Besonders tosenden Applaus durch das aserbaidschanische Hallenpublikum erfuhr bekanntlich der bis dato letzte Eurovisionsteilnehmer der Türkei, Can Bonomo, bei seinem Auftritt 2012 in Baku. Die brüderlichen Beziehungen funktionieren auch andersherum: Fərid Həsənov, der Vertreter Aserbaidschans, siegte heute im Finale der ersten Türkvizyon, des Gegen-Grand-Prix des osmanischen Kulturkreises im anatolischen Eskişehir. Es war eine Jury, die ihm diesen Sieg bescherte, und man konnte sich angesichts der Diskrepanz zwischen den dargebotenen Songs und dem Punkteergebnis nicht des Eindruckes erwehren, dass hauptsächlich politische Erwägungen bei der Entscheidung der Juroren eine Rolle spielten. Für die gastgebende Türkei, die auf einem Mittelfeldplatz landete, ist es aufgrund der engen Bindung der beiden Länder eine Art Stellvertretersieg, was wenigstens nicht ganz so peinlich wirkt, wenn auch die offensichtliche Schiebung unübersehbar bleibt.
Mit nur einem Ärmel zum Sieg: Fərid Həsənov (AZ).
Die im Vorfeld als Favoriten gesetzten Steppen-Hip-Hopper Rin’Go aus Kasachstan landeten trotz eines sensationell guten Auftrittes zu meiner großen Enttäuschung auf einem skandalösen neunten Platz. Von diesen unglaublichen Ergebnissen mal abgesehen, gestaltete sich der Abend amüsant: nach einem hübschen Ballett mit anatolischen Tänzen zum Auftakt und der Präsentation der offiziellen Jingles für die Türkvizyon und die Gastgeberstadt, die beide klangen, als seien sie um 1970 herum für ein Fahrgeschäft in Disneyland geschrieben worden, folgten erst mal staatstragende Ansprachen irgendwelcher Funktionäre. Eine geschlagene halbe Stunde lang. Selbst die diesmal zahlreichen Zuschauer in der Sporthalle auf dem Campus einer der beiden Universitäten von Eskişehir, einem vor Ort anwesenden Freund zufolge hauptsächlich mit Bussen angekarrte Studenten, die man mit kostenlosen Wurstbroten lockte, schauten schon verzweifelt auf die Uhr.
Mein persönlicher Siegertitel: Birlikpen Alğa (KZ).
Doch dann ging es zur allgemeinen Überraschung doch noch los, diesmal mit der türkischen Rockband Manevra, die heute irgendwie unbeschwerter rockte als noch am Donnerstag. Wusste sie bereits um das abgesprochene Ergebnis? Gunesh Abasova aus Weißrussland machte mit ihrer hochdramatischen Ballade ‘Son hatiralar’ ganz auf letzte Anstrengung und wurde für ihre Mühen, durch geschicktes Wedeln mit dem Handmikro das bei Juroren allgemein beliebte Whitney-Houston-Jodeln zu erzeugen, mit einem Bronzeplatz entlohnt. Ergin aus dem Kosovo bleibt vor allem für sein “most slappable Face”, wie der Brite sagen würde, in Erinnerung und wurde zu Recht Letzter. Als weitere Fehlentscheidung muss hingegen der sechste Platz für die bosnische Rockband Emir & the Frozen Camels und ihr rundweg gutes ‘Ters Bosanka’ gelten. Kann bitte mal jemand für deren Teilnahme am Eurovision Song Contest sammeln? Ich würde was dazu geben!
Gäbe beim ESC sicher eine bessere Platzierung: die ‘Ters Bosanka’ (BA)
Alina Sharipzhanova aus Tatarstan ersang sich mit einem bei Jurys ebenfalls sehr beliebten Trick einen vierten Rang: der großen hohen Schlussnote. Ansonsten blieb ihre Ballade vor allem zäh. Ob es sich bei ‘Cevedzhem’, dem Beitrag der Ukraine, um einen Emanzipationssong handelt? Jedenfalls könnte Fazile Ibraimovas Show mit einem Seidentuch, das sie zunächst als Burka vor dem Gesicht trug, dann nach und nach abstreifte und schließlich zu Boden fallen ließ, wo es einer ihrer beiden Haremswächter aufhob und mit feierlicher Miene an den zweiten überreichte, darauf hinweisen. Wobei: wenn diese Theorie zuträfe, wäre sie sicherlich nicht Zweite geworden.
Fiele bei uns unter das Vermummungsverbot: Faziles Auftritt (UA)
Was die nordzyprische Klageweise angeht, so klang sie für meine Ohren zwar, wie bereits am Donnerstag, schmerzbringend und depressionsfördernd, allerdings mochte ich die Ernsthaftigkeit des Duos Gammalar und ihre delikat zu nennenden Handbewegungen. Sehr lustig nach wie vor die kirgisische Boyband Çoro und ihr auf dem Banjo rockender Gitarrist mit den buschigen Augenbrauen! Einen wunderhübsch trashigen Schlusspunkt setzte die usbekische C.C.Catch, Nilüfer Usmanova, deren Achtzigerjahre-Aufguss ‘Unutgin’ sich bei mir mittlerweile als Ohrwurm festgesetzt hat. Dass sie nicht für fünf Cent singen konnte, steigerte den Camp-Faktor ihrer Darbietung nur noch weiter.
