Der Lum­pen­samm­ler nach Wien

Eigent­lich soll­te heu­te Vor­mit­tag noch ein aus­führ­li­cher Bericht zum Melo­di Grand Prix fol­gen, das ich am Sams­tag nicht mehr schaff­te und Sonn­tag früh nach­zu­ho­len gedach­te. Doch dann mach­te mir die Tech­nik einen Strich durch die Rech­nung – nie wie­der PCs oder Lap­tops von Acer! Und zwi­schen­zeit­lich sta­peln sich hier die noch in letz­ter Minu­te vor dem Ein­sen­de­schluss aus­ge­wähl­ten oder upge­da­te­ten Bei­trä­ge für Wien. Daher jetzt im Schnell­durch­lauf alles Wich­ti­ge vom Wochen­en­de. Die Nor­we­ger ent­schie­den sich am Sams­tag sehen­den Auges für noch eine Bal­la­de – und sie tra­fen damit eine gute Wahl. ‘Mons­ter like me’ von Mør­land und Deb­rah Scar­lett klingt nicht nur vom Namen her wie die Titel­me­lo­die einer Teen­ager-Vam­pir-Dra­ma-Serie, auch musi­ka­lisch und text­lich über­zeugt das düs­te­re und dra­ma­ti­sche Stück durch Tief­gang und Hin­ga­be. Selbst das inter­pre­tie­ren­de Duo sieht pas­send blut­arm aus. Mei­ne neue Lieb­lings­bal­la­de des aktu­el­len Jahrgangs!


Nick Cave und Kylie grü­ßen mit einer Wild­ro­se freund­lich aus Tra­li­en: Mør­land & Deb­rah (NO)

Eine wei­te­re Bal­la­de kommt aus Aser­bai­dschan, von dem bis zur letz­ten Sekun­de unklar war, ob es ange­sichts der arme­ni­schen Völ­ker­mord-Erin­ne­rungs-Num­mer mit­ma­chen wür­de oder nicht. Macht es nun: ich bin schon mal gespannt, ob es in Wien noch Gezi­cke und Geplän­kel zwi­schen den ver­fein­de­ten Län­dern gibt. Wie schon seit Tagen gerüch­tet, mel­de­te der Ölstaat vom Kas­pi­schen Meer heu­te Elnur Husey­n­ov als sei­nen Reprä­sen­tan­ten in Wien. Der ver­trat das Land des Feu­ers bereits bei des­sen Euro­vi­si­ons­pre­mie­re im Jah­re 2008, sei­ner­zeit als Engel mit CSD-Schwup­pen­flü­gel­chen und gal­le­gel­ben Kon­takt­lin­sen ver­klei­det. Die dürf­ten heu­er zuhau­se blei­ben: sein aktu­el­ler Bei­trag heißt ‘Hour of the Wolf’ und beginnt stil­ge­recht mit Wolfs­ge­heul (zur Ein­schüch­te­rung der Juro­ren?), um dann als sanft-pom­pö­se Gei­gen­bal­la­de wei­ter­zu­ma­chen. Auch an einer Rückung spar­te man nicht, und Elnur fal­set­tet sich dazu die Stimm­bän­der aus dem Leib. Wie alles aus Aser­bai­dschan hand­werk­lich gut gemacht (bzw. ein­ge­kauft), aber in die­sem Jahr des Bal­la­de­no­ver­kills nicht beson­ders genug, um herauszustechen.


Elnur: Der Wolf, das Lamm, auf der grü­nen Wie­se… (AZ)

Für Lan­des­spra­chen-Nost­al­gi­ker stellt sich 2015 ein eben­so har­tes Jahr her­aus wie für Freun­de upt­em­po­rä­rer Spaß­bei­trä­ge: selbst das bis­lang ver­läss­li­che gal­li­sche Dorf Isra­el gab heu­er den Judas und schwenk­te vom bis­lang zu min­des­tens 50% ver­bind­lich vor­ge­schrie­be­nen Hebrä­isch aufs rei­ne Eng­lisch um. Und nun geben auch noch die Süd­sla­wen nach: sowohl der Maze­do­ni­er Dani­el Kaj­ma­ko­ski wird nach eige­ner Pres­se­mit­tei­lung sei­ne bereits im Novem­ber 2014 aus­ge­wähl­te Bal­kan­bal­la­de ‘Lis­ja Esen­ski’ in Wien als ‘Autumn Lea­ves’ prä­sen­tie­ren, wie auch die ser­bi­sche Wucht­brum­me Boja­na Sta­menov, die sich mit ihrer von Anfang an geäu­ßer­ten Prä­fe­renz für die Welt­spra­che des Pop gegen die Kul­tur­be­wah­rer des hei­mi­schen Sen­ders durch­setz­te und ihren Valen­ti­na-Monet­ta-Gedächt­nis-Stil­mix (SM 2013) als ‘Beau­ty never lies’ singt. Offen­bar, das heu­te vor­ge­stell­te Video mit Fan­be­tei­li­gung lässt dar­auf schlie­ßen, ging es ihr um die löb­li­che Bot­schaft der Selbst­ak­zep­tanz, die sie unters Volk streu­en möch­te. Scha­de, dass dabei der Charme des Lie­des voll­ends auf der Stre­cke bleibt.

