Glaubt man der schwedischen Boulevardzeitung Aftonbladet und dem britischen Gossip-Magazin Popbitch, dann kämpft die EBU derzeit mit einem Korruptionsskandal von geradezu fifaesken Ausmaßen, in deren Mittelpunkt der Event-Supervisor für den Eurovision Song Contest, Sietse Bakker, steht. Schmierenkampagnen, Direktvergaben, abgebrochene interne Untersuchungen, fragwürdige öffentliche Ausschreibungen und die Entlassung missliebiger Kollegen sind die Zutaten des schwedisch-schweizerischen Intrigantenstadls, folgt man den Anklägern. Oder aber, auch diese Sichtweise ist möglich: eine Ansammlung von Verdrehungen, aus dem Kontext gerissener Zitate, maßlos aufgeblasener Nichtigkeiten und Verschwörungstheorien. Beginnen wir mit einer Übersicht der handelnden Personen.
Bakker spricht zum Thema Australien beim ESC
Der Niederländer Sietse Bakker (31) gründete im Jahre 2002 die unabhängige, englischsprachige Website esctoday.com, eine Zeitlang die führende Nachrichtenquelle für Eurovisionsfans. Hier lieferten unbezahlte Korrespondenten (bis Ende 2004 war ich einer davon) aus ganz Europa News und Gerüchte rund um unseren Lieblingsevent zu. Sie tun das noch immer, heute dümpelt die Seite aber ziemlich relevanzlos vor sich hin, was (auch) mit dem Wechsel des Gründers auf die dunkle Seite der Macht zusammenhängt: 2006 machte die EBU Sietse Bakker zum Manager für Neue Medien und beauftragte ihn mit der Neugestaltung der offiziellen Seite eurovision.tv, später folgten die Ernennung zum PR-Chef sowie zum Event Supervisor für den Eurovision Song Contest und zeitweilig für den Junior-ESC. Sietse ist Inhaber der Beratungsfirma Wow!Works, über welche die Beauftragungen liefen. Nach Angaben von Popbitch kassiert Wow!Works für das Managen der Eurovisions-Website, die ebenfalls von unbezahlten Schwurnalisten gelieferte News enthält, jährlich rund 320.000 €.
Einer der früheren esctoday.com-Korrespondenten, Jarmo Siim, folgte als Wow!Works-Mitarbeiter seinem Chef und erhielt den Posten des Pressesprechers für den Eurovision Song Contest. Nachdem das Aftonbladet im Juni diesen Jahres eine private Facebook-Nachricht Siims, in der er im Vorfeld des Wettbewerbs zu Wien angeblich einen griechischen Journalisten ermutigt haben soll, eine “Schmierenkampagne” gegen den Wettquotenkönig (und späteren Sieger) Måns Zelmerlöw zu fahren, zum Skandal hochjazzte, trat dieser von seinem Posten zurück. Nun kann man den Vorfall so interpretieren, dass der Este tatsächlich versuchte, einer Disqualifikation des Zelmerlöw-Titels ‘Heroes’ wegen dessen musikalischer Nähe zu einem David-Guetta-Stück den Weg zu ebnen. Oder aber man glaubt, so wie ich, dass es sich um einen kameradschaftlichen Scherz (frei nach dem Motto: “Versuch’s doch mal!”) zwischen befreundeten Kollegen handelte, der nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war und von dem schwedischen Boulevardblatt völlig aus dem Zusammenhang gerissen wurde.
Nochmal Glück gehabt: das Mönzchen siegte trotz Schmierenkampagne
Im Zusammenhang mit diesem Sturm im Wasserglas kritisierten Aftonbladet und Popbitch auch die intransparente Direktvergabe der lukrativen Beratungstätigkeiten an Sietse Bakker. Was man natürlich als Skandal betrachten kann – oder vor dem Hintergrund, dass die professionelle Nutzung des Internets zum Zwecke der Zuschauerbindung für den Eurovision Song Contest für die EBU Anfang dieses Jahrtausends noch ziemliches “Neuland” (A. Merkel) darstellte und man sich verständlicherweise jemanden ins Boot holen wollte, der zu diesem Zeitpunkt bereits unter Beweis gestellt hatte, wie man so etwas erfolgreich macht. Am 16. Oktober gab die EBU bekannt, die Online-Leistungen für alle Eurovisionsshows sowie die Öffentlichkeitsarbeit nun ausschreiben zu wollen. Bakker kündigte am gleichen Tag an, seine Ämter nach Abschluss des aktuellen Jahrgangs niederzulegen, sich allerdings mit seinem Unternehmen Wow!Works an der Ausschreibung beteiligen zu wollen.
