Heute veröffentlichten die fleißigen Kollegen des Prinz-Blogs bereits die zweite Analyse zum neuen, dreiteiligen Votingverfahren, das in Hannover bei Unser Song für Malmö zum ersten (und in dieser Form vermutlich auch zum letzten) Mal zum Einsatz kam und für manch große Überraschung nicht nur bei der charmanten Moderatorin Anke Engelke sorgte. Das kurz zusammengefasste Fazit ihres so lesenswerten wie hervorragend recherchierten Artikels: der Sieg von Cascada ging hundertprozentig in Ordnung, die Jury hat ihren Job anforderungsgerecht erledigt und kann bleiben, das Onlinevoting der Radiosender hat versagt und gehört gestrichen. Der ersten Feststellung kann ich mich voll und ganz anschließen, den gezogenen Schlüssen möchte ich aber deutlich widersprechen.
Nein, Anke hat beim Ergebnis nicht gemogelt!
Ob man ihre Art von Kirmestechno mag (wie ich) oder nicht: dass Powerfrau Natalie Horler alias Cascada mit dem stärksten Auftritt des Abends (über die unselige Plagiatsdebatte möchte ich hier aus Gründen der Contenance kein weiteres Wort verlieren) die Gesamtabstimmung klar für sich entschied, lässt sich nicht ernsthaft bestreiten. Ob mit oder ohne Jury, ob mit oder ohne Radio: in allen Kombinationen obsiegt sie eindeutig. Auch beim Patt zwischen Televoting- und Internetabstimmung (wo Cascada wie LaBrassBanda jeweils ein Mal 12 und einmal 10 Punkte kassierten): in dem Fall zählt nach den Regularien des NDR das Televoting mehr, und zwar zu Recht, denn hier stimmten fast neun Mal so viele Menschen ab, wie die Prinzen recherchierten.
Selbstverständlich drücke ich ihr die Daumen!
Geteilter Meinung kann man hingegen sein, was die Rolle der Jury angeht. “Die Jury hat als gewünschtes Korrektiv zur Allgemeinheit fungiert,” so werten es die Prinz-Blogger. Das stimmt – wenn man denn der Meinung ist, der normale Zuschauer sei in Geschmacksfragen nicht kompetent (genug) und müsse bevormundet werden. Eine solche Denke halte ich jedoch schlichtweg für undemokratisch. Und auch, wenn das Juryvoting am Sieg Cascadas nichts mehr änderte: dass fünf willkürlich ausgewählte Menschen die Entscheidungen von knapp einer Million Anrufer und Internetvotern auf den Kopf stellen können, macht mich wütend. Ohne den Juroren persönlich nahe treten zu wollen – ich verehre Mary Roos, nicht umsonst heißt meine Seite nach einem ihrer Eurovisionslieder! – so ist die Institution Jury in meinen Augen doch eine Art eurovisionäres Zentralkomitee, die DDR des Grand Prix. Gerade Popmusik entzieht sich ohnehin jeder Form scheinbar fachlicher Bewertung, hier geht es letztlich immer nur um “gefällt mir” oder “gefällt mir nicht”. Und für diese Frage gibt es nach meinem Dafürhalten nur einen Souverän: den Zuhörer. Beziehungsweise, bei einer TV-Show: den Zuschauer.
Jurysieger: Blitzkids, die singende Discokugel
Das gilt für mich unabhängig aller persönlichen Bewertungen (ja, ich mochte Blitzkids, den Jurysieger, sehr. Ja, ich fand auch die von der Jury Abgestraften LaBrassBanda klasse. Und ja, meine persönliche Favoritin war Null-Punkte-Betty, deren Show aber nicht so zündete wie die von Cascada). Und in dem Wissen, dass das Publikum oft schauderhafte Entscheidungen fällt, die ich hier in meinem Blog dann auch regelmäßig kritisiere. Die ich aber sehr viel leichter akzeptieren kann, wenn ich weiß, eine Million Menschen haben Mist gewählt anstelle von nur fünfen. Mir ist klar, dass vor allem Menschen Jurys bevorzugen, die tendenziell eher auf ruhige Lieder stehen, welche beim reinen Televoting gegenüber lauten, schnellen und heftig choreografierten Songs meistens untergehen. Und mir ist ebenso klar, dass ich hier der Rufer in der Wüste bin und der Mainstream sich mit der Bevormundung durch Jurys ebenso arrangiert hat wie mit der überbordenden Videoüberwachung und der Vorratsdatenspeicherung. Dennoch halte ich das System Jury generell für eine Fehlentwicklung.
