Nach dem Semi: Schwe­den ist neu­er Favo­rit 2014

Über die Brücke gehn...
Über die Brü­cke gehn…

Geht es 2015 wie­der­um nur 14 Kilo­me­ter über die Öre­sund­brü­cke zurück nach Mal­mö? Nach dem gest­ri­gen ers­ten Semi­fi­na­le über­holt San­na Niel­sen (SE) den bis­lang füh­ren­den Aram MP3 bei den Wett­quo­ten auf einen Sieg im Fina­le. Nun zeig­te sich der Arme­ni­er im Bal­la­den­teil sei­nes Bei­trags ‘Not alo­ne’ ges­tern Abend tat­säch­lich stel­len­wei­se leicht wack­lig (fing sich spä­tes­tens im Dub­stepp­art aber wie­der) und wirk­te auch ein wenig fahl um die Nase, wäh­rend Frau Niel­sen dies­mal mit kei­nen wider­spens­ti­gen Schein­wer­fern mehr zu kämp­fen hat­te wie noch im Jury­fi­na­le und einen Auf­tritt wie aus dem Lehr­buch für die vor­schrifts­mä­ßi­ge Insze­nie­rung einer eben­so vor­schrifts­mä­ßi­gen Euro­vi­si­ons­bal­la­de hin­leg­te. Und doch kann ich den ful­mi­nan­ten Zuspruch zu die­sem doch arg ver­staub­ten und für mei­nen Geschmack kli­nisch dar­ge­bo­te­nen Song über­haupt nicht nach­voll­zie­hen. Im Gegen­teil: mit so ziem­lich jedem der sich noch im Ren­nen befind­li­chen Bei­trä­ge könn­te ich als Sie­ger­song eher leben als mit ‘Undo’. Was mir zu die­sem Zeit­punkt im Vor­jahr mit ‘Only Teardrops’ übri­gens genau so ging – womit der Aus­gang des dies­jäh­ri­gen Wett­be­werbs wohl besie­gelt sein dürfte…


Unmach mein Trau­rig: San­na zeigt einen fle­xi­blen Umgang mit Spra­che (SE)

Was bloß stört mich an ‘Undo’ so sehr? Der schwe­di­sche Bei­trag ver­sucht sich offen­sicht­lich an der beim Grand Prix über die Jahr­zehn­te hin­weg erfolg­rei­chen For­mel der weib­li­chen Power­bal­la­de. Und ver­fehlt, jeden­falls nach mei­nem Emp­fin­den, in jeder ein­zel­nen Kate­go­rie das Klas­sen­ziel. San­na macht ihre Sache im klei­nen Schwar­zen zwar ganz gut, die Prä­sen­ta­ti­on folgt strikt den klas­si­schen Vor­ga­ben: die Sän­ge­rin steht allei­ne im Mit­tel­punkt, bewegt sich nicht und beschränkt sich, zumin­dest in den Stro­phen, auf weni­ge, spar­sa­me Ges­ten. Der Strah­len­kranz der sie umge­ben­den Schein­wer­fer ver­leiht ihrem Auf­tritt gar etwas Sakra­les. Und doch ver­liert sie den Ver­gleich mit den his­to­ri­schen Vor­bil­dern: sie ver­fügt nicht über die aris­to­kra­ti­sche Nobles­se einer Vicky Lean­dros (LU 1972), nicht über die Stimm­kraft einer Céli­ne Dion (CH 1988), sie erscheint nicht vom bren­nen­den Sie­ges­wil­len durch­drun­gen wie eine Anne-Marie David (LU 1973) und ihre Dar­bie­tung wirkt weder hin­ge­bungs­voll ent­rückt wie bei Mari­ja Šerif­o­vić (RS 2007) noch bei­läu­fig wie die einer Sand­ri­ne Fran­çois (FR 2002) oder einer Patri­cia Kaas (FR 2009). Anders gesagt: im Gegen­satz zu den genann­ten Diseu­sen, deren Erfolgs­ge­heim­nis dar­in bestand, eine anspruchs­vol­le und for­dern­de Vokal­ar­beit anstren­gungs­los erschei­nen zu las­sen und den Sieg klar ein­zu­for­dern, ohne sich auch nur eine Sekun­de lang beim Publi­kum anzu­bie­dern,  buhlt San­na Niel­sen. Mit im Refrain dann doch durch­bre­chen­den gro­ßen Hand­be­we­gun­gen, mit Gri­mas­sen, die kei­nen Zwei­fel las­sen, dass sie gera­de har­te Anstren­gun­gen ver­rich­tet und mit einem Gesangs­stil, der haupt­säch­lich aufs Jodeln (“U‑u-u-u-u-undo”) und die elek­tro­ni­sche Glät­tung ihrer Stim­me durch unter­ge­leg­ten Hall setzt.


