Soeben ging das Semifinale der allerersten Türkvizyon zu Ende: eine rundweg fabelhafte Show mit einem hochgradig erfrischenden Musikmix aus Billigdisco, orientalischen Klageliedern und Kehlgesängen, ruiniert allerdings durch die himmelschreienden Fehlentscheidungen der Jury, die erkennbar nur nach Nationalität abstimmte und ausschließlich die engsten politischen Freunde der Türkei durchwinkte. Was besonders pikant erscheint, wenn man bedenkt, dass der vom türkischen Fernsehen offiziell hauptsächlich ins Feld geführte Grund für das Fernbleiben des Landes vom Eurovision Song Contest (und die Gründung der Türkvizyon) die Unzufriedenheit mit der Re-Installation der Eurovisionsjury war! Immerhin: im Finale am Samstag entscheiden alleine die Zuschauer per SMS [Nachtrag: taten sie nicht, auch im Finale blieb es beim Jury-Entscheid] – nur ist es da zu spät, einige der besten Beiträge sind bereits ausgesiebt.
Wetten, so was haben Sie noch nie gesehen: Çıldız Tannakeşeva (Kemerowo).
Die Show selbst überzeugte durch einen hohen Produktionsstandard (vorbildlich: ein Gebärdendolmetscher) und erwies sich mit ihrer Konzentration auf die Songs und lediglich ergänzendem Tanz als ein Fest für Grand-Prix-Traditionalisten. Nach dem überraschend bereits um 17:30 Uhr (!) erfolgten Start fiel zwar zunächst der Ton aus, doch Gott sei Dank nur für ein paar Minuten. Zudem traf es lediglich den Opening Act, eine Balletteinlage, die ein wenig an Dschinghis Khan erinnerte, nur diesmal authentisch. Kein Tonausfall hingegen bei den gefühlt mehrstündigen Ansprachen zahlreicher Funktionäre im Anschluss daran – leider! Die Halle schien nur halbvoll: nach dem Bericht eines Freundes, der nach Eskişehir gereist war, wussten die meisten Einwohner dort noch gestern nichts von dem Event. Trotzdem schien die Stimmung ganz gut. Die 24 Semifinalist/innen traten in alphabetischer Reihenfolge ihrer Herkunftsregion auf, sortiert natürlich nach der türkischen Länderbezeichnung.
Katja Ebstein hat angerufen und will ihren Dress vom ESC 1980 zurück: der Verdiente Bariton des Volkes, Artur Marlujokov (Altai).
Und bereits beim ersten Beitrag des Nachmittags aus der autonomen russischen Republik Altai hätten wohl locker 70% der durchschnittlichen Eurovisionszuschauer/innen wieder abgeschaltet. Artur Marlujokov gab im cremeweißen Seidenanzug seine beste Çetin-Alp-Imitation, nur dass ‘Opera’ (TR 1983) sich gegen Arturs patriotisches Epos ‘Altayım Menin’ (‘Mein Altai’) geradezu Helene-Fischer-haft ausnimmt. Wieso er es ins Finale schaffte, erscheint mir unbegreiflich, im Gegensatz zum putzigen Fərid Həsənov aus, Sie merken es schon an den komischen Kopfüber-əs, Aserbaidschan. Wie sein diesjähriger Vornamensvetter beim richtigen ESC überzeugte er weniger durch Stimmkraft als durch jugendliches Aussehen und einen schmissigen Popsong. Sowie durch eine subtil homoerotische Show mit extrem woofigen Tänzern und schwarzem Leder. Zu allem Überfluss schien Fərid auch noch einen Jackenärmel im Getümmel des Darkrooms verloren zu haben – das Röntgenbild möchte ich keinem anatolischen Radiologen erklären müssen! ‘Yaşa’ (‘Leben’) kam jedenfalls zu Recht weiter.
Kann mal jemand das Bübchen da wegholen und den bärtigen Kerl nach vorne stellen, bitte? (AZ)
Ein Botoxmonster (Diana Ishniyazova) im schlimmen Kleid – mit Pelzbesatz! – betrat für Baschkortostan die Bühne und schied mit einem wirren Mix aus Ethno und Pop sowie unmelodischem Geschrei ebenso zu Recht wieder aus. Ähnlich furchtbares Gekreisch kam aus Belarus, allerdings konnte die von dortigen Grand-Prix-Vorentscheidungen bereits einschlägig bekannte Gunesh Abasova durch eine divaeske Verspätung beim After-Auftritt-Interview in Sachen Coolness punkten. Alles an ihrer Darbietung war üppig: ihre Frisur, ihr Swarovski-Kleid und ihre ziemlich zähe Geigenballade. Sie zog ebenso ins Finale wie die bosnischen Rocker von Emir & the frozen Camels. Deren Nummer kam angemessen schräg herüber und erinnerte in ihren besten Momenten ein wenig an den genialen Laka (BA 2008). Ob der ebenso schräge, eine Spur disharmonische Harmoniegesang gewollt war oder nur nicht gekonnt? Man weiß es nicht! Sehr schön ihr visueller Schlussgag aus der Abteilung “Humor der fünfziger Jahre”, als die besungene ‘Ters Bosanka’, die zänkische Bosnierin, auf der Bühne erschien, ein Nudelholz schwingend.
