die an der EBU beteiligten Sender auf gemeinsam geltende Grundwerte verpflichten sollen. Dies habe aber “derzeit keine Konsequenzen für Mitglieder, die sich noch nicht an diese Werte halten,” wie die Pressesprecherin der Organisation, Karen Mazzoli, verlautbarte. Es bleibt also alles beim alten in Genf: ganz nach dem Motto “Papier ist geduldig” formuliert man ein paar hübsche, werbewirksame Werteclaims, mit denen man sich nach außen als fortschrittliche, freiheitsliebende Institution darstellen kann – schreckt aber vor möglichen Konsequenzen, die ein praktisches Durchsetzen dieser Grundwerte mit sich brächte, weiterhin zurück. Denn damit würde der Contest ja politisch, und da unterstützt man lieber Diktaturen, als das zuzulassen. Vielleicht sollte Herr Hasanov seinen Haß in Richtung der EBU richten, da wäre er womöglich angebracht.
Da hofft man ja fast schon, dass Weißrussland nächstes Jahr gewinnt und dass der ESC 2014 in Minsk stattfindet. Mal schauen, wie sich dort dann alle Beteiligten verhalten, wenn sich halb Europa zurückzieht (Deutschland wäre in Minsk nicht beteiligt).
Besonders auf die EBU (“Der ESC ist unpolitisch”) wäre ich da sehr gespannt. Mal schauen, wie lange sie noch vor den Regimen Europas kuschen wird.
Es kommt immer darauf an, mit welcher Erwartungshaltung ein Land, unabhängig seiner Rechtsform, besucht wird. Von Aserbaidschan habe ich viel erwartet und letzendlich hat es mich auch begeistert. Bin ich deshalb ein Egoist? Erwartet man von einem ESC-Touri politische Grundsätze. Ich denke – Nö Warum sollte die EBU auch politisch tätig werden? Die EBU hat eine wesentliche zentrale Aufgabenstellung. Eurovisionsübertragungen zu fördern, zu unterstützen und – wenn man so will – Einschaltquoten in den Mitgliedsländer zu “garantieren”. Nicht mehr – nicht weniger!
” If you are neutral in situations of injustice, you have chosen the side of the oppressor.
If an elephant has its foot on the tail of a mouse and you say that you
are neutral, the mouse will not appreciate your neutrality.” – Desmond Tutu
Das Problem dabei, sich als “politisch neutral” zu gebärden, ist nun mal, dass man sich dadurch effektiv mit der stärkeren Seite gemein macht, und das ist in solchen Fällen die Regierung. Natürlich erwartet niemand von ESC-Touris politische Grundsätze, aber bei der EBU als Organisation sieht das doch schon etwas anders aus. Wer zur Propaganda, die das Aliyev-Régime fraglos um den Wettbewerb herumgestrickt hat, nichts sagt…siehe oben.
Was wirfst Du eigentlich der EBU konkrekt vor? Sich zu Demonstrationen äussern? Das Häusser geschliffen wurden? Sorry, ich kann hier absolut keinen Verantwortungsbereich für die EBU erkennen. Ich lass mir noch gerade den Fall im Euro Club einreden. OK, hier hat ein kleiner Azeri-Beamter überreagiert und Sietste hat nicht besonders geschickt argumentiert. Fakt ist doch, dass seitens der Regierung der EBU Garantien und Erleichterungen versprochen wurden, die bis in das kleinste Detail eingehalten wurden. Und ich halte auch nicht die Opposition für so naiv, zu Glauben, der ESC bringt jetzt die Wende.
Vergleiche doch bitte auch den ESC aus Baku mit zB dem ESC in Moskau. Für mich persönlich ebenso ein autoritär geführtes Régime. Verhaftungen gegenüber ESC-Besucher – Das ist doch ein Zusammenhang. Aber nein, ist klar, gegen Russia darf man sich auch nicht aufregen, da muss schon AZE hinhalten.
Warum werden mir hier Dinge in den Mund gelegt? Natürlich ist Russland nicht viel besser als Aserbaidschan, und ich fand die Katzbuckelei der EBU vor den Russen 2009 exakt genauso unerträglich wie das, was die Aseris dieses Jahr veranstaltet haben (wenigstens waren die Armenier im Gegensatz zu Georgien damals so intelligent, die Sache nicht noch weiter anzuheizen – Gelegenheit hätten sie bestimmt gehabt). Dein letzter Satz ist an Sinnlosigkeit demnach kaum noch zu überbieten. Welchen Grund unterstellst du mir, gegen Aserbaidschan im Speziellen zu hetzen?