Null Punkte für Betty? Schaut bloß nicht im Keller nach!
Bleibt das Internetvoting, eingeführt als der Versuch, die ARD-Hörfunkwellen mit ins Boot zu holen, um auf diesen mächtigen Musikkanälen den Vorentscheid und seine Songs stärker zu bewerben und ein regionales Element in die Sendung zu holen. Beides spektakulär gefloppt, wie der Prinz-Blog ebenfalls schon belegte: bei nur knapp hunderttausend abgegebenen Stimmen zogen die Acts mit der stärksten Fanclubunterstützung durch. Einzig Mobilée konnten in ihrem Stammgebiet NRW ein paar Extrastimmen generieren, ansonsten ging es uniform zu. Und erneut wurden die Songs aus dem Vorentscheid in den Privatradiostationen öfters gespielt als auf den ARD-Popwellen (alleine auf meinem Lieblings-Kirmestechno-Sender Sunhine Live höre ich fast jede Stunde entweder ‘Glorious’, ‘Heart on the Line’ oder ‘The righteous Ones’ laufen). Das ist einmal dem unseligen, unproduktiven ARD-Föderalismus geschuldet, basiert aber auch auf einem entscheidenden Konstruktionsfehler dieses – grundsätzlich richtigen – Versuchs der Einbindung.
Hatte sie Lena gefrühstückt? Carolin Wolter von Mobilée
Denn welchen Anreiz sollten die regionalen ARD-Popwellen haben, sich besonders stark für den Vorentscheid einzubringen? Die Auswahl der Künstler für Hannover fand ohne sie statt und erfolgte auch nicht nach regionalen Gesichtspunkten. Radio Fritz (RBB) hätte gleich vier Acts aus dem eigenen Sendegebiet zu promoten gehabt, hr3 hingegen keinen einzigen. Erst dann, wenn ein ausgesuchter Teilnehmer erkennbar für eine bestimmte Radiostation an den Start geht, also beispielsweise die Hamburgerin Mia Diekow für NDR2 antritt und die Söhne Mannheims für SWR3, man den Vorentscheid also als Wettbewerb der Popwellen aufziehen und spielerische Rivalität kreieren kann, werden sich die Sender engagieren. Dann könnte man auch regional unterschiedliche Ergebnisse erzielen – vorausgesetzt, man sperrt E‑Mail-Adressen, mit denen bei einem Sender abgestimmt wurde, für das Voting bei anderen, um die Fanclubs draußen zu halten.
Wollen 2014 wieder mitmachen. Für welchen Sender könnten sie wohl starten?
Der NDR-Verantwortliche Thomas Schreiber kündigte im Vorfeld ja bereits an, sich in Richtung Melodifestivalen zu orientieren und am liebsten einen Vorentscheid mit mehreren Semis aufziehen zu wollen, was 2013 aufgrund der Kürze der Zeit nicht mehr klappte. Sollte er das 2014 verwirklichen können, böte sich hier meines Erachtens die Chance, beispielsweise eins der Semis vollständig durch die neun ARD-Popwellen mit (Nachwuchs-)Künstlern aus dem eigenen Sendegebiet bestücken zu lassen und diesen bei der Auswahl freie Hand zu geben. Der hierdurch entstehende Kreativwettbewerb der Radioleute könnte ungeahntes musikalisches Potential freisetzen, würde die Einbindung der Sender beflügeln und den Plattenfirmen, die weiterhin das “Profi”-Semi bestücken könnten, Feuer unter dem Hintern machen, weiterhin gute Acts zu schicken, um nicht gegen die Newcomer abzustinken.