Wirkte gar nicht zickig, trotz Teigrollgerätes: die ‘Ters Bosanka’ (BA).
Nun folgt ein Fünferpack Nichtfinalist/innen, beginnend mit der schwer leidenden (und ebenso schwer atmenden) Gagausierin Ludmila Tukan, der es auch nichts half, dass sie sich am Schluss ihrer dramatischen Weltschmerzballade zu Boden warf. Georgien schickte einen peinlichen Berufsjugendlichen mit schmaler Krawatte (ist die nicht seit den Neunzigern verboten?), Viertel-Irokesen und einem halbgaren Discosong; der Irak (bzw. die in der Gegend um Kirkuz lebende Volksgruppe der irakischen Türkmenen) einen waschechten Beduinen, dessen Oberhemd mich allerdings daran erinnerte, dass ich noch meine Weihnachtsgeschenke einpacken muss. Eldar Zhanikaev, der mit Kabadino-Balkarien und der Nachbarrepublik Karatschai-Tscherkessien gleich zwei Länder vertrat, wirkte ein wenig irre, was sich noch dadurch verstärkte, dass er sich ständig gegen den Kopf tippte. Schade ist es allerdings um Vladimir Dorju aus Chakassien: ein asiatisch anmutender Sumoringer mit gebrochener Boxernase und fettglänzender Gesichtshaut, der mit unglaublich tiefer Stimme vor sich hin röchelte und dabei abwechselnd klang wie eine lebende Maultrommel und Harvey Fierstein als mit Damenbass singende Drag Queen in Das Kuckucksei.
Meine Stimmbänder wären danach hin: Vladmir Dorju (Chakassien).
Er teilte das zutiefst ungerechte Schicksal, von der ignoranten Jury verschmäht zu werden, mit seinen Kehlgesang-Kolleginnen aus Kemerowo und Tuwa. Sailyk Ommun (‘Cavidak’) wirkte nicht zuletzt dank ihres ausgefallenen Kopschmuckes optisch wie eine Weltraum-Prinzessin, ihre Tänzer begleiteten sie in stilechten Enterprise-Kostümen. Ihr Gesang lässt sich am ehesten als Mischung aus Kreischen, Zischen, Jodeln und Schreien beschreiben – ein bisschen so wie Nina Hagen auf Pilzen. Sehr strange und sehr geil. Den Höhepunkt aber lieferte Çıldız Tannakeşeva, die schorisch-schamanische Vogelstimmenimitatorin aus Kemerowo. Aufgrund ihres schon fast nicht mehr menschlichen, tiefen Knurrens und ihrer eher brikettartigen Figur vermochte man zunächst kaum, sie einem Geschlecht zuzuordnen, geschweige denn einer Spezies. Auch sie hechelte, grunzte und schrie, produzierte dann aber eine Fülle exotischer Vogellaute, so dass man beinahe das Gefühl bekam, sich in einem nächtlichen Urwald zu befinden. Dazu lief trippiger Ambient – wer gerne mal auf psychedelische Reisen geht, für den könnte sich ihre Musik als wahrer Schatz erweisen!
Sie ist nicht vom selben Stern: Saylik Ommun aus Tuwa.
Raus flogen außerdem die [Nachtrag: zu diesem Zeitpunkt noch] ukrainische Halbinsel Krim mit einem Mix aus Bar-Jazz und türkischen Klagegesängen; Mazedonien mit mittelmäßigem und strukturlosem Hardrock sowie einem – besonders im Kontrast zu seinen jugendlich-virilen Tänzern – ausgesprochen verlebt wirkenden Sänger, der seinem Outfit nach zu vermuten wohl in der selben Lederkneipe verkehrte wie sein aserbaidschanischer Kollege (vielleicht sollte Fərid mal bei ihm nach seinem Ärmel suchen?); ein extrem hölzerner Rumäne, den auch die hübschen Formationsarme zum Schluss seines Orient-Disco-Titels nicht mehr retteten, sowie ein lebenserfahrenes Discoflittchen aus Jakutien, die schon fast klischeehaft benannte Olga Spiridonova, die ihrem etwas platt gedrückten Gesicht nach zu urteilen bei der Türkvizyon nicht zum ersten Mal in ihrer Karriere mit einem Kameramann kollidierte. Ihre unsichtbaren Backings (oder das Tonband) machten gesanglich einen ziemlich guten Job, sie eher nicht so.
