Und mal wieder ist es an der Zeit für eine Sichtung der neuesten Perlen auf dem Portal der Internet-Vorentscheidung um die Nachwuchskünstler-Wildcard zum deutschen Vorentscheid Unser Song für Österreich. Weil bald Weihnachten ist, wollen wir das Ganze ein wenig besinnlicher beginnen: als “Flow’n’Roll” bezeichnet das Leipziger Studentenquartett Ms. Erfolg (klasse Name!) seinen Stil. Ihr Titel heißt ‘Und wenn ich sing, dann sing ich’ und klingt nach etwas flotterer Lagerfeuermusik. Und schaut man das Video, kann man sich ziemlich gut vorstellen, mit dem niedlich bezopft-bärtigen Leadsänger und seinen Kommiliton/innen bei einem Chai und einem Tütchen an selbigem zu sitzen und über Gott und die Welt zu philosophieren. Oder zu singen. Schöne Nummer! Alternative Akustikgitarrenmusik mit mitsingfreundlichen deutschen Texten macht auch der Wuppertaler Marcelo Paffenholz, im Hauptberuf zertifizierter Yoga-Lehrer und nach Eigenbeschreibung “hingebungsvoller Mantrasänger”. Mit einer tollen, souligen Stimme übrigens, allerdings auch einem kleinem Flecken auf dem Karmakonto: 2013 versuchte er es schon mal beim Supertalent auf dem bösen Kommerzsender RTL. Dennoch ist sein Song ‘Niemals mehr dieselben’ ein hübscher Soundtrack zum Chillen bei Weihrauch-Räucherkerzen. Liebe und Licht!
Angenehm alternativ: Ms. Erfolg
Ebenfalls über RTL-Erfahrung verfügt Lisa Bund, die Drittplatzierte von DSDS im Jahre 2007. Da erschien denn auch ihr bislang einziges, mittelerfolgreiches Album. Danach folgte die bertelsmanntypische Castingsternchen-TV-Verwertungskette: Gastauftritte in der RTL-Soap GZSZ, beim Promi-Dinner auf Vox und als Blue-Box-Kommentatorin in billigen Rankingsendungen wie Die 10 belanglosesten Belanglosigkeiten, sowie, fast zeitgleich mit dem Auslaufen ihres Plattenvertrags nur ein Jahr später, ein paar Tage im Dschungelcamp. Ein Comebackversuch im Jahre 2011, gepaart mit einer Teilnahme an Big Brother, scheiterte: zuletzt war Bund im Frühjar 2014 kurz in der Sendung Shopping Queen zu sehen – als Verkäuferin im Wiesbadener Wäschegeschäft ihrer Eltern. Eine Klage gegen Youtube[ref]Ironischerweise unter Inanspruchnahme des vom Europäischen Gerichtshof konstituierten “Rechts auf Vergessenwerden”, wo doch sonnenklar erscheint, dass Bund hoffte, mit der Klage per Streisand-Effekt dem Vergessenwerden zu entkommen, weswegen sie gleich die Zeitung einschaltete.[/ref] im Oktober interessierte über die Lokalpresse hinaus auch niemanden. Nun versucht sie es beim Vorentscheid noch mal, und zwar mit einem besinnungslos billigen Partyschlager im lange ausgelutschten Stimmvocodersound, der klingt, als singe Daria Kinzer (HR 2011) ein Geburtstagsliedchen von Ralph Siegel.
Ob das Pailettenkleid auch aus Mamas Kollektion stammt?
Neues gibt’s von unserem Lieblingsflummitechnokünstler Mave O’Rick zu vermelden: neben dem bereits vorgestellten Triebtäterklopper ‘Durch die Wand’ reichte er mittlerweile einen zweiten Titel ein. Das in Kollaboration mit Jear Perry eingespielte ‘Hass / Liebe’ verfügt zwar leider nur über ein eher notdürftig zusammengestoppeltes Lyric-Video, überzeugt dafür aber textlich auf ganzer Linie und beeindruckt auch musikalisch als fluffig-druckvolle Mischung aus Reggae, Dub und Techno mit einem wunderbar mantraartig mitsingbaren Refrain. Gefällt mir fast noch besser als ‘Durch die Wand’ – und offenbart damit Maves Dilemma des vielseitig Begabten: säße ich im NDR-Auswahlkomitee, könnte ich mich nicht zwischen den beiden Stücken entscheiden. Und wählte vermutlich jemand Anderen aus. Beispielsweise Peter Panduranga. Bei ihm und seinem Liedversuch ‘Lächle’ stimmt einfach alles: gutes Aussehen, Spitzenfrisur, engelsgleicher Gesang, smoothe Moves, exquisiter Klamottengeschmack, beeindruckende Kulisse, eingängige Melodie, perfektes Timing, ausdrucksstarke Interpretation, saubere Intonation und sagenhafter Text. Oh Mann, was sich manche Leute denken…
Kann sich Christian Anders noch nicht mal mehr T‑Shirts leisten?
Ich verstehe einfach nicht, wieso der NDR nicht ein wenig Mühe in die Wildcard-Runde steckt und die Show(s) langfristig als Vorentscheidung installiert. Stattdessen bekommen wir wieder eine Show mit Castingshowacts (Mrs Greenbird – die ich mag!, aber ihr letztes Album ist trotzdem kollosal gefloppt), Retrotentotgeburten (GZSZ-Sternchen Oonagh darf gerne in St. Elbistan bleiben) und Huchdiegibtesauchnoch (Gottseidank ist Jeanette Biedermann uns zu ihrer Hochzeit erspart geblieben – dass sie es jetzt versucht, ist aber wenig überraschend).
Dabei gibt es in der Online-Selection schon jetzt viel Potential. Und wenn der NDR wie der ORF einfach mal fähige Menschen mit guten Ideen, Musikgeschmack und Kontakten ranlassen würde, ein paar gute Produzenten engagiert und auf den Digitalkanälen ein paar Sendeplätze freiräumt, auf denen sich die jungen Wilden austoben könnten, dann wäre die Vorentscheidung nicht nur interessanter, sondern auch besser. Aber was rede ich gegen Wände …
Einige meiner aktuellen Favoriten:
Paul Stöher: https://www.youtube.com/watch?v=f86u5rQQhlg
Danga: https://www.youtube.com/watch?v=nIJof8zV38g
Die Felsen: https://www.youtube.com/watch?v=x4Yj_xLScpM
The Emma Project: https://www.youtube.com/watch?v=mkZpc4LXcGc
Romar: https://www.youtube.com/watch?v=Tcxnlym_CpA#t=109
The Outset: https://www.youtube.com/watch?v=LiOga7lHdgQ#t=14
Naja. Wie gut Lagerfeuermusik beim ESC funktioniert, hat man ja dieses Jahr bei Aarzemnieki gesehen…
Greenbird, Oonagh, Biedermann? Sind das Gerüchte/Vorhersagen oder habe ich eine offizielle Mitteilung verpasst?