Sieb­te Deka­de 2016–2025: Zwi­schen den Fronten

Oh, tho­se Russians!

Das ukrai­ni­sche Jahrzehnt

Ein kniff­li­ger Start, ein holp­ri­ges Zick­zack­ren­nen zwi­schen Sta­chel­draht und Minen­fel­dern und schließ­lich der nie­mals für mög­lich gehal­te­ne Super-GAU eines abge­sag­ten Jahr­gangs: man über­treibt sicher nicht, wenn man die die­se Deka­de als die schwie­rigs­te Pha­se bezeich­net, die der Euro­vi­si­on Song Con­test in sei­ner lan­gen Geschich­te jemals zu über­ste­hen hat­te. Und das trotz (oder weil) sich die Show durch die sozia­len Medi­en und der damit ver­bun­de­nen ganz­jäh­ri­gen nied­rig­schwel­li­gen Ver­füg­bar­keit von Con­test-Con­tent einer deut­lich brei­te­ren Prä­senz und Beliebt­heit erfreut als jemals zuvor. Dadurch geriet der ESC jedoch auch zur Ziel­schei­be der sich immer stär­ker zuspit­zen­den Kon­flik­te in der rea­len Welt. Ver­stärkt durch das unge­schick­te Agie­ren der eisern an ihrem alber­nen und rea­li­täts­frem­den Man­tra fest­hal­ten­den EBU, der Grand Prix sei unpo­li­tisch, lie­ßen eben jene Gen­fer ihr media­les Aus­hän­ge­schild gewis­ser­ma­ßen in Kriegs­ge­fan­gen­schaft neh­men und poli­tisch instru­men­ta­li­sie­ren. Ja, sie leg­ten durch die Ein­füh­rung eines neu­es Aus­zäh­lungs­ver­fah­rens beim ESC 2016 sogar den Grund­stock dafür: das lie­fer­te zwar – wie erhofft – einen hoch­dra­ma­ti­schen Punk­te­zwei­kampf. Der aller­dings fand zwi­schen den bei­den (damals noch nicht Kriegs‑, son­dern “nur”) Kon­flikt­par­tei­en Ukrai­ne und Russ­land statt, wobei sich schließ­lich nicht der ein­deu­ti­ge Publi­kums­lieb­ling Ser­gey Lazarev durch­setz­te, son­dern die glü­hen­de Patrio­tin (“Ich habe ein paar sehr unan­ge­neh­me Fra­gen”) Jama­la mit einer wüten­den, kaum ver­hüll­ten Ankla­ge über die Annek­tie­rung der Krim durch die Föderation.

Stran­gers are coming / They come to your House / They kill you all / And say we’­re not guil­ty”: das Lied ‘1944’ gei­ßelt qua Titel offi­zi­ell die Ver­trei­bung der Krim­ta­ta­ren im zwei­ten Welt­krieg. Es braucht aber nicht viel Fan­ta­sie, die­se Sät­ze auf die Gescheh­nis­se sieb­zig Jah­re spä­ter zu bezie­hen (UA 2016).