Erinnert optisch an ‘Opa’ Schorsch Alkaida & Friends (GR 2010): Ikay Yusuf (MK).
Nicht ganz nachvollziehbar ist das Weiterkommen von Alina Sharipzhanova aus Tatarstan, der nicht nur das Kinn fehlte, sondern auch ein als solcher klassifizierbarer Song, sowie des Kosovaren Ergin Karahasan, der zwar eine hübsch billige Ethno-Disco-Nummer vorweisen konnte, aber den Eindruck verbreitete, als leide er während seines Auftrittes körperliche Qualen. Der Zuhörer ob seiner Stimme übrigens auch. Dass die türkische Band Manevra trotz eines eher halbgaren Poprockliedchens und einer eher schwachen Performance, aus der lediglich der niedliche Flötist optisch wie musikalisch hervorstach, weiterkam, verwundert weniger – nach den Zuschauerreaktionen in der Halle zu urteilen, hätten die Juroren bei einem negativen Plazet um ihr Leben fürchten müssen. Nilüfer Usmanova, die usbekische Hera Björk, sang zwar zum Steinerweichen, hatte aber einen extrem billigen Achtzigerjahre-Discoschlager im Gepäck: das zog bei den überwiegend älteren Juroren, die mit ihrem Durchwinken eine der raren richtigen Entscheidungen des Nachmittags trafen.
In den Händen einer talentierteren Sängerin, sagen wir C.C. Catch, käme das gut: ‘Unutgin’ von Nilüfer (UZ).
Fazile Ibraimova aus der Ukraine überzeugte die Traditionalisten hingegen eher mit dem anfänglich übers Gesicht gezogenen Schleier, der im Verlauf der Darbietung allerdings fiel, und der einzigen Rückung des Jahrgangs, während das nordzyprische Duo Gommalar (wenn ich nicht irre, Geschwister) alleine schon aus politischen Gründen weiterkam: ein Ausscheiden des türkisch besetzten Nordteils der griechischen Mittelmeerinsel ausgerechnet im selbst ernannten Mutterland wäre ebenso undenkbar wie 0 Punkte aus Athen an Nikosia beim echten Grand Prix. Ihr Song? Ein schier endloser Grabgesang. Selbst ein zwischendurch zur Auflockerung eingestreutes “La la ley” mutete an wie eine wütende Anklage, auch aufgrund der durchgängig todernsten Gesichter der Beiden, wunderbar konterkariert indes durch so anmutige wie absurde, ruckartige Handbewegungen beim Singen.
Haben nichts zu lachen: die Nordzyprer.
Bleiben noch meine beiden Lieblingstitel unter den Finalist/innen. Beim kirgisischen Beitrag ‘Kaygırba’ ist es nicht so sehr die merkwürdige Musik, die ein bisschen an das einlullende Plinkaplonk erinnert, das man hierzulande gerne in China-Restaurants als Hintergrundberieselung einsetzt, sondern die etwas bieder wirkenden Asiaten von Çoro, die sich da als Boygroup inszenierten, was einen völlig surrealen Effekt erzeugte. Mein Liebling im Band-Line-Up ist natürlich der lustige Typ mit den dicksten Augenbrauen seit Breschnew, der sich an der kirgisischen Variante des Banjo komplett verausgabte. Rock’n’Roll! Richtig gut sind aber die Kollegen von Rin’Go: kernige kasachische Hip-Hopper und Beatboxer, deren mit zahlreichen “Opa! Opa!”-Rufen gespickter Song ‘Birlikpen Alğa’ auch beim ESC fraglos gut ankäme. Noch nicht mal der katastrophale Ton und die nicht minder unfähige Kameraarbeit während ihres Auftrittes konnten den positiven Eindruck schmälern. Die müssen bitte gewinnen am Samstag, und dann zum richtigen Grand Prix kommen!
Die besten der Finalisten: Rin’Go aus Kasachstan.