Und wenn wir die Casting-Knilche künftig raushalten könnten, wär’s ebenfalls knorke
Mein Fazit lautet daher anders als das der geschätzten Prinz-Kollegen: nicht das Radiovoting (als ebenfalls grundsätzlich demokratisches Element) gehört abgeschafft, sondern das durch nichts legitimierte Juryvoting. Das wird nicht geschehen: Schreiber ließ im Interview deutlich durchblicken, dass er die Jury – auch beim ESC – präferiert. Dann aber sollte es beim Drei-Drittel-Verfahren bleiben, um die Bevormundung wenigstens einzudämmen. Ein Internetvoting, das an einen echten regionalen Wettbewerb der ARD-Popwellen beim Vorentscheid geknüpft ist, böte hier die Chance, echtes Interesse sowohl bei den Radiosendern als auch in der Folge (über eine Identifikation mit dem Vertreter “ihres” Sendegebietes) bei deren Zuhörern zu generieren. Und damit auch spannende, regional differierende Ergebnisse zu erzielen. Oder?
Kontra.
Das Juryvoting muss bleiben – aber nicht etwa aus Erwägungen des “guten Geschmacks” heraus; der ist größtenteils eine individuelle Frage, obwohl es durchaus objektive Kriterien zur Beurteilung von Liedern gibt; was für den einen grausam ist, sieht jemand anders vielleicht als “so bad it’s good”. Vielmehr sollte in der Vorauswahl Berücksichtigung finden, wie im Finale abgestimmt wird. Wenn LaBrassBanda schon bei der heimischen Jury so abgeschmiert sind, wie hätte das erst bei den internationalen Jurys ausgesehen? An dem Tag, an dem das Juryvoting im Finale wieder abgeschafft wird, gehört auch der Jury im Vorentscheid das Stimmrecht entzogen. Bis dahin ist es schlicht erleuchtetes Eigeninteresse, ein solches Korrektiv bei der Auswahl für den ESC dabeizuhaben.
Nebenbei finde ich es schon ein wenig persönlichkeitsgespalten, wenn man hier die Abschaffung der Jurys fordert (und nicht nur hier) und anderswo – und sei es im Scherz – für die kollektive Entmündigung der Schweden eintritt, wenn die Ergebnisse beim Melodifestival mal wieder nicht so sind wie gewünscht. Irgendjemand muss die Entscheidungen treffen, oder? Lassen wir es den Leuten so, wie es ist, bis mich oder dich jemand anruft und dir die Verfügungsgewalt über alle ESC-Teilnehmer gibt – ein Tag, der hoffentlich nie kommt. 😉
Stimme zu, was die Beibehaltung der Jurys betrifft. Nur sollten diese aus unabhängigen Musikjournalisten zusammengesetzt sein.
Frühere ESC-Erfolgstitel wurden nur von Jurys ausgewählt, in andern Ländern (z.B. Frankreich) erfolgt die Auswahl immer intern, und das Ergebnis ist meist nicht schlecht. ‑In den Liveaufführungen werden von den Zuschauern eingängige und konventionelle Nummern bevorzugt , die Jurys sollten mehr auf Qualität achten und und innovativen Songs mehr Gewicht verleihen (das geschah bei der diesjährigen Vorentscheidung aber nur teilweise).
Beim Radiovoting wird den Zuhörern ebenfalls die Chance gegeben, die Songs losgelöst von den Unregelmäßigkeiten der Livevorstellung zu bewerten. Wenn hier trotzdem solche Dorfdisco-Songs auf die ersten beiden Plätze kamen, liegts an den Zuhörern . ‑Aber was soll die Regionalisierung der Radioabstimmung? Vorschlag: Diese Abstimmung sollte ebenfalls beibehalten werden, doch bundesweit einheitlich bei einem Sender stattfinden, und zeitlich auf 1 Stunde (oder weniger) kurz vor dem NF begrenzt werden.
