Geht es 2015 wiederum nur 14 Kilometer über die Öresundbrücke zurück nach Malmö? Nach dem gestrigen ersten Semifinale überholt Sanna Nielsen (SE) den bislang führenden Aram MP3 bei den Wettquoten auf einen Sieg im Finale. Nun zeigte sich der Armenier im Balladenteil seines Beitrags ‘Not alone’ gestern Abend tatsächlich stellenweise leicht wacklig (fing sich spätestens im Dubsteppart aber wieder) und wirkte auch ein wenig fahl um die Nase, während Frau Nielsen diesmal mit keinen widerspenstigen Scheinwerfern mehr zu kämpfen hatte wie noch im Juryfinale und einen Auftritt wie aus dem Lehrbuch für die vorschriftsmäßige Inszenierung einer ebenso vorschriftsmäßigen Eurovisionsballade hinlegte. Und doch kann ich den fulminanten Zuspruch zu diesem doch arg verstaubten und für meinen Geschmack klinisch dargebotenen Song überhaupt nicht nachvollziehen. Im Gegenteil: mit so ziemlich jedem der sich noch im Rennen befindlichen Beiträge könnte ich als Siegersong eher leben als mit ‘Undo’. Was mir zu diesem Zeitpunkt im Vorjahr mit ‘Only Teardrops’ übrigens genau so ging – womit der Ausgang des diesjährigen Wettbewerbs wohl besiegelt sein dürfte…
Unmach mein Traurig: Sanna zeigt einen flexiblen Umgang mit Sprache (SE)
Was bloß stört mich an ‘Undo’ so sehr? Der schwedische Beitrag versucht sich offensichtlich an der beim Grand Prix über die Jahrzehnte hinweg erfolgreichen Formel der weiblichen Powerballade. Und verfehlt, jedenfalls nach meinem Empfinden, in jeder einzelnen Kategorie das Klassenziel. Sanna macht ihre Sache im kleinen Schwarzen zwar ganz gut, die Präsentation folgt strikt den klassischen Vorgaben: die Sängerin steht alleine im Mittelpunkt, bewegt sich nicht und beschränkt sich, zumindest in den Strophen, auf wenige, sparsame Gesten. Der Strahlenkranz der sie umgebenden Scheinwerfer verleiht ihrem Auftritt gar etwas Sakrales. Und doch verliert sie den Vergleich mit den historischen Vorbildern: sie verfügt nicht über die aristokratische Noblesse einer Vicky Leandros (LU 1972), nicht über die Stimmkraft einer Céline Dion (CH 1988), sie erscheint nicht vom brennenden Siegeswillen durchdrungen wie eine Anne-Marie David (LU 1973) und ihre Darbietung wirkt weder hingebungsvoll entrückt wie bei Marija Šerifović (RS 2007) noch beiläufig wie die einer Sandrine François (FR 2002) oder einer Patricia Kaas (FR 2009). Anders gesagt: im Gegensatz zu den genannten Diseusen, deren Erfolgsgeheimnis darin bestand, eine anspruchsvolle und fordernde Vokalarbeit anstrengungslos erscheinen zu lassen und den Sieg klar einzufordern, ohne sich auch nur eine Sekunde lang beim Publikum anzubiedern, buhlt Sanna Nielsen. Mit im Refrain dann doch durchbrechenden großen Handbewegungen, mit Grimassen, die keinen Zweifel lassen, dass sie gerade harte Anstrengungen verrichtet und mit einem Gesangsstil, der hauptsächlich aufs Jodeln (“U‑u-u-u-u-undo”) und die elektronische Glättung ihrer Stimme durch untergelegten Hall setzt.
Große Töne, beiläufige Gesten: Vicky setzt Maßstäbe
Mit anderen Worten: mit all den Methoden der Generation Castingshow, diesen von mir – wenn sie nicht gerade als Vorentscheidung dienten – stets weiträumig vermiedenen TV-Sendungen, in denen Schleifer vom Typ eines Detlef D. Soost oder eines Dieter Bohlen ja ständig sichtbare Anstrengung einfordern und das Publikum so wohl dazu erzogen zu haben, das mit Können zu verwechseln. Und in welchen den Kandidaten jede Form von Persönlichkeit ausgetrieben wird, um sie zu seelenlosen, austauschbaren Produkten zu formen, die ebenso seelenlose, austauschbare Pop-Produkte nachsingen, ohne dazu einen echten inneren Bezug aufzubauen. Und so scheint mir die Favoritenrolle der Sanna Nielsen mit einem Generationswechsel zu tun zu haben: ein Großteil der heutigen Zuschauer, vor allem aber der Löwenanteil der beim Televoting Anrufenden kann schon alleine aufgrund ihres jugendlichen Alters mit den von mir oben aufgeführten Grand-Prix-Heroinnen nichts mehr anfangen: erst im neuen Jahrtausend zum Song Contest gestoßen, kennen sie sie gar nicht mehr! Und sind stattdessen mit Castingshows groß geworden, mit der vergifteten Milch der telemedialen Leistungsschauen gefüttert. Kein Wunder, dass sie die schwedische Jodelschnepfe mit einer Sängerin verwechseln und das belangarme ‘Undo’ mit einer starken Ballade.