Gro­ße Töne, bei­läu­fi­ge Ges­ten: Vicky setzt Maßstäbe

Mit ande­ren Wor­ten: mit all den Metho­den der Gene­ra­ti­on Cas­ting­show, die­sen von mir – wenn sie nicht gera­de als Vor­ent­schei­dung dien­ten – stets weit­räu­mig ver­mie­de­nen TV-Sen­dun­gen, in denen Schlei­fer vom Typ eines Det­lef D. Soost oder eines Die­ter Boh­len ja stän­dig sicht­ba­re Anstren­gung ein­for­dern und das Publi­kum so wohl dazu erzo­gen zu haben, das mit Kön­nen zu ver­wech­seln. Und in wel­chen den Kan­di­da­ten jede Form von Per­sön­lich­keit aus­ge­trie­ben wird, um sie zu see­len­lo­sen, aus­tausch­ba­ren Pro­duk­ten zu for­men, die eben­so see­len­lo­se, aus­tausch­ba­re Pop-Pro­duk­te nach­sin­gen, ohne dazu einen ech­ten inne­ren Bezug auf­zu­bau­en. Und so scheint mir die Favo­ri­ten­rol­le der San­na Niel­sen mit einem Gene­ra­ti­ons­wech­sel zu tun zu haben: ein Groß­teil der heu­ti­gen Zuschau­er, vor allem aber der Löwen­an­teil der beim Tele­vo­ting Anru­fen­den kann schon allei­ne auf­grund ihres jugend­li­chen Alters mit den von mir oben auf­ge­führ­ten Grand-Prix-Hero­in­nen nichts mehr anfan­gen: erst im neu­en Jahr­tau­send zum Song Con­test gesto­ßen, ken­nen sie sie gar nicht mehr! Und sind statt­des­sen mit Cas­ting­shows groß gewor­den, mit der ver­gif­te­ten Milch der tele­me­dia­len Leis­tungs­schau­en gefüt­tert. Kein Wun­der, dass sie die schwe­di­sche Jodel­schnep­fe mit einer Sän­ge­rin ver­wech­seln und das belang­ar­me ‘Undo’ mit einer star­ken Ballade.


Die atem­be­rau­bends­te Euro­vi­si­ons­per­for­mance aller Zei­ten blieb 2009 auch schon weit­ge­hend ungeschätzt

Ich kann es natür­lich auch weni­ger pathe­tisch for­mu­lie­ren und schlicht zu der Erkennt­nis gelan­gen, dass die Zeit des von mir so ver­ehr­ten und zum erstre­bens­wer­ten Vor­bild ver­klär­ten “fran­ko­phi­len Gefühls­sturms” (Tho­mas Her­manns), der mit ver­stei­ner­ter Mie­ne dar­ge­bo­te­nen, dra­ma­tisch auf­wal­len­den Schla­ger­hym­ne über geschei­ter­te Bezie­hun­gen eben­so längst und unwi­der­ruf­lich vor­bei ist wie die Ära des Orches­ters und der zwin­gend zu einem guten Grand-Prix-Bei­trag gehö­ren­den Rückung. Und dass ich mich damit anfreun­den muss, dass fast aus­schließ­lich Songs gewin­nen, mit denen ich nichts anfan­gen kann. Was nicht so schlimm ist: auf den nie­de­ren Rän­gen gibt es ja immer noch genü­gend Lie­der, die mir Spaß machen und vom Gesamt­kon­zept her kann die Sen­dung ohne­hin nichts ande­res schla­gen. Den­noch hal­te ich einen mög­li­chen Sieg von San­na Niel­sen für kon­tra­pro­duk­tiv für den ESC, denn inno­va­tiv, rich­tungs­wei­send oder auch nur eini­ger­ma­ßen zeit­ge­mäß (im Sin­ne von: könn­te so inner­halb der letz­ten zehn Jah­re auch in der ech­ten Pop­welt exis­tiert haben) ist der Song nun mal nicht.

Was denkst Du? Ist San­na Niel­sens Favo­ri­ten­sta­tus gerechtfertigt?