Und noch ein Alternativ-Vorschlag:
Aus dem Gesamtangebot der eingereichten Songs wählt eine Jury aus Musikexperten z.B. 20 Titel aus. Diese werden dann durch Radiosendungen bekannt gemacht. Ein Künstler darf mit max. 2Titeln vertreten sein. Durch Radiovoting werden 12 Titel ausgewählt. Diese kommen in eine Vorrunde im TV, bei der nur Jury und Televoter abstimmen. Hiervon kommen 6 (oder 3) ins Finale, und auch hierbei stimmen Jury und Televoter ab.
Keine Chance: Einsicht war noch nie meine Stärke. Persönlichkeitsspaltung schon eher. Sollte ich aber nun wirklich meine Überzeugung zu einem bestimmten Thema plötzlich über Bord werfen, nur weil die Mehrheit anders denkt als ich? Dann kann ich mich ja gleich in Jan Feddersen umtaufen…
Dass Raab eine Plagiatsklage einreichen könnte, sehe ich übrigens nicht: schließlich hat er das Konzept für den BuViSoCo ja schlicht vom ESC geklaut. Ich habe bis heute nicht verstanden, wieso die ARD, die sonst gegen jede Verwendung des Wortes “Tatort” juristisch vorgeht, sich diese Marke so widerstandslos hat wegnehmen lassen.
Stimme ebenfalls zu. Dadurch, dass es (leider!) beim ESC eine Jury gibt, ist auch die Jury im Vorentscheid legimitiert. Da sollte man also zunächst einmal ansetzen. Und so lange das nicht geht, muss man eben versuchen, sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren. Überhaupt ist es auch viel einfacher, sich über die ESC-Jurys aufzuregen, denn diese sind im Gegensatz zu den fünf Personen beim Vorentscheid gesichtslos, so dass Häme gar nicht erst als persönliche Beleidigung aufgefasst werden kann.
Das Argument mit den früher von Jurys ausgewählten Siegern zieht nicht so recht – bei wie vielen der Sieger unter dem aktuellen Votingsystem war das so? Antwort: Null. Alle sechs Sieger seit 2008 sind aus offenen Abstimmungen in ihren jeweiligen Ländern hervorgegangen.
Frankreich ist das denkbar schlechteste Beispiel, wie nationale Vorauswahlen ohne Beteiligung der Öffentllichkeit funktionieren – die haben in den letzten zehn Jahren nur ein Top-10-Ergebnis gehabt, was eine schlechtere Bilanz als jeder andere der Big Five ist (und schlechter als Spanien, dazu gehört was), und wie gut Anggun bei den Televotern ankam, sollte sich inzwischen rumgesprochen haben. Die Grande Nation sollte ihren Auswahlmodus vielleicht mal überdenken.
Ich muss sagen, dass ich mich den zitierten Prinz-Artikeln in Aussagen und Schlussfolgerungen voll anschließen kann.
Über den Teil, dass Cascada völlig berechtigt gewonnen und die Jury einfach nur ihre Arbeit gemacht hat und dafür nicht angefeindet werden sollte, brauchen wir nicht zu diskutieren, weil da offensichtlich Einigkeit herrscht. Bleiben 2 Punkte:
1.) “Radiovoting”: ich veratehe ja, dass man die Radiosender irgendwie mit ins Boot holen will, damit gefälligst mehr Öffentlichkeit für die Beiträge auch im Vorfeld geschaffen wird. Aber zum einen hat das, wie die Prinz-Statistik zeigt, ja ganz offensichtlich überhaupt nicht funktioniert. Und zum anderen hatte das Internetvoting nicht wirklich was mit den Radiostationen zu zun und gehört in dieser Form definitiv abgeschafft, weil es das Bild grob verzerrt (Vorteil für größere Fanbases, Urteile nicht aufgrund der Live-Version). Die hier irgendwo vorgeschlagene Variante mit den lokalen, jeweils vom Lokalsender ausgerichteten Viertelfinale (oder so) fände ich tatsächlich bedenkenswert.