Der gewief­te Tak­ti­ker Putin nahm die Her­aus­for­de­rung an und fuhr im Vor­feld des in Kiew statt­fin­den­den ESC 2017 eine so mie­se wie geschick­te Pro­pa­gan­da-Stra­te­gie, die als Julia­ga­te in die Anna­len ein­ge­hen soll­te und mit wel­cher er die ukrai­ni­schen Gast­ge­ber (im Zei­chen der Diver­si­tät mode­rier­ten drei wei­ße, hete­ro­se­xu­ell zu lesen­de Her­ren) in eine mora­li­sche Zwick­müh­le bug­sier­te: der rus­si­sche Sen­der nomi­nier­te als leuch­ten­des Bei­spiel für Inklu­si­on die im Roll­stuhl sit­zen­de Sän­ge­rin Julia Samoy­l­o­va. Wohl wis­send, dass sel­bi­ge nach der völ­ker­rechts­wid­ri­gen Inbe­sitz­nah­me der Krim 2014 eben­dort auf­trat, was nach den Geset­zen des Aus­tra­gungs­lan­des ein Ein­rei­se­ver­bot nach sich zog. In Kiew tapp­te man prompt in die Fal­le und bestand, aus­ge­spro­chen wider­stre­bend unter­stützt von­sei­ten der EBU, auf einem Aus­tausch der Sän­ge­rin. Wor­auf­hin die Rus­sen ihr Ziel erreicht hat­ten, ihre Teil­nah­me im Fein­des­land ohne eige­nen Gesichts­ver­lust stor­nie­ren und die ukrai­ni­schen Politiker:innen als herz­lo­se Mons­ter dar­stel­len konn­ten, die noch nicht mal einer bedau­erns­wer­ten Schwer­be­hin­der­ten ihren selbst pro­kla­mier­ten “Lebens­traum” gön­nen. Kaum hat­te der Grand Prix die­sen Schau­platz vor­über­ge­hend ver­las­sen, geriet er ins nächs­te Minen­feld: beim ESC 2018 in Por­tu­gal gewann die fabel­haf­te femi­nis­ti­sche Wucht­brum­me Net­ta aus Israel.

Im Fol­ge­jahr schick­te der rus­si­sche Sen­der Julia zu einem Fei­gen­blatt-Auf­tritt beim ESC in Lis­sa­bon, ver­sorgt mit einem der­art schwa­chen Song und einer so hor­ri­blen Prä­sen­ta­ti­on, dass das erst­ma­li­ge Aus­schei­den der Föde­ra­ti­on in der Qua­li­fi­ka­ti­ons­run­de eben­falls als vor­ab ein­ge­preist erschienen.

Noch wäh­rend in dem Nah­ost­land die innen­po­li­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung über die Aus­rich­tung der 2019er Show im reli­gi­ös-kon­ser­va­ti­ven Jeru­sa­lem oder im welt­of­fen-libe­ra­len Tel Aviv tob­te, mach­ten inter­na­tio­nal die ers­ten Boy­kott­auf­ru­fe die Run­de, als Pro­test gegen den Umgang der Regie­rung Netan­ja­hu mit dem Paläs­ti­na­kon­flikt. An der Spit­ze hier­bei übri­gens vor allem islän­di­sche Musi­ker wie Daði Freyr und Hat­a­ri. Die Indus­tri­al-Pop-Band ent­roll­te gar im Green­room zu Tel Aviv einen Schal mit den Insi­gni­en des umstrit­te­nen Ter­ri­to­ri­ums, was ihrer Dele­ga­ti­on aber ent­ge­gen einer vor­he­ri­gen Aus­schluss­an­dro­hung nur ein böses Dudu der EBU ein­trug. Zugleich schraub­te man schon wie­der am Aus­zäh­lungs­ver­fah­ren her­um, um die Punk­te­ver­ga­be bis zur letz­ten Sekun­de span­nend gestal­ten zu kön­nen, ver­nach­läs­sig­te jedoch bei der Aus­wer­tung der Jury-Stim­men den Fak­tor Mensch: falsch­her­um aus­ge­füll­te Voting-Sheets zwan­gen die EBU im Nach­hin­ein zu einer hoch­not­pein­li­chen Ergeb­nis­kor­rek­tur. Unterm Strich wie­der­hol­te sich 2019 jedoch genau das­sel­be wie bereits 2016: bei mas­si­ver Unei­nig­keit von Publi­kum und Jury sieg­te am Ende ein Kom­pro­miss­kan­di­dat, der in kei­ner der bei­den Ein­zel­wer­tun­gen führ­te. Schließ­lich schau­fel­ten sich die “pro­fes­sio­nel­len” Manipulant:innen durch ihre immer offe­ner zuta­ge tre­ten­de Kor­rup­ti­ons­an­fäl­lig­keit ihr eige­nes Grab: für den ESC 2023 ent­zog ihnen die EBU not­ge­drun­gen das Pla­zet, wenn auch lei­der zunächst nur inner­halb der bei­den Qua­li­fi­ka­ti­ons­run­den. Es bleibt abzu­war­ten, ob die Betrof­fe­nen den Warn­schuss gehört haben und sich künf­tig zusam­men­rei­ßen oder ob sie so lan­ge fröh­lich wei­ter­kun­geln, bis die Jurys end­lich wie­der voll­stän­dig abge­schafft wer­den. Ich bin da guter Hoffnung…

