So – endlich in Wien aufgeschlagen, vergnüglichen ersten Abend hinter mir und noch leicht unterkoffeiniert im Pressezentrum sitzend. Heute proben die fixen Finalisten zum ersten Mal, und bis dato sieht es nicht so aus, als ob sie diesen Status verdient hätten. Die im Vorfeld von vielen Seiten bereits als mögliche Sieger gehandelten italienischen Knödeltenöre von Il Volo erscheinen im Anzug, scheinen mit technischen Problemen zu kämpfen – es klingt alles andere als harmonisch – und lassen auf der Projektionswand die Standard-Powerpoint-Präsentation “Rom für Touristen in fünf ausgelutschten Klischees” laufen. Ja, ihr Klassikschlager träufelt sich in die Gehörgänge wie Blütenhonig, zwei von den Dreien sehen ganz niedlich aus, aber insgesamt verbreitet der Auftritt doch den Eindruck, dass man bei der RAI entweder nicht siegen möchte oder sich im Gegenteils gar bereits zu sicher ist, den Event in der Tasche zu haben. Und damit gewinnt man die Herzen nun einmal nicht.
Die Makemakes replizieren unterdessen im Wesentlichen ihren Vorentscheidungsauftritt, inklusive diesmal lichterloh brennendem Klavier (dem zumindest optischen Anknüpfungspunkt an Österreichs Sieger von 1966, Udo Jürgens), was mit Flammenprojektionen im Bühnenboden unterstützt wird. Natürlich dürfen auch die Common-Linnets-Gedächtnishüte nicht fehlen. Dennoch will das alles irgendwie nicht richtig zünden. Mit der selbst gewählten Startposition 14 und einem mittellahmen Lied zielt der ORF ohnehin auf ein Mittelfeldergebnis, und genau das dürfte für die bärtigen Langhaarzottel (was bitte als Kompliment zu verstehen ist) auch herauskommen. Insofern: Plansoll erfüllt.
Trickkleid und halbnackter Muskeltänzer: die Spanierin Edurne weiß, wer ihre Zielgruppe ist! Sie trägt Natalie Horlers (Cascada, DE 2013) Goldkleid noch mal auf, das sie aber zu Beginn unter einem roten Cape mit riesiger Schleppe verbirgt, welche zu halten zunächst die Kernaufgabe ihres kernigen Tänzers mit dem passenden Namen Guiseppe di Bella darstellt, während die Spanierin vorsichtig ihre Möpse quetscht. Pünktlich zum ersten (nicht vorhandenen) Refrain kommt der Umhang herunter und wird von Sepp ordentlich hinter der Bühne verstaut. Aber erst, nachdem er Edurne ein wenig herumgehoben hat. Was wohl vor allem dem Zweck dient, uns seine beeindruckenden Muskeln zu präsentieren. Nicht, dass ich mich darüber beschweren möchte! Eine leichte Loreen-Pose (die halbe Krabbe) und die Windmaschine runden das Potpourri der hübschesten visuellen Eurovisionsklischees der letzten fünf Jahrgänge ab, und natürlich wird damit für die Spanier kein Blumentopf zu gewinnen sein, aber dafür die Liebe der klassisch konditionierte Eurovisionsschwuppe. Danke, Spanien!
Und danke, Ann Sophie! Ich bin ja nun eher nicht bekannt dafür, den heimischen Beitrag unkritisch zu bejubeln, aber ich muss sagen, die deutsche Probe hinterlässt mich beeindruckt. Ann Sophie regiert die Bühne! Beleuchtet von einem Landebahn-Scheinwerfer, der ihr stellenweise eine Art Heiligenschein verleiht, überzeugt sie optisch im schwarzen Hosenanzug, langem Ohrgehänge und mit wunderbar divaesken Posen, die sie mit ironischem Augenaufschlag und im besten Sinne selbstbewusstem Strahlen perfekt abfedert. Auf dem Bühnenhintergrund wabern Tintenkleckse (ich weiß, es soll Rauch sein, sieht aber nicht so aus), die je nach persönlicher Prädisposition an närrische Pilze oder Uterusse erinnern, was den Auftritt etwas weicher macht und zusätzlich die Gefahr bannt, dass es arrogant wirken könnte. Lediglich der Instrumental Break von ‘Black Smoke’, der doch arg das Tempo aus der Nummer nimmt, bremst mehr als nötig ab. Weiterhin keine Top Ten also, aber der letzte Platz wird es nun auch nicht mehr. Wir haben definitiv nicht die zweite Wahl nach Wien geschickt!