2.) Die Juries: Ich weiß, dass ich mich mit dieser Meinung hier auf ziemlich einsamen Posten befinde, möchte aber trotzdem noch einmal betonen, dass es nicht zutrifft, dass ich mich mit den Juries eben arrangiert habe. Im Gegenteil: eigentlich bin ich für ein reines Jury-Voting (Gründe s.u.) und habe mich nur deshalb mit dem Televoting überhaupt arrangiert, weil ich eingesehen habe, dass sonst das Interesse an der Sendung bei großen Bevölkerungsschichten völlig wegbräche.
Warum Juryvoting? Ich behaupte tatsächlich, dass das Gros der normalen Zuschauer nicht kompetent ist. Allerdings nicht in Geschmacksfragen. Da kann und sollte jeder nur für sich urteilen und ist insofern selbstverständlich kompetent. Aber ich finde, um diese sollte es nicht in erster Linie gehen.
Was ich mir erwarte/wünsche, ist eine Sendung mit abwechslungsreichen, qualitativ hochwertigen Beiträgen. Natürlich ist mir klar, dass letzteres nicht so ganz einfach zu definieren ist, denn da gehören neben einer guten Komposition und stimmlichem Können selbstverständlich auch Dinge wie Ausstrahlung und eine gute Performance dazu. Deswegen sollte eine Jury auch aus mehreren Personen bestehen, die verschiedene Aspekte jeweils kompetent beurteilen könnten.
Geschmack sollte so weit das überhaupt möglich ist weitgehend ausgeblendet werden (unerreichbares Ideal, ich weiß). Mir ist klar, dass ich natürlich auch meinen eigenen Geschmack habe, aber ich kann sehr wohl mit einem gut gemachten Siegertitel leben, der NICHT meinen Geschmack trifft. Bei der Wahl des deutschen Titels ist es mir ehrlich gesagt auch relativ egal, ob wir damit letztlich gewinnen. Diese Art von Kalkül fördert höchstens das Mittelmaß. Wichtig ist mir, dass etwas dabei herauskommt, womit man sich gemäß der oben genannten Kriteria nicht zu schämen braucht. Und es ist mir wichtig, zu betonen, dass dies mit ALLEN diesjährig angetretenen Titeln so gewesen wäre. Ich möchte mich eigentlich bemühen, meinen persönlichen Geschmack da gar nicht so stark einfließen zu lassen (obgleich ich natürlich so meine Lieblinge habe). Ich hätte beispielsweise mit LaBrassBanda überhaupt keine Probleme gehabt, da sie ihre Sache überzeugend und professionell rübergebracht haben (bis auf den Gesang), obwohl das ÜBERHAUPT NICHT meinem Geschmack entspricht.
Ich würde mir natürlich wünschen, dass alle ähnlich fair versuchten zu urteilen. Und das ist genau das, was ich dem normalen Zuschauer ab- und den meisten Juries zusprechen würde. Aus diesem Grunde präferiere ich eindeutig Juries.
Auch das von mr zuerst genannte Kriterium für einen guten ESC, die Abwechslung, ist durch Televoting gefährdet. Aus naheliegenden Gründen tendieren Massenvoten stets zum Mittelmaß und zum Durchschnittlichen. Interessanter sind aber Titel mit mehr Angriffsfläche.
Bin ja nicht für ein reines Jury-Voting, doch viele beliebte ESC-Songs stammen aus Zeiten als international und national nur die Jurys entschieden. In Frankreich wurden m.E. in den letzten 10 Jahren Vielleicht mehr “gute” Songs ausgewählt als in DE (wo die Zuschauer beteiligt waren ), doch der Titel von Anggun gehörte sicher nicht dazu.