Von der que­er- und sami­feind­li­chen Jury durch mas­si­ves Straf­vo­ting ver­hin­dert: die Publi­kums­sie­ger Kei­i­no (NO 2019).

All die­se Gra­ben­kämp­fe ver­blass­ten jedoch gegen die Coro­na-Kata­stro­phe: nach­dem über Jahr­zehn­te hin­weg kei­ne wie auch immer gear­te­te Kri­se den Musik­wett­be­werb jemals in die Knie zu zwin­gen ver­moch­te, besieg­te ein unsicht­ba­res Virus den für unzer­stör­bar gehal­te­nen Unter­hal­tungs­t­i­tan und sorg­te im 65. Jahr sei­nes Bestehens, also pünkt­lich zum Ren­ten­ein­tritt, für die Aus­set­zung der jähr­li­chen Sen­de­rei­he. Natür­lich erst, nach­dem alle natio­na­len Vor­ent­schei­dun­gen bereits über die Büh­ne gegan­gen waren. Erneut agier­te die EBU unge­schickt: den Vor­schlag, den Wett­be­werb ersatz­wei­se per Live-Schal­tung oder Video­ein­spie­lung auf die Bei­ne zu stel­len, lehn­te man in Genf ab. Iro­ni­scher­wei­se stell­te aus­ge­rech­net die sonst als extrem behä­big und unfle­xi­bel gel­ten­de ARD mit dem deut­schen Fina­le in Ham­burg unter Beweis, wie unnö­tig die Zwangs­pau­se war. Wie auch das nie­der­län­di­sche Fern­se­hen NOS, das 2021 inmit­ten der noch immer bestehen­den Pan­de­mie ein beson­ders glanz­vol­les Event vor Publi­kum orga­ni­sier­te. Der unzwei­fel­haft hoch­gra­dig poli­ti­sche, inhalt­lich aber natür­lich voll­kom­men berech­tig­te Aus­schluss Russ­lands von den fried­li­chen euro­päi­schen Wett­spie­len als Reak­ti­on auf den Angriffs­krieg gegen die Ukrai­ne sowie der über­wäl­ti­gen­de wie künst­le­risch abso­lut gerecht­fer­tig­te Sieg des Kalush Orches­tras setz­te schließ­lich 2022 ein wich­ti­ges Zei­chen der inter­na­tio­na­len Soli­da­ri­tät, bekann­ter­ma­ßen die “Zärt­lich­keit der Völ­ker” (Che Guevara).

Allei­ne schon der fan­tas­ti­sche rosa Hut genügt, um den Sieg der Ukrai­ne 2022 zu recht­fer­ti­gen. Der gran­dio­se Song und die tol­le Show sind da nur noch Beiwerk.

