Drei Abende, dreißig Songs, gefühlte dreihundert Stunden voll zäher Moderation, zäherer Lieder und zähester Interval-Acts sowie gefühlt dreitausend Wiederholungen der gefühlt stets derselben drei Werbeclips liegen hinter uns. Mit anderen Worten: ein ganz normales Festivali i Këngës! Und auch wenn man gegen Ende des dreieinhalbstündigen Finales schon alle Hoffnungen hatte fahren lassen: zuletzt schaffte es die (nach wie vor alleine abstimmungsberechtigte) siebenköpfige Jury doch noch, eine Siegerin zu küren und uns damit das erste Lied für den Eurovision Song Contest 2016 zu schenken! ‘Përrallë’ heißt es, – jawohl, mit gleich zwei Diakrit‑ë, wir sind schließlich in Tirana! – was sich mit ‘Märchen’ übersetzt. Und es klingt wie die Titelmusik einer albanischen Sci-Fi-Action-Parodie, in der James Bond auf kriegerische Weltraumamazonen trifft. Deren Anführerin, Eneda Tarifa (das übersetzt sich vermutlich als “Energiespartarif”), singt die episch angelegte Nummer. Und sie macht das sehr gut: das leicht angerockte, mit schwelgerischen Geigen aufgewertete Midtempostück bietet viel Raum für Stimmakrobatik, und die blonde, streng gescheitelte und noch strenger dreinblickende Sängerin schreit sich auch schön die Lungen wund. Dennoch wird es nie disharmonisch, wie bei so vielen ihrer Vorgängerinnen aus dem Land der Skipetaren.
https://www.youtube.com/watch?v=p‑S1X4jrM9k
Frisst britische Agenten zum Frühstück: Eneda Tarifa (AL 2016).
Ein bisschen sperrig kam ‘Përrallë’ schon daher, ödete aber aufgrund seiner ausgefeilten Songstruktur zumindest nicht an und löste somit bei mir weder aktive Ablehnung noch berauschte Begeisterung aus. So wie übrigens ein Großteil des diesjährigen FiK-Aufgebotes: unter den insgesamt dreißig Wettbewerbsbeiträgen, die am ersten und zweiten Weihnachtsfeiertag vorgestellt und für das Finale am 27. Dezember auf schmale 22 Titel eingedampft wurden, fand sich wenig, bei dem ich den sofortigen Wunsch verspürte, mir die Ohren zuzuhalten. Allerdings auch kaum etwas, das mir mehr als ein wohlwollendes Schulterzucken entlockt hätte. Zu fesseln vermochte mich einzig Luiz Ejlli. Und das auch nur wegen seiner wunderschönen grünen Augen und aufgrund der Tatsache, dass er seit seinem Eurovisionsauftritt von 2006 zu einem wirklich schmucken jungen Mann herangereift war, der als Vorher-Nachher-Model für Dreitagebärte werben könnte. Sein Beitrag ‘Pa Mbarim’ langweilte aber leider, der deutschen Titelübersetzung gerecht werden, ‘Ohne Ende’. Das einzige Lied des Abends, das sich auf Anhieb in meinen Gehörgängen festkrallte, landete am Ende auf Rang 4: ‘Dashuri në Përjetësi’ (‘Liebe auf Ewigkeit’), ein schamlos schmalziger Operettenschleim, gegen den der Eurovisions-Publikumssieger von 2015, ‘Grande Amore’ von Il Volo, geradezu wie Punkrock wirkt.
Gary Barlow (Take That) hat angerufen und will seinen scheuen Schlafzimmerblick zurück.
Klodian Kaçani und Rezarta Smaja, die Interpret:innen des hemmungslos altmodischen Liedpropfens, erhielten übrigens einen Sonderpreis einer der Hauptwerbepartner, einer Versicherungsagentur. Für was, blieb für Zuschauer:innen ohne Albanischkenntnisse leider im Dunkeln. Einen Preis hätte auch Kristi Popa verdient: für die katastrophalste Darbietung. Der arg verhärmt aussehende Sänger brachte für seinen Beitrag ‘Ajo çfarë ndjej’ (‘Was ich mir wünsche’) einen kleinen Jungen mit auf die Bühne, der die Aufgabe hatte, durch ein extra bereit gestelltes Fernrohr nach den Sternen zu schauen. Was im Finale auch klappte, im Semi aber nicht: da hatte der undankbare Schraz schlichtweg keinen Bock, so dass Papa dann selbst ans Rohr musste. Auftakt misslungen – und der nachfolgende nervöse Sprechgesang von Kristi machte die Sache nicht besser. Viel schlimmer noch als dieses Lied war aber das, was uns das albanische Fernsehen rund um die Sendung vorsetzte. Da es unterschiedliche Angaben über die Startzeit der beiden Semis gab, verweilte ich am ersten Feiertag ab 20 Uhr vor dem Livestream. Und musste so eine halbstündige Nachrichtensendung über mich ergehen lassen, die zu 80% aus Bildern des Papstes bestand.
https://youtu.be/hs-GWk3mq4s
Mein Gott, was ist Hubert Kah aber alt geworden!