Hier geht es auch um den ewigen Gegensatz von “qualitativ gut” und “erfolgreich im ESC” . Hier muss jeder entscheiden was ihm wichtiger ist.
http://www.schwedentipps.se/blog/cascada-glorious-kein-plagiat-aber-einfallslos/comment-page‑1/#comment-884
Genau. Und ich bin ganz klar für “qualitativ gut”, wobei das sehr viele Schattierungen haben kann. Originelle, gut gemachte Comedy würde ich hier nicht ausschließen.
Wenn’s dann auch noch erfolgreich beim ESC ist, umso besser. Aber wenn nicht, finde ich das eher sekundär (sehen Plattenfirmen und Sender natürlich anders).
Das Problem mit dem Qualitätsargument: nach welchem Maßstab ist das zu beurteilen? Während Durchschnittsware noch relativ eindeutig bestimmbar ist, ist das bei guten/schlechten Liedern schon wieder anders.
Ein paar Beispiele für nach diesem Maßstab (nicht nach dem vom Hausherrn patentierten Jurys-sind-Wichser-™-Maßstab):
-Warum wollten die angeblichen Fachjurys einen der objektiv schlechtesten Beiträge 2012, Georgien, ins Finale pushen?
-Warum stand 2009 bei den Jurys die banale Musical-Ballade um 60 Punkte höher als das Epitom der Sorte Lied, die von Jurys hochgezogen werden sollte? (GB vs. F, fürs Protokoll.)
-Warum standen im ersten Semi 2012 die banalen, schon tausendmal so gehörten Tanzmusikstücke aus Griechenland und Zypern bei den Jurys höher in der Gunst als bei den Televotern? Albanien und Moldawien, okay, die waren wenigstens noch originell, aber Griechenland und Zypern?
-Warum haben die Jurys im zweiten Semi 2012 Malta durchgezogen, auch ein schon tausendmal so gehörtes Tanzmusikstück? Alles Fußfetischisten?
-Warum stand die tödlich banale Musicalballade aus Litauen 2011 bei den Jurys in ihrem Semi auf Platz 1? Bessere Bewertung als von den Televotern, okay; einer der Gründe für Jurys ist eine höhere Bewertung für die sanfteren Stücke, die beim einmaligen Sehen vielleicht untergehen. Aber das beste Lied in diesem Halbfinale? Nie und nimmer. (Bei der Slowenin aus Semi 2 habe ich noch eher Verständnis; das Lied hatte mehr Dramatik, und Maja Keuc war eine deutlich bessere Sängerin als Evelina Sasenko.)
Und so weiter. Für jede Absurdität im Televoting findet sich eine mindestens ebenso große Absurdität in den Juryvotes (und ich behaupte, die Televoter haben sich bisher nie einen Klops wie Georgien 2012 geleistet). Eine Mischung aus beidem ist meines Erachtens die sinnvollste Lösung.
Stimme in den meisten Punkten zu. Absurditäten gibt es auf beiden Seiten. Was ich oben nur sagen wollte, ist, dass ich unterstelle, dass ein großer Teil der Televoter überhaupt nicht die Zielvorstellung hat, nach irgendwelchen (wie auch immer gearteten) Qualitätskriterien zu urteilen, sondern sich lediglich seinem Geschmack verpflichtet weiß (teilweise so weit gehend, dass für ein selbst als blöd eingestuftes Lied abgestimmt wird, weil man den Interpreten nun einmal mag). Bei Juries bin ich eher bereit anzunehmen, dass zumindest dieser Anspruch bei vielen besteht.
Zu Deinen Beispielen: Bei Anri Jokhadze (Georgien 2012) habe ich auch keinerlei Erklärung und bin völlig fassungslos (wo doch im Jahr zuvor Eldrine von den Juries schmählich im Stichj gelassen wurde).