Wie auf LSD im Eurodisney-Space Mountain (danke an Mario Lackner!), so fühlt sich der britische Auftritt an. Kribbelbunt-psychedelischer Bühnenhintergrund, Schwarzlichtspiele und ein wenig an die Springbretter in Freibädern der Zwanzigerjahre erinnernde Showtreppenelemente bereiten den Boden für die fabelhafte Trash-Wiederauferstehung von Julie & Ludwig (MT 2004, und für sich genommen schon trashig genug): Ludwig als Roger Cicero (DE 2007) alias Balu der Bär im schlimmen Glitzeranzug und Julie als pinke Elfe mit umgeschnallten Lebenserhaltungssystemen auf dem Rücken, was ihrem Gesundheitsratgebertext zusätzliche Tiefe verleiht. Nicht. Dazu der großartige Käptn-Iglo-Werbemelodie-Schlager: mehr Camp geht nun wirklich nicht! Für eine Popnation wie Großbritannien natürlich ein Monument der Schande, für Car-Crash-Gourmets ein absoluter Gaumenschmaus!
Mein Gott, ist Mireille Mathieu aber aus dem Leim gegangen! Lisa Angell steht mit Kochtopfschnitt und einem wenig figurschmeichelnden Kleid aus der Boutique für die gesetzte Dame ab 70 vor einem computergenerierten Hintergrund mit Friedenstauben und Kriegsruinen, den offensichtlich ein Microsoft-Praktikant in der Zigarettenpause zusammengeschustert hat und der den Inhalt des Weltkrieg-Mahnliedes transportieren soll, die stimmlich herausragende Französin aber optisch leider völlig erschlägt. Da retten auch die vier an Regina (BA 2009) erinnernden Trommler nichts mehr, die zum Songfinale hinzukommen. Schade!
Bleibt als letzter fixer Finalist der ebenfalls bis heute als möglicher Sieger gehandelte Guy Sebastian aus Tralien, auch er im Roger-Cicero-Hütchen und noch etwas vom Jetlag gezeichnet. Wie schon bei Lisa Angell arbeitet auch hier die Hintergrundanimation gegen den Künstler, mit dem Unterschied, dass man bei der Französin wenigstens noch die Idee dahinter erkennen konnte. Weswegen aber Guy auf einer stilisierten belgischen Autobahn stehend singt, erschließt sich mir nicht – außer, es handelt sich um den diskreten Hinweis der EBU, doch bitte nicht die Aussies gewinnen zu lassen, sondern den smarten Rappappapp-Buben. Wogegen ich wiederum nichts einzuwenden hätte. Mal schauen, wo der ORF am Samstag den Guy in der Startreihenfolge platziert…
[…] Bühne frei für seinen heutigen Eintrag auf aufrechtgehn.de! […]
So abgrundtief ich “Black Smoke” anfangs gehasst habe, so positiv überrascht bin ich doch von der Probe. Ann Sophie hat sich da echt gemacht. Zwar gehe ich eher von einer Platzierung zwischen zwölf und fünfzehn als von der Top 10 aus, besonders weil sie sich stimmlich ein wenig zu sehr übernimmt, aber es scheint doch schon so, als ob sich der NDR wirklich ein kleines bisschen bemühen würde. Bleibt nur zu hoffen, dass da am Samstag kein dummer Einfall seitens der Delegationsleitung kommt. Aber die Probe hat mich endgültig mit unserem Beitrag versöhnt, auch wenn er wohl auf ewig zu kalt bleibt, um mein Herz zu erobern.
Viel Spaß in Wien! 🙂