Sowie in Dauerschleife geschalteten Aufnahmen festlich geschmückter albanischer Innenstädte zu den Klängen der abgehangensten amerikanischen Pop-Christmas-Klassiker, unterbrochen durch mehrfach gezeigte Weihnachtsgrüße der Europäischen Kommission. Was dann um 20:45 Uhr, dem offiziellen Sendebeginn, passierte, stellte aber alles bislang Gesehene in den Schatten: da man im Kongresszentrum von Tirana noch nicht so weit war, schob man einen – der Bildqualität nach zu urteilen – in den Achtzigern auf Betamax gedrehten Lückenfüller ein, in dem eine geschlagene Viertelstunde lang weibliche Models in verschiedenen bäuerlichen Trachten auf einem handgewebten Teppich auf und ab stolzierten, den man irgendwo im albanischen Hochgebirge auf dem Schnee ausgelegt hatte. Dazu quälte jemand abseits der Kamera irgendein Saiteninstrument. Und glauben Sie mir: es wirkt in der Beschreibung nicht halb so bizarr wie am Bildschirm. Unter einer Vorher-Nachher-Schere litt der Titel ‘Dashurinë s’e gjejmë dot’ (‘Wir können die Liebe nicht finden’) des Rap-Duos Revolt Klan: Erstmalig in der FiK-Geschichte hatte RTSH in diesem Jahr im Vorfeld Videoclips von allen Beiträgen veröffentlicht, und in selbigem stand einer der beiden liebestollen Hip-Hopper in geduckter Haltung auf der Motorhaube eines Autos herum und präsentierte im Bücken ein ausgesprochen entzückendes und (mir) im Gedächtnis bleibendes Maurerdekolleté.
Die Playlist mit den verfügbaren Finaltiteln.
Beim Live-Auftritt mussten wir auf diesen Anblick leider verzichten, und die Orchesterbegleitung nahm dem Song gegenüber der Studiofassung einiges an Druck. Nah. Zu den wenigen Beiträgen, die es nicht ins Finale schafften, zählte ausgerechnet das umstrittene ‘Një Shishe në Oqean’ (‘Eine Flasche im Ozean’) von Orgesa Zaimi, eine schwärend düstere Akkordeonballade, deren gedankenschwarzer Text offensichtlich den Kriegsflüchtlingen gewidmet war, die in beschämender Weise im Mittelmeer ertrinken, weil Europa sich nicht auf eine gerechte Verteilung einigen kann. Sie war erst in letzter Sekunde nachgerückt, nachdem der neu ernannte künstlerische Festivalleiter (und mehrfache FiK-Teilnehmer) Elton Deda den ursprünglich eingeplanten Konkurrenztitel ‘Era’ (‘Wind’) von Edea Demaliaj kassierte, weil dessen Textdichter Pandi Laço (‘Hear my Plea’, ‘Tomorrow I go’, ‘Zemrën e lamë peng’) in diesem Jahr die Show moderierte. Was es im Nachhinein um so fischiger erscheinen ließ und auch für entsprechendes Gegrummel in der Öffentlichkeit sorgte, dass Deda mit der diesjährigen Siegerin Eneda Tarifa nicht nur eine enge persönliche Freundschaft pflegte, sondern auch Geschäftsbeziehungen unterhielt.
Ein bisschen kryptisch und wirr, sowohl lyrisch wie musikalisch, aber die Botschaft ist unmissverständlich: Orgesa Zaimi.
Als wenig vertrauenserweckend erwies es sich da, dass RTSH nach mehreren Jahrgängen mit vollständiger Ergebnisveröffentlichung heuer nur die ersten zehn Plätze bekannt gab und die detaillierten Jurypunkte vollständig unter Verschluss hielt. Der umstrittene Sieg von Frau Tarifa brachte auch eine kontroverse Aussage der Sängerin wieder ans Tageslicht, die nach dem Triumph von Conchita Wurst beim Eurovision Song Contest 2014 sinngemäß äußerte, sie habe ein Problem damit, diese Figur ihrer (damals allerdings erst ein Jahr alten) Tochter zu erklären und der von LGBT*-Lobbys gekaperte Wettbewerb transportiere nicht die richtigen familiären Werte. Woraufhin ihr der albanische Queer-Aktivist und Journalist Kristi Pinderi Homophobie vorwarf und bemerkte, nach seinem persönlichen Eindruck aus einem Interview, dass er mal mit ihr führte, sei sie “entweder nicht sehr klug” oder sie wisse nicht, “wie man kluge Gedanken ordentlich ausdrückt”. Als nicht sehr klug erwies sich auch die von der Sängerin mit Nachdruck verfolgte Idee, ihren Beitrag für Stockholm zu anglifizieren. So investierte sie erkennbar viel Geld und Mühe, um aus der ehemals ergreifend schönen Balkanballade ‘Përrallë’ ein disneyesk-mainstreamiges ‘Fairytale’ zu zaubern, den stolzen Songschwan in ein billiges Plastikentchen zu verwandeln.