GB/F 2009: banal war die Ballade ja nicht, und auch überzeugend dargeboten. Hätte aber natürlich nicht höher gehört als der außergewöhnliche französische Beitrag.
Und auch sonst sind die Beispiele gut gewählt.
Vielleicht braucht es wirklich den Mix als Korrektiv.
Theoretisch wäre ich für reines Televoting. Aber erst bei einem System, bei dem jeder nur einmal abstimmen kann. Ansonsten gewinnt der, dessen Fans die meiste Kohle für Anrufe und SMS ausgeben. So etwas halt ich für unfair, da kann ich mir auch gleich Geld fürs Abstimmen geben lassen.
Bis dahin ist (eine gut besetzte) Jury leider notwendig, um vorhandene Manipulationsmöglichkeiten (mit zig e‑mail-Adressen) zu korrigieren.
“Geschenkt”? Sorry, aber den unwürdigen 17. Platz für eine der grandiosesten Performances aller Zeiten verhindert zu haben, rechne ich den Jurys hoch an; das war mehr als nur “Ergebnis-Kosmetik”. Gleiches gilt für die Bewertung von Italien 2011 sowie von Italien und Spanien 2012. Es macht meines Erachtens schon einen Unterschied, was die Teilnahmebegeisterung angeht, ob ein Beitrag auf Platz 10 oder 19 abschließt.
Was meine Argumentation angeht: Meine Hoffnung ist, dass sich die schlimmsten Auswüchse von Televoting und Jurysystem in der Mischung ausgleichen, und ich stelle mal die Behauptung auf, dass das einigermaßen klappt. Ohne die Televoter hätte Italien 2011 gewonnen und wäre Georgien 2012 ins Finale gekommen; ohne die Jurys hätten die Türkei und Armenien trotz wirklich banaler und gelangweilt wirkender Beiträge 2011 immer noch eine perfekte Semi-Bilanz.
Radio und Jurywichser weg, Televoting auf max. 3 Anrufe oder SMS pro Apparat begrenzen. Sollten die Abstimmungsmodi allerdings beibehalten werden, bitte die Leitungen unbedingt VOR der Bekanntgabe der ersten Wertungen schließen. Womöglich hätte “Nackert” dann auch die ZuschauerInnenabstimmung gewonnen.
Albanien 2012 ein Tanzmusikstück? ;o
Bitte? Okay, der Themenwechsel war vielleicht etwas rabiat. Ich habe schlicht die Top 10 der Jurywertung von oben nach unten abgearbeitet, und da kamen Albanien und Moldawien zuerst; das “Tanzmusikstück” bezog sich nur auf Zypern und Griechenland.
Aber danke für die Bilder in meinem Kopf. Warum habe ich das Gefühl, dass eine Tanzfläche zu “Suus” aussähe wie der Beginn einer Zombieapokalypse? 😮
Das fand ich auch bescheuert. Und irgendwie auch unfair gegenüber den Plätzen 3–12, da nach Bekanntgabe der Radio- und Juryergebnisse die Leute vermutlich nur noch für Cascada oder LaBrassBanda angerufen haben. Vielleicht wären nämlich andere Titel in der Publikumsabstimmung viel höher gelandet, wenn nicht während der laufenden Abstimmung schon bekannt gegeben wäre, dass die bei Internet-Usern und Jury total abgekackt sind (Mia Diekow?). Und auf tote Pferde, sprich Beiträge die keine Siegeschance mehr haben, setzt auch keiner mehr.