Schon ihre Mutter ist in der Heimat ein Star: Nilüfer (UZ)
Und der Siegertitel? Das in allen Belangen einfach nur durchschnittliche ‘Yaşa’ litt für meinen Geschmack heute besonders darunter, dass Farids kerniger Begleittänzer sich den strunzgeilen Terroristenvollbart abrasiert hatte. Zudem sang der durchaus schmucke, wenn auch etwas bübchenhafte Aserbaidschaner diesmal stets eine Sekunde vor dem Backing Tape. Das war nix – was mich in meiner Wut auf die Jurys bestärkt, zumal ursprünglich zumindest für das Finale ein SMS-Voting angekündigt war. Nachdem die richtig guten Songs aber schon im Semi rausgesiebt wurden und insbesondere die fernöstlichen Republiken und Länder durchweg schlecht abschnitten, bin ich mal gespannt, ob nächstes Jahr überhaupt noch jemand bei dieser Veranstaltung mitmachen will.
Das Finale in voller Länge.
Türkvizyon 2013, Finale
Song Contest des türkischen Kulturraumes. 21.12.2013 in Eskişehir, Türkei.# | Land / Republik | Interpret | Song | Pkt. | Platz |
---|---|---|---|---|---|
01 | Türkei | Manevra | Sen, Ben, Biz | 187 | 07 |
02 | Weißrussland | Gunesh Abasova | Son hatiralar | 195 | 03 |
03 | Kosovo | Ergin Karahasan | Şu Prizen | 151 | 12 |
04 | Kasachstan | Rin’Go | Birlikpen Alğa | 178 | 09 |
05 | Bosnien | Emir & the frozen Camels | Ters Bosanka | 187 | 06 |
06 | Tatarstan (RU) | Alina Şaripjanova | Üpkelemim | 192 | 04 |
07 | Ukraine | Fazile Ibraimova | Elmalım | 200 | 02 |
08 | Altai (RU) | Artur Marlujokov | Altayım Menin | 189 | 05 |
09 | Aserbaidschan | Fərid Həsənov | Yaşa | 210 | 01 |
10 | Nordzypern | Gommalar | Havalanıyor | 175 | 10 |
11 | Kirgisien | Çoro | Kaygırba | 183 | 08 |
12 | Usbekistan | Nilüfer Usmanova | Unutgin | 173 | 11 |
Was meinst Du? Wird es eine zweite Türkvizyon geben?
- Ist mir so egal wie Trambahnschienen. (33%, 14 Votes)
- Ich hoffe doch sehr! Das war schönes Entertainment und musikalisch mal was anderes! (26%, 11 Votes)
- So offensichtlich, wie da heute geschoben wurde, glaub ich nicht, dass da noch viele mitmachen wollen. (23%, 10 Votes)
- Ich hoffe doch nicht! Diese peinliche Selbstbeweihräucherungsshow der Türken braucht kein Mensch! (19%, 8 Votes)
Total Voters: 43
Gibt es irgendwo ein Video von der Punktevergabe? Oder wurde dieses Ergebnis einfach nur bekanntgegeben, und das wars dann? Ich würde ja selbst danach suchen, aber dafür ist mein Türkisch nicht gut genug. Die Punktzahlen sehen jedenfalls absolut faszinierend aus, auch wenn der Wettbewerb an sich mich nicht für fünf Kurus interessiert.
http://youtu.be/keP-yj1UkaU
Sie haben die Länder in Startreihenfolge aufgerufen und jeweils die gesammelten Jurypunkte für das Land verlesen. Recht unspektakulär, da half auch der Trommelwirbel nichts.
Okay. Viel zu lernen sie noch haben – das wäre auch deutlich spannender gegangen, wenn man sich das Endergebnis mal ansieht – wenn je wieder ein ESC-Finale so ausginge, wäre das jedenfalls ein Herzschlagfinale, gegen das 2003 harmlos aussähe. (Und wieso eigentlich Jurypunkte? Ich dachte, im Finale wurde nur SMS-Voting gemacht.)
SMS war zwar angekündigt, letztendlich gab es aber Jury.
Die Sympathie für Aserbaidschan ist ja nicht zu übersehen!
Weiß jemand, wie diese Punkteverteilung zustande gekommen ist? Für mich sieht es ganz stark danach aus, als ob man ein System angewandt hätte, das dem ESC-Abstimmungssystem der Jahre 1971 bis 1973, als jeder Juror (zwei pro Land) jedem Beitrag Punkte in einer Skala von 1 bis 5 gab, ähnelt. Und da gab es ja anscheinend auch gewisse Kungeleien.
Es gab 24 Juroren (einer pro Teilnehmerland inklusive der Semifinalisten), wenn ich das richtig verstanden habe. Bei maximal 5 Punkten wären das maximal 120 Gesamtpunkte pro Song. Da Farid 210 Punkte abgeräumt hat, vermute ich, dass eher nach dem klassischen Eurovisionsschema gewertet wurde.
Normale ESC-Punkteverteilung kann es auch nicht sein. Ich habe das mal nachgerechnet: 828 Punkte sind mehr verteilt worden als es nach ESC-System möglich gewesen wäre. Dann hätte jedes Land mit einem Sockel in Höhe von 69 Punkten starten müssen. Und wenn auch 9 und 11 verteilt worden wären, hätte jedes Land mit einem Sockel aus 40 Punkten starten müssen.