Die EBU schreibt sich ganz groß Pressefreiheit und alles mögliche auf die Fahnen, aber wenn es dann an konkrete Fälle geht, die vielleicht nur zu fünfzig Prozent mit der Veranstaltung direkt zu tun haben, knickt sie regelmäßig ein. Natürlich betrifft es die EBU, wenn für eine unter ihrer Schirmherrschaft stattfindende Veranstaltung Leute verjagt und Häuser abgerissen werden, denn es wird so oder so auf sie zurückfallen. Anstatt Schadensbegrenzung zu betreiben und sich wenigstens ein bisschen von den Aliyevs zu distanzieren, hält die EBU schön brav den Mund und lässt alles laufen. Deshalb das Tutu-Zitat – oder wie der Lateiner sagt, “Qui tacuit, consentire videtur” (Wer schweigt, scheint zuzustimmen). Damit steht sie nicht allein da – was das IOC 2008 in Peking veranstaltet hat, lässt Baku 2012 harmlos aussehen -, aber darf man deswegen nicht kritisch werden?
Ich fürchte, wir kommen hier zu diesem Thema auf keinen gemeinsamen Nenner. Die EBU, genauer die EBU-UER ist ein Zusammenschluss aus verschiedenen TV-Anstalten Europas und Teilen Afrikas und Asiens, ohne politischen Hintergrund. Wirf auch vielleicht einen Blick auf die obere Abstimmungstabelle. Spiegelt diese nicht auch zwei Seiten wieder? Wir, als Produzenten, Teilnehmer, Delegierte und Besucher haben in diesem Land absolut keine Probleme mit der Regierung und den Bewohnern gehabt. Bewegungs- und Pressefreiheit, die in unserem Bereich gelegen sind, waren voll gewährleistet. Weder möchte ich eine Maus noch ein Elefant sein, und Nein, ich kann auch gegenüber dem von mir sehr geschätzten Tutu nicht meine vollste Zustimmung geben und immer zu allem und überall aufzeigen und Meinung beziehen. Wozu auch? Dafür gibt es bekanntlich andere Vertretungen. Kritik, ja warum nicht? Aber vollkommen sinnlos von Dir, die EBU dafür moralisch haftbar machen zu wollen.
Moment…weil ich mich nicht zu allem äußern kann, soll ich mich gar nicht äußern? Das ist ein so verbreiteter Logikfehler, dass er sogar einen eigenen Namen hat – binäres Denken oder Nirvana-Fehler.
Aber ich stimme dem vollkommen zu, diese Debatte ist offenkundig sinnlos. Wenigstens haben wir es vermieden, Godwin erneut zu beweisen.
Hat echt keinen Sinn mehr, Deine Logik im Umkehreffekt: Rund 14.700 Personen aus Nicht-Aserbaidschan die direkt oder indirekt mit dem ESC 2012 in Baku in Verbindung standen haben also ein binäres Denken. Naja, wenn Du meinst.
Nein, haben sie nicht. Lern vielleicht ein bisschen mehr über Logik, bevor du mir solche Vorwürfe machst. Du hast binär argumentiert – weil ich nicht zu allem etwas sagen kann, soll ich gar nichts sagen. Das ist der Nirvana-Fehler, sonst nichts. Ich zwinge keine Einzelperson, etwas zu sagen, aber die EBU als Institution muss sich Kritik diesbezüglich nun mal gefallen lassen, weil ihre hehren Ziele sich nicht wirklich mit dem vereinbaren lassen, was da damals in Baku gelaufen ist (ebenso wie in Moskau). Das IOC hat sich solcher Kritik auch jedesmal zu erwehren, wenn in fragwürdigen Ländern olympische Spiele stattfinden (das wird 2014 bestimmt wieder lustig).
Nebenbei möchte ich doch in Zweifel ziehen, ob alle 14.700 nicht-aserbaidschanischen ESC-Helfer sich in keinster Weise politisch geäußert haben. Das kann keiner von uns beiden wissen, aber ich halte es rein statistisch für enorm unwahrscheinlich.