Auch für den Eurovision Song Contest 2013 standen die Pforten des in Trashdingen stets führenden Internet-Eurovisionsportals des schweizerischen Fernsehens pünktlich zum offiziellen Beginn der neuen Vorentscheidungssaison am dem 1. September 2012 wieder sperrangelweit offen. Und die Sichtung der dort hochgeladenen Vorschläge barg natürlich aufs Neuerliche wieder ungeahnte – wenngleich chancenlose – Kultschätze! Einen thematisch zum Austragungsland Schweden passenden Beitrag hatte beispielsweise der bereits vom Vorjahr bekannte Männerchor Steili Kressä vorbereitet: ‘Sultan Hagavik’ besteht aus einer zu handgetrommelten Percussions acapella gesungenen Aufzählung von Produktnamen aus dem Katalog eines sehr bekannten gelbblauen Möbelhauses. Und auch das Video entstand vor und in der örtlichen IKEA-Filiale. Nachdem allerdings bereits der sanmarinesische Grand-Prix-Vorschlag ‘Facebook, uh-oh’ an den Schleichwerbungsverhinderungsvorschriften der EBU scheiterte, war das Schicksal der kernigen Chorburschen besiegelt. Leider, denn ginge es nach mir, so hätten wir den schweizerischen Beitrag 2013 bereits an dieser Stelle gefunden!
Ich krieg einen Arne: Steili Kressäs Hommage ans Schwedenmöbel
Daneben gab es erneut fabelhafte Amateurwerke wie ‘Have you ever touched a Rainbow’ von Abacay, in dem zwei junge eidgenössische Lesben (schließe ich mal aufgrund des Holzfällerhemdes und des fehlenden Make-ups) wie besoffen durch malerische Weinberge und pittoreske schweizerische Bergdörfer torkelten und zum billigen Eurodancebeat trotz massivsten Vocodereinsatzes ohrenbetäubend schief jaulten. Oder das von John Hänni, dem helvetischen Roger Cicero, der vor idyllischer Bergwiesenkulisse feststellt: ‘I can’t shut up’. Zum Leidwesen des Zuhörers, wie man ergänzen muss, denn seine von einem knorzigen Dudelsackspieler in Landestracht begleitete Weise erweist sich als schnelleinschläfernd. Schuhausziehend auch ‘Oh no, mi Corazón’, ein eigentlich akzeptabler Dancetrack von United Passion, der jedoch von den zwei wohl unfähigsten Deppenrappern aller Zeiten zuschande gerichtet wurde. Wegen der hohen Kosten der für den Videodreh gemieteten oberpeinlichen Stretchlimousine war dann auch kein Geld mehr für eine professionelle Kamera vorhanden, so dass der Clip offensichtlich mit dem Handy aufgenommen werden musste.
So geht lustiges Landlesbentum: Abacay.
Ein kurzes Gastspiel gab der dreimalige zypriotische Grand-Prix-Vertreter Constantinos Christoforou, der zunächst den unglaublich billigen Dance-Song ‘I still remember’ einreichte, diesen dann aber einen Tag vor dem Anmeldeschluss wieder zurückzog. Einen weiteren Kultknaller lieferte der bezaubernde Mauro Tiberi, der mit dicken Kopfhörern auf den Ohren sympathisch verpeilt durch die blitzsaubere Innenstadt von St. Gallen wanderte und nichtsahnende Passanten mit der Aufforderung: ‘Dance with me’ belästigte. Beziehungsweise: “Komm on änd denz wid me, dis is wat ei wont” – mit der englischen Aussprache hatte er es nicht so. Aber das kannten wir ja schon von SinPlus (“Swiem agänst se strimm”). Und dann gab es noch einen – verständlicherweise – maskierten Falco-Wiedergänger namens Enimo, dessen Präsentationsclip zum unfasslichen, mehrsprachigen Bontempi-Opus ‘E lau che drue’ offensichtlich von einem farbenblinden Vierjährigen mittels Windows Movie Maker zusammengestoppelt wurde.
