‘Don’t deny’ – ‘Leugne nicht’, so heißt der armenische Beitrag für Wien, wie wir bereits schon seit einiger Zeit wissen. Im Englischen lässt sich “to deny” auch mit “verweigern” übersetzen, und wenn hier jemand etwas verweigert, dann die Armenier: uns einen richtigen Song nämlich! Das ganze Projekt dient bekanntlich der Thematisierung des von den Osmanen verübten und bis heute von der Türkei verleugneten Völkermords an den Armeniern vor exakt einhundert Jahren. Dass die Türken (und natürlich ihre Brüder, die Aserbaidschaner) sich nach wie vor weigern, die damaligen Vorfälle als Genozid anzuerkennen, bringt die Kaukasier zur Weißglut. Und so wollen sie die Eurovisionsbühne zur Aufklärung nutzen – und ordnen diesem drängenden Bedürfnis gar den Wunsch nach einem Eurovisionssieg unter.
Papa don’t pray: ein Contestlied wie eine Kundgebung
Denn mit einem Contestlied hat das heute Abend veröffentlichte ‘Don’t deny’ so viel zu tun wie die CDU mit wirtschaftlichem Sachverstand: rein gar nichts! Ein bisschen halbherziges Klaviergeklimper und eine ätzende Jazz-Gitarre sowie hastig dahingeschluderte und ‑genuschelte englische Textzeilen leiten nach einer knappen Minute in den Refrain über, der praktisch ausschließlich aus der immer und immer wieder vorgebrachten Kernforderung besteht, mit der Leugnung aufzuhören. Zum Ende hin unterstreichen eingespielte Kirchenglocken die Eindringlichkeit (und moralische Berechtigung) des Verlangens. Man merkt sehr deutlich, dass es hier nicht darum ging, einen Song zu schreiben, der den Menschen ein Wohlgefallen sei, sondern ihnen die Botschaft einzuhämmern. Ob sie sie hören wollen oder nicht. Im Grunde könnten sich die sechs Sänger/innen von Genealogy auch stumm auf die Bühne stellen und Spruchtafeln hochhalten. Nur würden sie dann halt sofort disqualifiziert, auf diese Art und Weise unterlaufen sie die Politik-Zensur der EBU aber haarscharf.
Da hatte sie noch einen Song: Inga (mit Schwester Anush)
Um Genealogy machte das armenische Fernsehen zur Ermüdung der Fans in den letzten Wochen ein gigantisches Bohei, handelt es sich doch, wie man nicht müde wurde, uns zu erklären, um sechs scheibchenweise vorgestellte armenischstämmige Künstler/innen, die in allen fünf Kontinenten der Erde leben, ergänzt um die in der teuren Heimat verbliebene Inga Arshakyan (AM 2009). Auch das weist – von entsprechend auf alt kolorierten Bildern historischer Familienaufnahmen im Clip tränenziehend unterlegt – penetrant aufs Thema hin, hatte der Völkermord von 1915 doch zur Folge, dass ein Großteil der Armenier flüchtete und sich in alle Winde zerstreute. Was fraglos viel Leid und Schicksal verursachte und für die Nachfahren der Betroffenen bis heute eine starke kulturelle Klammer bildet. Was dann letztlich auch dafür sorgen dürfte, das sämtliche Exilarmenier im Mai in hellen Scharen für die Ahnenforscher von Wien anrufen werden. Allerdings auch niemand sonst. Und die Jurys dürften von der EBU bereits – inoffiziell natürlich – entsprechende Instruktionen zum Downvoting erhalten haben, zumal man es sich sicher nicht mit Aserbaidschan und der in den Rückkehrstartlöchern stehenden Türkei verscherzen will. Aber um die Punkte dürfte es selbst den Armeniern diesmal nicht gehen. Soviel mal wieder zum unpolitischen Contest.
Geschickt gemacht , einer Aussortierung durch die EBU zu entgehen.
Wirkt auf mich aber doch etwas chaotisch. Wer soll bei den zahlreichen dargebotenen Künstlern und Musikstilen noch den Überblick bewahren.
Abgesehen davon, dass ich überhaupt nichts dagegen habe, wenn die EBU endlich ehrlich zugeben würde, dass der Contest selbstverständlich immer schon eine politische Komponente hat, finde ich den armenischen Song auch musikalisch klasse. Bisher ist es mir sehr selten passiert, dass ich einen Titel schon beim ersten Hören richtig gut fand. Hier ist genau das passiert.
Absolute Zustimmung zum hier Gesagten. Der Song hat mich vom ersten Moment an tief berührt und ich bin sicher, dass das auch im Mai vielen so gehen wird. Natürlich nicht unseren türkischstämmigen Mitmenschen, denen von Regierungsseite ja eine andere Sicht der Dinge verordnet wird.…
Sicher, wenn man darüber hinweg sehen kann, dass die Stimmen der sechs SängerInnen so gar nicht zueinander passen (und einige, wie die Pseudo-Opernsängerin, auch nicht zum Lied – da ist die Stimme viel zu groß für den Song), der Song musikalisch nahe an “Aina mun pitää” ist, was Fantasielosigkeit angeht – ohne die Punk-Rechtfertigung zu haben – und wir ohnehin schon eine Flut von Balladen dieses Strickmusters haben. Da Armenien auch noch im härteren Semi antreten muss, wird das ein ganz hartes Stück Arbeit. Mit der richtigen Inszenierung und Anpassung sollte das Finale drin sein – wir reden hier von dem Land, das 2013 “Lonely Planet” ins Finale gebracht hat, während das deutlich bessere “Identitet” aus Albanien auf der Strecke blieb -, aber mehr halte ich für absolut ausgeschlossen, zumal Armenien ja nun längst nicht die einzige bewegende Story hinter seinem Song hat. (Finnland, Polen…)
Und hier so nebenbei sämtlichen Türken und türkischstämmigen Menschen jegliches eigene Denkvermögen abzusprechen – der Kommentar liest sich wie “wenn ein Türke den Song nicht mag, liegt das daran, dass ihm das von seiner Regierung so vorgeschrieben wurde” -, würde ich auch als grenzwertig empfinden, wenn ich nicht selbst in diese Schublade passen würde. Ich bin türkischstämmig, ich leugne den Holocaust an den Armeniern nicht, und mir gefällt “Don’t Deny” trotzdem nicht. Nach der Logik des Kommentars gibt es mich also eigentlich gar nicht, was für einen Kommentar zu einem Song namens “Don’t Deny” eine hübsche Pointe ist.
Auch wenn ich geschmacklich (zumindest in diesem Fall) nicht mit Dir auf einer Linie liege, möchte ich Deinem Statement auf jeden Fall meinen Respekt zollen!
Was den Song betrifft, muss ich Dir zwar in manchem Recht geben, z.B. dass die Stimmen noch nicht so optimal harmonieren. Aber ich mag den Titel tatsächlich. Wenn ich mich frage, warum, fallen mir vor allem ein:
1.) ich liebe Bombast schon immer. Und in diese Kategorie fällt es definitiv.
2.) Bislang ist das in diesem Jahrgang der rockigste Titel (nein, die Finnen kann ich nicht ernsthaft zählen). Sowas belohne ich immer 🙂
3.) Ich habe mich wirklich gefreut, Inga Arshakyan wiederzusehen und vor allem zu ‑hören. Sie hat ja den tragendsten Part und macht das supergut.
4.) Auch wenn man über den Stilmix vielleicht streiten könnte, alle liefern stimmlich richtig gut ab.
Und übrigens, nur falls jemand fragt: ich habe keinerlei armenische Wurzeln.