Der Videoclip: Wer hat Dein Lied so zerstört, Ma? Ach, das warst Du selbst!
Es gelang: alles, was ‘Përrallë’ einst groß und edel machte – die schwelgerischen Geigen, der dramatische Liedaufbau, das geschmackvolle Abendkleid – wurde herausoperiert und durch Talmi ersetzt. Sei es die quäkige Instrumentierung, der durchlaufende und äußerst unpassende Plastikbeat oder die Flurschäden, die das (immerhin recht tadellose) Englisch anrichtete. Im Clip setzte man die Sängerin vor Winterwaldkulisse auf einen von prollig dicken, goldenen Ketten gehaltenen Grillrost bzw. vor eine direkt aus einem Achtzigerjahre-Video importierte Uhrenszenerie, was wohl Märchenland-Assoziationen auslösen sollte: Ziel verfehlt. Die beim FiK noch so überaus elegante Eneda wirkte nun, als müsse sie aus finanzieller Not heraus Werbung für in Bangladesch produzierte Discounter-Mode machen. Im Semifinale zu Stockholm verkleidete sie sich schließlich als Goldmariechen, wirkte aber mit nur mühsam überschminkten, tiefen Augenringen und leerem Blick eher wie die von der eigenen anstrengenden Bösartigkeit ausgelaugte fiese Schwiegermutter. Auch stimmlich klang sie ziemlich gedämpft. Mit dem Qualifikationsrunden-Aus endete dieses Eurovisionsmärchen dann vorzeitig.
Wer nicht hören will, muss ausscheiden: Eneda in Stockholm.
Vorentscheid AL 2016
Festivali i Këngës 54. Sonntag, 27. Dezember 2015, aus dem Kongresspalast in Tirana, Albanien. 22 Teilnehmer:innen. Moderation: Pandi Laço, Blerta Tafani.# | Interpreten | Songtitel | Platz |
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01 | Sigi Bastri | Engjëll i lirë | n.b. |
02 | Rezarta Smaja + Klodian Kaçani | Dashuri në Përjetësi | 04 |
03 | Dilan Reka | Buzëqesh | 07 |
04 | Adrian Lulgjuraj | Jeto dhe ëndërro | n.b. |
05 | Erga Halilaj | Monolog | n.b. |
06 | Evans Rama | Flakë | 10 |
07 | Jozefina Simoni | Një Det me ty | n.b. |
08 | Egert Pano | Mos ik | n.b. |
09 | Genc Tukiçi | Sa të dashuroj | n.b. |
10 | Kozma Dushi | Një Kafe | n.b. |
11 | Luiz Ejlli | Pa Mbarim | n.b. |
12 | Teuta Kurti | Në Sytë e mi | 08 |
13 | Besa Krasniqi | Liroje Zemrën | n.b. |
14 | Nilsa Hysi | Asaj | 06 |
15 | Kristi Popa | Ajo çfarë ndjej | n.b. |
16 | Flaka Krelani | S’je për mu | 03 |
17 | Enxhi Nasufi | Infinit | 05 |
18 | Linda Islami | Për një Mrekulli | n.b. |
19 | Florent Abrashi | Të ndjek çdo Hap | n.b. |
20 | Enada Tarifa | Përrallë | 01 |
21 | Renis Gjoka | Ato që s’ti them dot | 09 |
22 | Aslaidon Zaimaj | Merrmë që sot | 02 |
Letzte Aktualisierung: 10.09.2022
Hat dieses Mal ja auch lange genug gedauert. Wobei ich nicht weiß, warum dieses Mal alle so vorsichtig zu sein scheinen – traut sich einfach keiner? Hat man noch keine Lieder gefunden (in den Ländern mit Direktauswahl, versteht sich)? Will man eine Wiederholung der platonischen Ideal-Langeweile von 2015 vermeiden, weswegen jeder erst mal abwarten will, was sonst noch kommt, um nicht etwas zu Ähnliches zu schicken?
Wie auch immer. Das Eurovisionsjahr 2016 hat begonnen. One down, 42 to go.