  • Die­se Wett­quo­ten wer­den über­be­wer­tet. San­na wird nicht gewin­nen. (34%, 39 Votes)
  • Ich ver­ste­he es auch gar nicht. Bit­te unbe­dingt ein ande­rer Sie­ger! (23%, 27 Votes)
  • Ja klar! Das ist eine tol­le Bal­la­de, ich weiß gar nicht, was Du hast! (18%, 21 Votes)
  • Der Song ist jetzt nicht welt­be­we­gend, aber nett, und ich mag San­na. Ihr Sieg ist nicht zwin­gend, aber okay. (10%, 11 Votes)
  • Gerecht­fer­tigt ist der Favo­ri­ten­sta­tus nicht, aber es gab schon schlim­me­re Sie­ger. (9%, 10 Votes)
  • Nee, aber man muss auch kein Dra­ma Feddersen’schen Aus­ma­ßes draus machen. Komm mal wie­der run­ter. (6%, 7 Votes)

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7 Comments

  • Da bin ich völ­lig beim Haus­her­ren und JA, es wäre ein Drama!

  • Ach je… die Boo­kies sind ja immer eine Welt für sich. Wie die nach dem gest­ri­gen Auf­tritt dar­auf kom­men, San­na auf Platz 1 zu set­zen, wird wohl immer ihr Geheim­nis blei­ben. Ich hät­te eher Andras da oben erwar­tet, aber bei dem färbt sich grad schon wie­der alles rot. Any­way, bei so offe­nen Jahr­gän­gen wie die­sem hier war der Rie­cher der Boo­kies noch nie der bes­te. San­na wird nicht gewin­nen, wenn sie sich bis zum Fina­le nicht noch stei­gert. Der Semi-Auf­tritt war sicher tech­nisch per­fekt, ließ aber merk­wür­dig kühl. Ich hab heu­te im Lau­fe des Tages schon öfter das Wort “ste­ril” gele­sen. So: Don’t panic! (Das hab ich frei­lich bei Eric Saa­de auch gedacht, und was war? Semi gewon­nen, Drit­ter gewor­den – so bet­ter DO panic 😉 )

  • ich hal­te den schwe­di­schen Bei­trag für unglaub­lich see­len­los und den­ke, er wird uns in der musi­ka­li­schen Ent­wick­lung des ESCs um Jahr­zehn­te zurück­wer­fen, wenn sie tat­säch­lich gewinnt. Unge­fähr genau­so schlimm wie damals 1983 der Gewinn von Corin­ne Hermes.

  • Auch wenn das rei­ne Gedan­ken­spe­ku­la­ti­on ist: wie hät­te Euro­pa und hät­ten ins­be­son­de­re die ESC-Fans wohl auf “Undo” reagiert, käme es aus Isra­el, Aser­bai­dschan oder Portugal?

  • Das wird abstür­zen. Okay, das dach­te ich auch von Loreen, aber San­na Niel­sen star­tet in der ers­ten Hälf­te. Und in der zwei­ten war­ten gran­dio­se Songs aus Ita­li­en, Spa­ni­en, Ungarn und natür­lich auch Däne­mark. Genau­so wie der nie­der­län­di­sche Bei­trag, der auf dem Album noch wie blo­ßes Getrom­mel auf Plas­tik­tanks klang und vor­ges­tern auf der Büh­ne plötz­lich eine gran­dio­se Insze­nie­rung war. San­na Niel­sen wird (hof­fent­lich) nicht gewin­nen. Klar, das spa­ni­sche Lied kann man auch nicht für beson­ders inno­va­tiv hal­ten, aber es ist für mich nicht so kühl wie das schwe­di­sche Lied. Und die Spa­ni­er wären außer­dem sowie­so mal wie­der dran nach­dem schon geschla­ge­ne 45 Jah­re ver­gan­gen sind, seit­dem sie zuhau­se eine von vier Sie­gern waren.
    Frau Niel­sen wird es nicht so ein­fach haben wie Frau Tal­haoui vor zwei Jahren.

  • Ich hat­te dem song eine chan­ce gege­ben und in mei­ner aktu­el­len play­list drin­nen, ist aber ziem­lich bald wie­der raus­ge­flo­gen weil er mich so genervt hat. Only Teardrops fand ich zwar auch fad, aber es war für mich OK, bei u‑u-u-u-undo hin­ge­gen bekom­me ich zustände.

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