Nun könnte man also Bakker und der EBU applaudieren, die geforderte Transparenz hergestellt zu haben. Nicht so die Verschwörungstheoretiker von Popbitch (eine von mir übrigens ansonsten sehr geschätzte Seite!), die sich jetzt an der kurzen Ausschreibungsfrist von vier Wochen und einigen Teilnahmedetails stören und unterstellen, die ganze Maßnahme sei gezielt auf Sietse zugeschneidert. Außerdem präsentieren sie ein neues Opfer: Kath Locklett, Pressechefin beim Junior Eurovision Song Contest. Sie sei aufgrund “kritischer Fragen” an Bakker auf dessen Firmenwebsite fristlos gekündigt worden – ein “Maulkorb”, so Aftonbladet. Diese Fragen lesen sich im Einzelnen allerdings eher als flammende (und wenig substantiierte) Anklage, insbesondere im Hinblick auf Sietses frühere Rolle als Event Supervisor der von der Öffentlichkeit weitestgehend unbeachteten Junior-Eurovision, und lassen vermuten, dass die Chemie zwischen den Beiden generell nicht stimmt und Locklett auch die Quelle für die Weitergabe der privaten Zelmerlöw-Bashing-Message an die Presse gewesen sein könnte. Wir lernen also: Grand-Prix-Drama-Queens gibt es auch unter Heterosexuellen.
Wird und wird kein Hit, zumindest in Deutschland, einem der wichtigsten TV-Märkte: die Kinder-Eurovision
Allerdings zeigt sich an dieser Stelle die Faktenlage so dünn, dass sich weiteres Spekulieren verbietet. In den einschlägigen Foren heftig diskutiert wurde indes ein Hauptvorwurf der geschassten JESC-Pressechefin, nämlich dass die Korrespondenten von eurovision.tv kein Geld erhalten, während Wow!Works eine Vergütung einstreicht. Auch das kann man böswillig als Ausnutzung enthusiastischer Freiwilliger zum eigenen Vorteil interpretieren, zumal dies dem Muster von esctoday.com folgt. Einzuwenden ist allerdings, dass es sich bei diesen Korrespondenten nicht um ausgebildete Journalisten handelt, sondern eben, wie beim Autor dieser Seite, um Fans, die das nicht tun, um Geld zu verdienen, sondern aus Freude am Thema. Und deren Rechercheleistung auch nicht mit der professioneller Medienmitarbeiter/innen zu vergleichen ist. Darüber, dass es bei esctoday.com kein Geld gab, hat sich keiner beschwert – auch ich nicht, denn die Erfahrungen, die ich dort sammeln konnte, und die mich ermutigten, an meiner eigenen Eurovisionsseite weiterzuarbeiten, waren mir Entlohnung genug.
Um es also ganz klar zusammenzufassen: ich kenne und schätze Sietse Bakker noch aus meinen Anfängen als esctoday.com-Korrespondent. Er hat damals, unter Aufwendung eigener Ideen, erheblicher Lebenszeit, Energie und Mittel (die Seite war meines Wissens nie profitabel) ein beeindruckendes Angebot auf die Beine gestellt. Die seinerzeitige Direktvergabe der Konsultationsleistungen durch die EBU an ihn hat nichts mit Korruption zu tun, sondern mit dieser Vorleistung. Trotz in ihrer Schärfe überzogener Vorwürfe hat die EBU zeitnah reagiert und schreibt die Leistungen nunmehr öffentlich aus. Da ich selbst beruflich am Rande mit öffentlichen Vergaben zu tun habe, weiß ich, wie kompliziert und sperrig diese Materie ist, und dass die kritisierten Ausschreibungsfristen und ‑regeln dem hochkomplexen Wettbewerbsrecht geschuldet sein können. Das wirkt aber für einen Artikelaufhänger weniger sexy als eine zugebenermaßen sehr flüssig und unterhaltsam geschriebene Verschwörungstheorie wie die der Popbitch-Macher…