Schön: Mauro findet trotz Sprachbehinderung die Liebe seines Lebens
Neben einem tatsächlich hörbaren, beim schnarchnasigen Alpenpublikum aber völlig chancenlosen Rocksong namens ‘Russian Roulette’ der Allmendinger Schülerkappelle Grey Monday und einer putzigen, Bontempisound-und-Walzertakt-begleiteten “Na na na”-Melodei namens ‘There is one Boy named Ilya’ stachen zwei weitere Nummern besonders heraus: da war zum einen der für seine preisgekrönten Parodien bekannte deutsche TV-Komiker Oliver Kalkofe, der sich unter dem besonders listigen Tarnnamen Marcello Alexander eingeschlichen hatte und die unfassliche volkstümliche Schlagertravestie ‘Im Hotel Mama’ zum Besten gab. Natürlich stilecht vor malerischer Flusskulisse und begeistert schunkelndem Seniorenpublikum. Um die offensichtliche Täuschung etwas authentischer wirken zu lassen, richtete Kalkofe gar eine eigene Künstlerwebsite mit sensationellen Kultfotos der verschiedensten Stationen (Hotelbars, Gartenlokale, Möbelhauseröffnungen) der angeblichen langjährigen “Karriere” des mopsgesichtigen Andy-Borg-Schamhaarfrisurenträgers ein. Großartig!
Nur noch ein klitzekleines Minzblättchen: Oliver Kalkofe schaufelt sichs rein.
Um eine solche Sensation noch toppen zu können, bedurfte es natürlich eines Schweden in Stockholm lebenden Briten. Bei Ben Robertson und seiner so nachdenklichen wie hochdramatischen Ballade ‘Soldier in the Sky (don’t cry)’ kam einfach alles zusammen: ausgefeiltes Songschreibertum, eine begnadigte Stimme, ein tiefgehender Text, völlige Hingabe im Vortrag und eine verschwenderische Instrumentierung. Vom blendenden Aussehen des Interpreten, nach eigenen Angaben “Koordinator des Melodifestivalklubben in Stockholm” und, wie meine Wenigkeit, ehemaliger esctoday-Autor, mal ganz abgesehen. Clever wie Ben ist, drehte er eigens für die Schweiz sogar eines der dort so beliebten Künstler-vor-Naturkulisse-Videoclips, den ich aus humanitären Gründen hier nur verlinken, aber nicht einstellen kann. Welche unbezwingbare, süchtig machende Anziehungskraft der Grand Prix auch auf ehemalige Teilnehmer:innen ausübt, illustrierte nicht nur das Beispiel der einen erneuten Anlauf wagenden Legende Lys Assia, sondern auch die mittlerweile als Tanzlehrerin arbeitende Mariella Farré, die sich für das trashig zusammengekupferte ‘One of a Kind’ als knapp fünfzigjähriges Discohaserl verkleidet nochmals in den Sturm der Windmaschinen stellte.
Nur der Krabbentanz fehlt noch: die Mariella.
Uninspirierte Clubmucke hatte auch das schwedische Duo Man Meadow im Gepäck, das mit ‘How does it feel’ wohl noch nicht mal mehr in Polen, ihrem bisherigen Vorentscheidungsasyl, landen konnte. Wer die Autotune-Orgie anhört, versteht’s. Wohl dem gerontischen Vorbild von Frau Assia geschuldet war die Bewerbung der 61jährigen gebürtigen Belgierin Maria Christina van Hemelrijk, einer Art helvetischer Eartha Kitt, die allerdings weder über Sexappeal noch die Fähigkeit, einen Ton zu halten, verfügte. Von einem Song, der diese Bezeichnung verdient, ganz zu schweigen. Sie sei ‘No Dramaqueen’, teilte sie uns mit. Richtig: weder Drama, noch Queen. Sondern einfach nur stinknormal untalentiert. In eine ähnliche Kategorie fiel der CVP-Nationalratskandidat und Die größten Schweizer Talente-Teilnehmer Markus Müller, den man auf den ersten Blick für den Vater von ProSieben-Hofnarr Elton halten könnte. Bis er anfängt, zu singen. Dann hält man ihn für Satan persönlich. Was auch für den Münchener Motorradhelmhändler und volkstümlichen Schlagersänger Benjamin Grund gilt, dessen ‘My Heart wants to fly’ klang, als habe er eigenhändig den Pathos aus sämtlichen jemals von Ralph Siegel verfassten Eurovisionsballaden herausgesaugt und zu einer bombastischen Kitschnummer zusammengekleistert, die zudem mit einer der krudesten Rückungen aller Zeiten (im Video bei 2:14 Min.) aufwartete.
Was hat sie gegen DQ? Maria Christine.