Eine wei­te­re, selbst­ver­schul­de­te Kri­se durch­leb­ten der­weil die als “Big Five” apo­stro­phier­ten Haupt­zah­ler­län­der Spa­ni­en, Frank­reich, Ita­li­en, Groß­bri­tan­ni­en und Deutsch­land. Auf­grund ihrer völ­lig unge­recht­fer­tig­ten Pri­vi­le­gie­rung als fixe Qua­li­fi­kan­ten gaben die­se sich lan­ge Zeit über­haupt kei­ne Mühe mehr mit ihren Bei­trä­gen und wur­den fol­ge­rich­tig mit hin­te­ren und hin­ters­ten Plät­ze abge­straft. Was die­se zunächst nur mit bocks­bei­ni­gen Aus­flüch­ten vom “poli­ti­schen Voting” und ähn­li­chen Mär­chen­er­zäh­lun­gen parier­ten. Der Sieg der gen­der­flui­den ita­lie­ni­schen Glam­rock­kap­pel­le Månes­kin in Rot­ter­dam bewies aller­dings, dass es ein­fach nur Mut zum Risi­ko braucht. Ein Bei­spiel, dem drei der rest­li­chen gro­ßen Vier schließ­lich folg­ten und dafür größ­ten­teils mit Top-Ten-Ergeb­nis­sen für wirk­lich gute Songs auch belohnt wur­den. Nur Deutsch­land brauch­te mal wie­der ein biss­chen län­ger: ein Zufalls­tref­fer mit eds­heera­nes­kem Radio­ge­du­del im Jah­re 2018 ver­stärk­te beim NDR die dort vor­herr­schen­de Ten­denz, es immer und immer wie­der mit ver­meint­lich siche­rem Seich­ten zu ver­su­chen. Es brauch­te erst eine hohe media­le Wel­len schla­gen­de Wut­pe­ti­ti­on von Fans der von einer aus­schließ­lich aus Radio­men­schen bestehen­den Aus­wahl­ju­ry von der Vor­auswahl 2022 aus­ge­boo­te­ten Elek­tro­me­tal­for­ma­ti­on Elec­tric Call­boy, um gegen erheb­li­che sen­der­in­ter­ne Wider­stän­de end­lich eine Öff­nung des hei­mi­schen Vor­ent­scheids für ande­re Musik­far­ben als beige zu erzwin­gen. Bleibt nur zu hof­fen, dass es hilft.

Zu heiß für den NDR: die­sen poten­ti­el­len Punk­teh­ap­pen ließ man sich frei­wil­lig entgehen.
Stand: 22.04.2023

Die Euro­vi­si­ons­jahr­gän­ge 2016–2021

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Ers­tes Semi­fi­na­le 2021Zwei­tes Semi­fi­na­le 2021ESC-Fina­le 2021

Die natio­na­len Vor­ent­schei­de 2016–2021

Land201620172018201920202021
AL201620172018201920202021
AMintern20172018intern2020
AT2016interninterninterninternintern
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AZinterninterninterninterninternintern
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BE2016interninterninterninternintern
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CH201620172018interninternintern
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EE201620172018201920202021
ES2016201720182019intern2021
FI201620172018201920202021
FRinternintern20182019intern2021
GE20162017intern20192020intern
GRintern2017internintern2020intern
HRinterninternintern201920202021
HU2016201720182019
IEinterninterninternintern2020intern
IL201620172018201920202021
IS20162017201820192020intern
IT201620172018201920202021
LT201620172018201920202021
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MD20162017201820192020intern
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1 Comment

  • Hey Oli­ver!

    Ich hof­fe, du hast die 2024er Sai­son gut über­lebt. Ich war selbst in Mal­mö die­ses Jahr vor Ort und mei­ne Güte…

    Durch die welt­po­li­ti­sche Lage war ja schon klar, dass mein ers­ter ESC live vor Ort etwas, sagen wir mal spe­zi­el­ler wird, aber was alles wäh­rend der Woche pas­sier­te, hät­te ich mir im Bus von Ham­burg nach Kopen­ha­gen nicht erdenken kön­nen. Trotz­dem habe ich es genos­sen. Hat­te ja alles ein gutes Ende.

    Fra­ge: Wirst du die­sen Arti­kel nach dem 2025er Con­test (er wird doch statt­fin­den, oder?) noch­mal aktualisieren? 

    Über eine Ant­wort wür­de ich mich sehr freuen! 

    Lie­be Grü­ße aus Mar­bach am Neckar

    Lucas

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