Nachdem der Daily Express gestern schon etwas nebulös von einer “Talentejagd im X‑Factor-Stil” fabulierte, mit der das Mutterland des Pop seinen Beitrag zum Song Contest 2016 finde wolle, bringt die BBC heute in einer offiziellen Ankündigung etwas mehr Klarheit in das Verfahren. Tatsächlich wollen es die Briten mit einer Mehrfachstrategie versuchen, die alle möglichen Quellen anzapft. Die Sensation: erstmals werden auch die organisierten Fans eingebunden! Das einzige Format, das der BBC-Mitteilung zufolge nicht als Teil des mehrstufigen Vorentscheids fungiert, ist die Castingshow – so viel zur Akkuratesse der Qualitätsmedien! Los geht es ab sofort mit einem Internet-Vor-Vorentscheid für Amateure nach dem Vorbild des Schweizer Fernsehens, wie ihn auch der NDR für sein Clubkonzert nutzt. Jeder über 18 darf noch bis zum 20. November 2015 ein Video mit seinem Song (der natürlich die üblichen Eurovisionsregeln einhalten und live gesungen sein muss) auf die BBC-Plattform hochladen. Äußerst sinnvolle Einschränkung gegenüber dem helvetischen Format: wer mitmachen will, muss sich getreu des Mottos “Jeder nur ein Kreuz!” auf einen Titel beschränken. Damit will man vermutlich die Überflutung durch besonders hoffnungslose Talente stoppen, die mit Vorliebe stets gleich ihr gesamtes Œuvre hochladen.
Muss künftig nicht mehr auf Moldawien ausweichen: das britische Castingsternchen Kitty Brucknell
Jetzt kommt der Clou: die Auslese dieses Fundus erfolgt nicht per Internetabstimmung und / oder eine Jury aus Grauen Herren, sondern durch den britischen Ableger des Eurovisionsfansclubs OGAE. Eine fantastische Idee – wer wäre qualifizierter als die Hardcore-Grand-Prix-Enthusiasten, aus diesem unvermeidlich mit Trash gefüllten Augiasstall die echten Eurovisionsperlen herauszupicken (und nicht nur zehn Schattierungen von beige, lieber NDR)? Alasdair Rendall, der Präsident der OGAE UK, zeigt sich entsprechend begeistert: “Es ist eine riesengroße Ehre – und sehr aufregend – für uns OGAE-Mitglieder, dass uns eine Schlüsselrolle in der Suche nach dem Beitrag des Vereinigten Königreichs für die Eurovision 2016 zukommt”. Doch dies ist nur eine von insgesamt drei Quellen für den möglichen britischen Song. Die BBC erneuert ihre vor Jahren beendete Zusammenarbeit mit dem britischen Komponistenverband BASCA, die unter ihren Mitgliedern ebenfalls einen Wettbewerb um den besten Grand-Prix-Beitrag ausruft. Und schließlich bedient sich der öffentlich-rechtliche Sender der Zusammenarbeit mit dem früheren Labelchef von RCA, Hugh Goldsmith, der als externer Berater die britische Musikindustrie dazu bewegen soll, etablierte Künstler/innen für den Contest zu gewinnen.
Würden die OGAYer die bessere Auswahl aus dem deutschen Amateur-Vorentscheid treffen als die NDR-Jury? Ich glaube: ja!
Alle diese Wege sollen schließlich in einer öffentlichen Vorentscheidung münden, in der dementsprechend Amateure gegen Professionelle und (hoffentlich) bekannte Stars antreten. Anders als im Daily Express-Artikel liest sich die BBC-Ankündigung jedoch so, als ob im Finale des britischen Vorentscheid-Verfahrens nicht nur das Publikum, sondern auch eine Jury abstimmt. Buh! Einen Termin für die Sendung gibt es noch nicht, weitere Einzelheiten wolle man zu einem späteren Zeitpunkt bekannt geben. Nun bleibt es spannend, ob sich – wie in Deutschland – auch in Großbritannien etablierte Künstler/innen finden, die das Wagnis eingehen, gegen Unbekannte anzutreten, verbunden mit dem Risiko, als Branchengoliath gegen einen solchen David zu verlieren (vgl. das Unheilig-versus-Elaiza-Fiasko). Zumal gerade auf der Insel die Vorbehalte gegen die nach wie vor als Trash-Format empfundene Show besonders hartnäckig festsitzen. So scheint es vor allem der Mut der Verzweiflung gewesen zu sein, der die BBC zu diesem radikal anmutenden Neuanfang bewog. Und solche radikalen Schritte bringen ja oft die besten Ergebnisse hervor – siehe Lena Meyer-Landrut. Viel Glück, liebe Briten!