Die atemberaubendste Eurovisionsperformance aller Zeiten blieb 2009 auch schon weitgehend ungeschätzt
Ich kann es natürlich auch weniger pathetisch formulieren und schlicht zu der Erkenntnis gelangen, dass die Zeit des von mir so verehrten und zum erstrebenswerten Vorbild verklärten “frankophilen Gefühlssturms” (Thomas Hermanns), der mit versteinerter Miene dargebotenen, dramatisch aufwallenden Schlagerhymne über gescheiterte Beziehungen ebenso längst und unwiderruflich vorbei ist wie die Ära des Orchesters und der zwingend zu einem guten Grand-Prix-Beitrag gehörenden Rückung. Und dass ich mich damit anfreunden muss, dass fast ausschließlich Songs gewinnen, mit denen ich nichts anfangen kann. Was nicht so schlimm ist: auf den niederen Rängen gibt es ja immer noch genügend Lieder, die mir Spaß machen und vom Gesamtkonzept her kann die Sendung ohnehin nichts anderes schlagen. Dennoch halte ich einen möglichen Sieg von Sanna Nielsen für kontraproduktiv für den ESC, denn innovativ, richtungsweisend oder auch nur einigermaßen zeitgemäß (im Sinne von: könnte so innerhalb der letzten zehn Jahre auch in der echten Popwelt existiert haben) ist der Song nun mal nicht.
Was denkst Du? Ist Sanna Nielsens Favoritenstatus gerechtfertigt?
- Diese Wettquoten werden überbewertet. Sanna wird nicht gewinnen. (34%, 39 Votes)
- Ich verstehe es auch gar nicht. Bitte unbedingt ein anderer Sieger! (23%, 27 Votes)
- Ja klar! Das ist eine tolle Ballade, ich weiß gar nicht, was Du hast! (18%, 21 Votes)
- Der Song ist jetzt nicht weltbewegend, aber nett, und ich mag Sanna. Ihr Sieg ist nicht zwingend, aber okay. (10%, 11 Votes)
- Gerechtfertigt ist der Favoritenstatus nicht, aber es gab schon schlimmere Sieger. (9%, 10 Votes)
- Nee, aber man muss auch kein Drama Feddersen’schen Ausmaßes draus machen. Komm mal wieder runter. (6%, 7 Votes)
Total Voters: 115
Sehr gute Analyse! Sehe ich genauso.
Da bin ich völlig beim Hausherren und JA, es wäre ein Drama!
Ach je… die Bookies sind ja immer eine Welt für sich. Wie die nach dem gestrigen Auftritt darauf kommen, Sanna auf Platz 1 zu setzen, wird wohl immer ihr Geheimnis bleiben. Ich hätte eher Andras da oben erwartet, aber bei dem färbt sich grad schon wieder alles rot. Anyway, bei so offenen Jahrgängen wie diesem hier war der Riecher der Bookies noch nie der beste. Sanna wird nicht gewinnen, wenn sie sich bis zum Finale nicht noch steigert. Der Semi-Auftritt war sicher technisch perfekt, ließ aber merkwürdig kühl. Ich hab heute im Laufe des Tages schon öfter das Wort “steril” gelesen. So: Don’t panic! (Das hab ich freilich bei Eric Saade auch gedacht, und was war? Semi gewonnen, Dritter geworden – so better DO panic 😉 )
ich halte den schwedischen Beitrag für unglaublich seelenlos und denke, er wird uns in der musikalischen Entwicklung des ESCs um Jahrzehnte zurückwerfen, wenn sie tatsächlich gewinnt. Ungefähr genauso schlimm wie damals 1983 der Gewinn von Corinne Hermes.
Auch wenn das reine Gedankenspekulation ist: wie hätte Europa und hätten insbesondere die ESC-Fans wohl auf “Undo” reagiert, käme es aus Israel, Aserbaidschan oder Portugal?
Das wird abstürzen. Okay, das dachte ich auch von Loreen, aber Sanna Nielsen startet in der ersten Hälfte. Und in der zweiten warten grandiose Songs aus Italien, Spanien, Ungarn und natürlich auch Dänemark. Genauso wie der niederländische Beitrag, der auf dem Album noch wie bloßes Getrommel auf Plastiktanks klang und vorgestern auf der Bühne plötzlich eine grandiose Inszenierung war. Sanna Nielsen wird (hoffentlich) nicht gewinnen. Klar, das spanische Lied kann man auch nicht für besonders innovativ halten, aber es ist für mich nicht so kühl wie das schwedische Lied. Und die Spanier wären außerdem sowieso mal wieder dran nachdem schon geschlagene 45 Jahre vergangen sind, seitdem sie zuhause eine von vier Siegern waren.
Frau Nielsen wird es nicht so einfach haben wie Frau Talhaoui vor zwei Jahren.
Ich hatte dem song eine chance gegeben und in meiner aktuellen playlist drinnen, ist aber ziemlich bald wieder rausgeflogen weil er mich so genervt hat. Only Teardrops fand ich zwar auch fad, aber es war für mich OK, bei u‑u-u-u-undo hingegen bekomme ich zustände.