Gordon Heuckeroth gehört nach eigener Einschätzung wohl zu den Propheten, die im eigenen Lande nichts zählen. Gordon wer, fragen Sie? Noch nie gehört? Also: der war Teil des schwulen Altherrentrios De Toppers, das 2009 in Moskau die Niederlande vertrat. Genau: “die Flippers auf Ecstasy”, wie Tim Frühling so schön kommentierte. Mit seinem aktuellen Projekt LA The Voices und dem Musicalschlager ‘Luchtkasteel’ bewarb er sich letztes Jahr zu Hause um das Eurovisionsticket, schaffte es aber erst gar nicht in die Endrunde. Daher beantragte Gordon nun Schlagerasyl in der gastfreundlichen Alpenrepublik und ließ, wie 12points.tv berichtete, die Niederländer:innen im Internet abstimmen, welcher von drei möglichen Titeln aus seinem neuen Album in der Schweiz an den Start gehen sollte. Gordon schwebte dabei eine Art doppelter musikalischer Staatsbürgerschaft vor: “wir hoffen auf eine Chance, die Schweiz zu vertreten – auf diese Weise haben die Niederlande gleich zwei Chancen, ins Finale zu kommen”, sagte er in der TV-Sendung RTL Boulevard. Das war so clever gedacht wie aussichtslos: denn auch wenn das Schweizer Fernsehen beim Vorentscheid notgedrungen wirklich jeden rein ließ – das eidgenössische Publikum votierte im krassen Gegensatz dazu stets streng völkisch und siebte alle nichtschweizerischen Acts gnadenlos aus.
De Toppers reloaded: ein schwuler Uptempokitschschlager der Sonderklasse.
Welche Abgründe hinter der biederen Fassade lauern, beweist uns ein Blick auf die aus dem Hardrockbereich stammenden Bewerber. Am harmlosesten ließen sich dabei noch die durchaus nett anzuschauenden Metalheads von Arcturon an, die in ‘An old Storm brewing’ lediglich röhrten, als gäb’s kein Morgen mehr. Deutlich verstörender wirkte schon die Band ist tot mit dem Gothic-Gegrummle ‘Du bist allein’. Zwar verstand man auch bei angestrengtem Hinhören kein einziges Wort (da folgten sie dem Contestvorbild Loreen), dafür machte der Videoclip mit Nebelkrähen, einsamen Waldwegen sowie einem hinter den Bäumen lauernden Unhold im Sittenstrolchmantel deutlich: da ging’s um nichts Gutes. Lediglich das Fehlen bedrohlich wabernden Filmnebels, das helle Sonnenlicht und die im Hintergrund kreuzenden Radler minderten etwas den Gruseleffekt. Den Vogel schoss aber Jack Stoiker ab: ‘Die Tütsche sind blöd’ lautete sein Beitrag zur Völkerverständigung. Bevor sich jemand aufregt: im Verlaufe des eher simplen Songs beleidigte Jack noch etliche andere Europäer:innen und ließ auch an seinen Landsleuten kein gutes Haar. Alles nur Satire also und nicht ernst gemeint. Dennoch hätte ich’s lustig gefunden, wenn die Schweizer das gewählt hätten, alleine schon wegen des Bild-Schlagzeilenkrieges!
Ein Männlein steht im Walde: Die Band ist ToT.
Zu seinen Mitbewerber:innen gehörte auch die polnische Teilnehmerin von 2011, Magdalena Tul, deren Beitrag ‘Give it up’ aber genau so klang, wie er hieß. Abschließen möchte ich diese Runde der Perlen der Vorentscheidung mit einem besonders schönen Beispiel aus der Abteilung What da fuck?: ‘Fukijo’ von Konichiwa Panda. Das waren dem ersten Anschein nach zwei offensichtlich tragisch veranlagte Teenagerjungs mit wirklich schlimmen Haarfrisuren, die über den örtlichen Rummel schlenderten und mit heftigst vocoderisierten Mädchenstimmen ein Gewinsel von sich gaben, dass es einem die Schuhe auszog. Gut für sie, dass sie in der toleranten Schweiz im bayerischen Zirndorf leben und nicht in Rostock: da hätten sie die örtlichen Skinheads schon längst verkloppt. Während des Videodrehs. Ein zweiter Blick offenbarte, dass hinter dem Projekt der Youtuber, Deutschland-sucht-den-Superstar-Teilnehmer und K‑Pop-Produzent Alexander Schulze steckte. Und dafür dann eine von Herzen kommende Entschuldigung an die Schweiz!
Manspreading ist sexy: der Schweizer Jugend-Privatsender noiz beim ESC-Kandidatencheck mit Konichiwa Panda und Jack Stoiker.
Letzte Aktualisierung: 03.06.2023
[…] verdient es, angemessen gewürdigt zu werden. Oliver Rau von aufrechtgehn.de sagt dazu: “‘Sultan Hagavik’ besteht aus einer zu handgetrommelten Percussions acapella gesungenen Aufzählung von […]