Die Schön­heit eines Voll­bar­tes lügt nie: Boja­na (RS)

A pro­pos Valen­ti­na: San Mari­no gab heu­te huld­voll zumin­dest den Titel sei­nes Songs für Wien bekannt: ‘Chain of Light’ heißt der und wird, wie schon gefühlt seit der Krei­de­zeit fest­steht, inter­pre­tiert von zwei san­ma­ri­ne­si­schen Juni­or-Euro­vi­si­ons-Teil­neh­mer/in­nen, näm­lich Miche­le Per­nio­la und Ani­ta Simon­ci­ni. Die offi­zi­el­le Lied­vor­stel­lung soll erst mor­gen erfol­gen, den­noch sicker­te der Titel bereits durch, und dies, obwohl er sich musi­ka­lisch so absto­ßend über­süß und zäh ergießt wie Zucker­rü­ben­si­rup: die Spe­ku­la­tio­nen lau­fen bereits auf Hoch­tou­ren, dass erneut Ralph Sie­gel hin­ter dem Musi­cal­song steckt, und spä­tes­tens beim Refrain, der wie ein Pot­pour­ri aus ‘If we all give a litt­le’ (CH 2006) und ‘Frie­den für die Ted­dy­bä­ren’ (DVE 1987) klingt und von Lich­ter­ket­ten aus Ker­zen berich­tet, die wir alle ent­zün­den sol­len, greift man zur Spuck­tü­te und weiß ein­fach: jawohl, Mr. Grand Prix hat’s ver­bro­chen. Er kann halt nicht anders. Irgend­wie ver­fügt das Arran­ge­ment ja auch über Charme: Onkel Ralph hat sei­nen Grand-Prix-Spiel­platz und der Winz­staat erhält ein­mal im Jahr kos­ten­los etwas Auf­merk­sam­keit. Win-Win. Außer für uns.


If we all hit Ralph Sie­gel / Euro­vi­si­on would be fun for everyone ℠

Als noch här­te­re Pro­be für die Belast­bar­keit des Ver­dau­ungs­trak­tes ent­pupp­te sich erwar­tungs­ge­mäß das seit heu­te ver­füg­ba­re voll­stän­di­ge Video zum rus­si­schen Bei­trag ‘A Mil­li­on Voices’ von Poli­na Gaga­ri­na. Das über­trifft an kalt berech­nen­dem Welt­frie­dens­kitsch alles, was der deut­sche Alt­meis­ter jemals zusam­men­ge­sus­elt hat. Und zwar um ein Viel­fa­ches! Hof­fen wir mal, dass San Mari­no mit sei­ner Wir-haben-uns-alle-lieb-Num­mer nicht ähn­li­che Absich­ten bemän­telt wie Russ­land, und dem­nächst Ligu­ri­en annek­tiert. Ande­rer­seits kann man mit ‘A Mil­li­on Voices’ sehr viel Spaß haben, wenn man mal auf die bereits in der Stu­dio­fas­sung evi­den­ten Aus­sprach­e­pro­ble­me Poli­nas ach­tet. Da geht es näm­lich bereits mit “We are the worst Peo­p­le” auf das Schöns­te los – gro­ßes Lob für die­ses Ein­ge­ständ­nis! Und dann folgt noch ein “Pray­ing for Bears and Nel­lys”: ist das jetzt schwu­len­feind­lich, weil für die Homo-Hei­lung betend, oder ein Ver­söh­nungs­an­ge­bot der anti­quee­ren Putin-Regie­rung an die Bären und Tunten?


Poli­na und die Kin­der von Ste­pford (RU)

Und dann stell­te zugu­ter letzt auch noch Elhai­da Dani ihren Euro­vi­si­ons­bei­trag vor. Zum zwei­ten Mal, denn der Ende Dezem­ber beim alba­ni­schen FiK aus­ge­wähl­te Song ‘Diell’ wur­de wegen angeb­lich man­geln­der Rech­te­frei­ga­be durch den Autoren – ver­mut­lich wegen Danis Wunsch, auf Eng­lisch zu sin­gen – im Febru­ar zurück­ge­zo­gen. Heu­te prä­sen­tier­te sie den Ersatz­ti­tel ‘I’m ali­ve’, eine Num­mer, über die ich beim bes­ten Wil­len nichts ande­res sagen kann als: sie ist da. Der Song ist weder Fleisch noch Fisch, so mit­tel­schnell, ver­fügt über eine Struk­tur und einen Refrain (der aber nicht in den Gehör­gän­gen haf­tet), ist nett instru­men­tiert (ver­brei­tet aber null Bal­kan­flair) und zumin­dest in der Stu­dio­fas­sung schreit Elhai­da nicht über­mä­ßig her­um, wie es die Alba­ne­rin­nen sonst so ger­ne tun, singt aber auch nicht fili­gran. Es ist ein Alb­um­füll­ti­tel, Hin­ter­grund­mu­sik, nichts, was all zu sehr nervt, aber auch nichts, das Auf­merk­sam­keit ein­for­dert. Da halt.