Was genau jetzt “gute” Songs sind und was nicht ist meiner Meinung nach reine Geschmackssache und objektiv nicht messbar. Und bloß weil eine Komposition komplexer ist ist sie nicht automatisch besser. Zwölftonmusik ist auch komplex, klingt aber teilweise einfach nur wie der letzte Dreck. Diese Qualitätsdiskussion ist völlig sinnlos, jeder hat andere qualitative Maßstäbe. Ich finde z.B., dass “La La Love” (von einigen gerne als “Billig-Schrott” abgetan) eine druckvoll produzierte Dance-Nummer ist, die mich trotz textlicher Simplizität mitreißt und mir großen Spaß bereitet – in meinem Geschmackskontext erfüllt der Song damit alle Qualitäts-Standards. Das können Andere natürlich ganz wieder anders sehen. Ist auch gut so. Ich wäre halt bloß sehr vorsichtig zu sagen das ist “qualitativ gut” und das nicht
Ein gewisses Maß an Subjektivität ist dabei, das stimmt, aber andererseits gibt es durchaus Messlatten, an denen sich Lieder und Auftritte in bestimmtem Rahmen objektiv bewerten lassen. Das Problem ist nicht das Fehlen solcher Maßstäbe, sondern die unterschiedlichen Prioritäten, die verschiedene Leute diesen Maßstäben zumessen, und insbesondere die Neigung von Menschen, ihren eigenen Satz dieser Prioritäten für den einzig gültigen zu halten. Wer mehr auf die Produktion und die Tanzbarkeit achtet, für den ist “La La Love” grandios; wer auf textliche Tiefe und musikalische Komplexität Wert legt, der wird mit diesem Lied vermutlich eher weniger warm werden. (Ich gehöre eher zum ersten Lager; “La La Love” ist nichts Großartiges, aber durchaus anhörbar.)
Oh, und was die Sache mit der Zwölftonmusik angeht: Neunzig Prozent von allem sind Dreck (Sturgeons Gesetz). Dieses Genre leidet zudem darunter, dass es absichtlich jegliche “Standard”-Hörgewohnheiten in den Wind schießt und man eine viel breitere Theoriebasis braucht, um zumindest begreifen zu können, was der Komponist eigentlich wollte.
Mit “qualitativ gut” meine ich ” kreativ” was die Musik und den Text betrifft. Kreativ ist der Gegensatz zu einfallslos und nachäffend. Natürlich können auch kreative Songs “ungenießbar” klingen, deshalb sollten sie natürlich auch emotional ansprechend sein. Ich stimme zu, dass auch das wieder von der subjektiven Beurteilung des Juroren abhängt. Doch ob ein Song innovativ ist kann man schon relativ objektiv beurteilen.
In diesem Jahr war sicher der Song von Fox Lima in der lettischen Vorentscheidung ein gutes Beispiel für “kreativ” und gleichzeitig ansprechend,. Ist aber leider ausgeschieden.
Doch auch “Lalala” war durch einen witzigen Text, und die absichtliche Imitation des 60er-Jahre-Stils ein kreativer Song . Zumindest im Vergleich zu anderen Songs, die vorgeben modern zu sein und deren Text nur aus ca. 10 Wörtern besteht.…
Rausmanipuliert klingt so nach Absicht. Ich weiß jetzt nicht genau, wie das System in Slowenien war, aber natürlich sollte die Jury abstimmen, ohne das Televoting-Ergebnis zu kennen. Sonst sind Manipulationen natürlich Tür und Tor geöffnet. Aber wenn die sich ihre Meinung unabhängig von den Zuschauern bilden, dann wäre ich vorsichtig mit solchen Unterstellungen.
Bei den Jury-Entscheidungen in den NF muss man sich oft fragen ob die Juroren wirklich neutral sind und vorrangig auf Qualitätsmerkmale achten. Der Geschmack der Juries war in vielen Fällen noch schlechter als der der Televoter . Deshalb sollte die “ESC-Komission vielleicht ” Regeln für die Zulassung als Juror in allen Ländern festlegen . Im Sport kann auch nicht jeder Schiedsrichter werden, nur weil er prominent ist.
Vorschlag zur Güte: Aus 643 Vorschlägen wählt eine Jury 20 Songs aus. Diese werden im Radio vorgestellt und die Hörer entscheiden sich für die 10 Songs, die dann in einer TV-Show vorgestellt werden und das TV-Publikum kürt den Sieger. Ist das nicht demokratisch?