Türkvizyon 2013, Semifinale
Song Contest des türkischen Kulturraumes. 19.12.2013 in Eskişehir, Türkei.# | Land / Republik | Interpret | Song | Finale? |
---|---|---|---|---|
01 | Altai (RU) | Artur Marlujokov | Altayım Menin | ja |
02 | Aserbaidschan | Fərid Həsənov | Yaşa | ja |
03 | Baschkortostan (RU) | Diana Ishniyazova | Kuray Şarkısı | nein |
04 | Weißrussland | Gunesh Abasova | Son hatiralar | ja |
05 | Bosnien | Emir & the frozen Camels | Ters Bosanka | ja |
06 | Gagausien (MD) | Ludmila Tukan | Vernis Lubov | nein |
07 | Georgien | Eynar Balakişiyev | Kalbini Saf Tut | nein |
08 | Chakassien (RU) | Vladimir Dorju | Tus çirinde | nein |
09 | Türkmeneli (Irak) | Ahmed Duzlu | Kerkük’ten yola Çıkak | nein |
10 | Kabadino-Balkarien (RU) | Eldar Zhanikaev | Adamdı Bizni Atıbız | nein |
11 | Kasachstan | Rin’Go | Birlikpen Alğa | ja |
12 | Kemerowo (RU) | Çıldız Tannakeşeva | Şoriya’nın Unu | nein |
13 | Kirgisien | Çoro | Kaygırba | ja |
14 | Krim (UA) | Elvira Sarihalil | Dağların Elları | nein |
15 | Kosovo | Ergin Karahasan | Şu Prizen | ja |
16 | Nordzypern | Gommalar | Havalanıyor | ja |
17 | Mazedonien | İlkay Yusuf | Düşlerde Yaşamak | nein |
18 | Usbekistan | Nilüfer Usmanova | Unutgin | ja |
19 | Rumänien | Genghiz Erhan Cutcalai | Ay Ak Shatır | nein |
20 | Sacha (Jakutien) (RU) | Olga Spiridonova | Sulus Uonna Tuun | nein |
21 | Tatarstan (RU) | Alina Şaripjanova | Üpkelemim | ja |
22 | Tuwa (RU) | Sailyk Ommun | Cavidak | nein |
23 | Türkei | Manevra | Sen, Ben, Biz | ja |
24 | Ukraine | Fazile Ibraimova | Elmalım | ja |
Was für eine Show, der Unterhaltungswert war teilweise sogar höher als bei einer moldawischen Vorentscheidung.
Höchst erfrischend Deinen Beitrag zu lesen. So erspart man sich die komplette Sendung, so komprimiert, wie es hier dargestellt wird.
Und ich stimme Dir in so gut wie allem zu, nachdem ich den Recap gesehen habe. Nur in einem Punkt nicht:
Alina Sharipzhanova aus Tatarstan war für mich die klassische ESC-Teilnehmerin (vom Liedchen her, nicht von dem asiatischen Stewardessen-Outfit). Bei dem ganzen Gejalla für westliche Ohren eine wirkliche Erholung. Und gut gesungen hat´se auch. Selbst ohne Kinn.
Aus meiner Sicht verdient weiter. 🙂
Was für ein fabelhafter Überblick! Habe Tränen gelacht. Und am Ende hatte ich trotz 80% verpasster Show ähnliche Favoriten.
Ich sehe schon, ich habe gar nichts verpasst!
Angesichts des Schnelldurchlaufes schien die Musik da OK gewesen zu sein, aber der Lächerlichkeitsfaktor steigt mal wieder, diesmal durch das Stimmverhalten der Jury.
Und das Geklingel zwischen den Beiträgen im Schnelldurchlauf nervt massiv !!!
Der Schnelldurchlauf gibt nur einen unzureichenden Eindruck, vieles wirkt erst richtig schön (oder richtig schön grauslig), wenn es sich in seiner ganzen Länge und Pracht entfaltet. Ansonsten hast Du mit allem Recht, bis auf den ersten Satz. 🙂
Olli, du hast da was falsch verstanden: Die Türkei hat nur was gegen Jurys, solange die gegen den türkischen Beitrag stimmen. Ansonsten finden sie Jurys auch total supi. ^^
Und generell verstehe ich nicht, warum man für 24 Teilnehmer ein Semifinale einbauen muss. Der richtige ESC nudelt doch auch so viele Teilnehmer im Finale durch /die dann aber alle nur höchstens 3 Minuten singen dürfen)
[…] waren es nur noch Zwölf.”). Wer etwas Zeit hatte, sollte zusätzlich unbedingt die ausführliche HF Besprechung von Oliver Rau bei aufrechtgehn.de lesen. Großartig geschrieben, hervorragend akzentuiert und ein ideales Briefing für das […]
Machen die Malteser doch auch jedes Jahr: Im Semi Reduktion gerade mal von 24 auf 16.