Sie lebt, wie schön für sie: Elhai­da (AL)

Dei­ne Ein­schät­zung: wel­ches von den hier vor­ge­stell­ten Län­dern schafft’s in Finale?

  • Nor­we­gen, ohne jede Fra­ge. Das spielt sogar um den Sieg mit. (41%, 95 Votes)
  • Aser­bai­dschan: zu gut zum Hän­gen­blei­ben. Außer­dem ist es Aser­bai­dschan. (29%, 69 Votes)
  • Ser­bi­en: dank inter­na­tio­na­ler Ver­ständ­lich­keit jetzt mit bes­se­ren Chan­cen. (15%, 35 Votes)
  • Alba­ni­en: der Song hat inter­na­tio­na­les For­mat. (11%, 26 Votes)
  • San Mari­no: es gibt einen Markt für zucker­sü­ße Welt­frie­dens­hym­nen. (4%, 9 Votes)

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6 Comments

  • Falls die Spuck­tü­te noch nicht voll ist: Das rus­si­sche patho­st­rie­fen­de Stück berech­nen­der Heu­che­lei ist seit heu­te in vol­ler Län­ge als Video zu ertragen.

  • Ich mag immer noch das est­ni­sche Sum­mer­vi­ne lie­ber als die nor­we­gi­schen Wild Rose. Und der Anfang der Sie­gel­num­mer war auch sehr viel­ver­spre­chend. Scha­de nur, dass es dann doch wie­der in eine Welt­frie­dens­kitsch­hym­ne kippt.

  • Ich fin­de es ja wirk­lich klas­se, dass man in Nor­we­gen das Orches­ter wie­der ein­ge­führt hat. Die Reak­tio­nen der­je­ni­gen Künst­ler, die davon Gebrauch gemacht haben,waren jeden­falls äußerst begeistert.
    Ich hof­fe immer noch dar­auf, dass man auch bei der gro­ßen Show irgend­wann wie­der Live Musik bie­tet, allen Kos­ten­fra­gen und zusätz­li­chen Pro­ble­men beim Umbau zum trotz. Natür­lich habe ich nichts gegen alter­na­ti­ve oder ergän­zen­de Back­ing-Tapes, aber durch Live-Mucke könn­te das Ereig­nis nur gewin­nen (ich fand es immer schon blö­de, wenn die Instru­men­ta­lis­ten auf der Büh­ne simu­lie­ren mussten).
    Dann kommt viel­leicht doch irgend wann ein­mal eine so gute Ver­an­stal­tung her­aus wie etwa das alba­ni­sche Liederfest.

    A pro­pos Alba­ni­en: Alba­ni­en war bei mir eigent­lich stets unter den Top 3. Die­ses Jahr wird das erst­ma­lig nicht so sein. Schon Diell fand ich nicht ganz so toll wie frü­he­re Bei­trä­ge, aber das see­len­lo­se Teil, was jetzt am Start ist, kommt trotz bes­ter tech­ni­scher Fer­tig­kei­ten der Sän­ge­rin nicht annä­hernd in die­se Rich­tung. Scha­de. Das kommt davon, wenn sich alle an den (wirk­li­chen oder ver­meint­li­chen) Main­stream anbie­dern. Viel­falt und Eigen­stän­dig­keit ade.

  • Mei­ne Fra­ge an Russ­land und San Mari­no: Euer Ernst?

    Ich hab mich schon so auf den Bei­trag aus San Mari­no gefreut und bin maß­los ent­täuscht wor­den. Wenigs­tens hat Ralph Sie­gel end­lich sei­ne Hei­mat gefun­den und kann auch mit Leu­ten arbei­ten, die nicht Valen­ti­na Monet­ta heißen.

    Ist “A Mil­li­on Voices” von Die­ter Boh­len geschrie­ben wor­den? Oder bedient sich Mos­kau neu­er­dings in Mal­ta. Musi­ka­lisch wie “My Dream” (Mal­ta 2010) und dazu ein Musik­vi­deo, das mich an das Video von “One Life” (Mal­ta 2011) erinnert.
    Ach ja, und sti­lis­tisch wie “Water­fall” (Geor­gi­en 2013), mit dem man ja den ESC nach Tif­lis bom­ben woll­te, was aber dann gründ­lich dane­ben gegan­gen ist.

  • Nein das Nick/Ky­lie-Gedäch­nis­stück geht klar nach Est­land. So vor­der­grün­dig auf Emo­tio­nen wie hier wür­de Nick Cave nie kom­po­nie­ren. Außer­dem fließt in dem esti­schen Video reich­lich Blut und es wird ein gro­ßes Mes­ser gezückt. Ok zur Tat reicht es nicht, aber die Zei­chen sind ein­deu­tig. Außer­dem ist Nicks Stim­me klar tie­fer. Aber ich gebe dir recht, die Sän­ge­rin hat wirk­lich etwas geheim­nis­vol­les, was das Lied inter­es­sant macht.

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