Oh, those Russians!
Das ukrainische Jahrzehnt
Ein kniffliger Start, ein holpriges Zickzackrennen zwischen Stacheldraht und Minenfeldern und schließlich der niemals für möglich gehaltene Super-GAU eines abgesagten Jahrgangs: man übertreibt sicher nicht, wenn man die diese Dekade als die schwierigste Phase bezeichnet, die der Eurovision Song Contest in seiner langen Geschichte jemals zu überstehen hatte. Und das trotz (oder weil) sich die Show durch die sozialen Medien und der damit verbundenen ganzjährigen niedrigschwelligen Verfügbarkeit von Contest-Content einer deutlich breiteren Präsenz und Beliebtheit erfreut als jemals zuvor. Dadurch geriet der ESC jedoch auch zur Zielscheibe der sich immer stärker zuspitzenden Konflikte in der realen Welt. Verstärkt durch das ungeschickte Agieren der eisern an ihrem albernen und realitätsfremden Mantra festhaltenden EBU, der Grand Prix sei unpolitisch, ließen eben jene Genfer ihr mediales Aushängeschild gewissermaßen in Kriegsgefangenschaft nehmen und politisch instrumentalisieren. Ja, sie legten durch die Einführung eines neues Auszählungsverfahrens beim ESC 2016 sogar den Grundstock dafür: das lieferte zwar – wie erhofft – einen hochdramatischen Punktezweikampf. Der allerdings fand zwischen den beiden (damals noch nicht Kriegs‑, sondern “nur”) Konfliktparteien Ukraine und Russland statt, wobei sich schließlich nicht der eindeutige Publikumsliebling Sergey Lazarev durchsetzte, sondern die glühende Patriotin (“Ich habe ein paar sehr unangenehme Fragen”) Jamala mit einer wütenden, kaum verhüllten Anklage über die Annektierung der Krim durch die Föderation.
“Strangers are coming / They come to your House / They kill you all / And say we’re not guilty”: das Lied ‘1944’ geißelt qua Titel offiziell die Vertreibung der Krimtataren im zweiten Weltkrieg. Es braucht aber nicht viel Fantasie, diese Sätze auf die Geschehnisse siebzig Jahre später zu beziehen (UA 2016).
Der gewiefte Taktiker Putin nahm die Herausforderung an und fuhr im Vorfeld des in Kiew stattfindenden ESC 2017 eine so miese wie geschickte Propaganda-Strategie, die als Juliagate in die Annalen eingehen sollte und mit welcher er die ukrainischen Gastgeber (im Zeichen der Diversität moderierten drei weiße, heterosexuell zu lesende Herren) in eine moralische Zwickmühle bugsierte: der russische Sender nominierte als leuchtendes Beispiel für Inklusion die im Rollstuhl sitzende Sängerin Julia Samoylova. Wohl wissend, dass selbige nach der völkerrechtswidrigen Inbesitznahme der Krim 2014 ebendort auftrat, was nach den Gesetzen des Austragungslandes ein Einreiseverbot nach sich zog. In Kiew tappte man prompt in die Falle und bestand, ausgesprochen widerstrebend unterstützt vonseiten der EBU, auf einem Austausch der Sängerin. Woraufhin die Russen ihr Ziel erreicht hatten, ihre Teilnahme im Feindesland ohne eigenen Gesichtsverlust stornieren und die ukrainischen Politiker:innen als herzlose Monster darstellen konnten, die noch nicht mal einer bedauernswerten Schwerbehinderten ihren selbst proklamierten “Lebenstraum” gönnen. Kaum hatte der Grand Prix diesen Schauplatz vorübergehend verlassen, geriet er ins nächste Minenfeld: beim ESC 2018 in Portugal gewann die fabelhafte feministische Wuchtbrumme Netta aus Israel.
Im Folgejahr schickte der russische Sender Julia zu einem Feigenblatt-Auftritt beim ESC in Lissabon, versorgt mit einem derart schwachen Song und einer so horriblen Präsentation, dass das erstmalige Ausscheiden der Föderation in der Qualifikationsrunde ebenfalls als vorab eingepreist erschienen.
Noch während in dem Nahostland die innenpolitische Auseinandersetzung über die Ausrichtung der 2019er Show im religiös-konservativen Jerusalem oder im weltoffen-liberalen Tel Aviv tobte, machten international die ersten Boykottaufrufe die Runde, als Protest gegen den Umgang der Regierung Netanjahu mit dem Palästinakonflikt. An der Spitze hierbei übrigens vor allem isländische Musiker wie Daði Freyr und Hatari. Die Industrial-Pop-Band entrollte gar im Greenroom zu Tel Aviv einen Schal mit den Insignien des umstrittenen Territoriums, was ihrer Delegation aber entgegen einer vorherigen Ausschlussandrohung nur ein böses Dudu der EBU eintrug. Zugleich schraubte man schon wieder am Auszählungsverfahren herum, um die Punktevergabe bis zur letzten Sekunde spannend gestalten zu können, vernachlässigte jedoch bei der Auswertung der Jury-Stimmen den Faktor Mensch: falschherum ausgefüllte Voting-Sheets zwangen die EBU im Nachhinein zu einer hochnotpeinlichen Ergebniskorrektur. Unterm Strich wiederholte sich 2019 jedoch genau dasselbe wie bereits 2016: bei massiver Uneinigkeit von Publikum und Jury siegte am Ende ein Kompromisskandidat, der in keiner der beiden Einzelwertungen führte. Schließlich schaufelten sich die “professionellen” Manipulant:innen durch ihre immer offener zutage tretende Korruptionsanfälligkeit ihr eigenes Grab: für den ESC 2023 entzog ihnen die EBU notgedrungen das Plazet, wenn auch leider zunächst nur innerhalb der beiden Qualifikationsrunden. Es bleibt abzuwarten, ob die Betroffenen den Warnschuss gehört haben und sich künftig zusammenreißen oder ob sie so lange fröhlich weiterkungeln, bis die Jurys endlich wieder vollständig abgeschafft werden. Ich bin da guter Hoffnung…
Von der queer- und samifeindlichen Jury durch massives Strafvoting verhindert: die Publikumssieger Keiino (NO 2019).
All diese Grabenkämpfe verblassten jedoch gegen die Corona-Katastrophe: nachdem über Jahrzehnte hinweg keine wie auch immer geartete Krise den Musikwettbewerb jemals in die Knie zu zwingen vermochte, besiegte ein unsichtbares Virus den für unzerstörbar gehaltenen Unterhaltungstitan und sorgte im 65. Jahr seines Bestehens, also pünktlich zum Renteneintritt, für die Aussetzung der jährlichen Sendereihe. Natürlich erst, nachdem alle nationalen Vorentscheidungen bereits über die Bühne gegangen waren. Erneut agierte die EBU ungeschickt: den Vorschlag, den Wettbewerb ersatzweise per Live-Schaltung oder Videoeinspielung auf die Beine zu stellen, lehnte man in Genf ab. Ironischerweise stellte ausgerechnet die sonst als extrem behäbig und unflexibel geltende ARD mit dem deutschen Finale in Hamburg unter Beweis, wie unnötig die Zwangspause war. Wie auch das niederländische Fernsehen NOS, das 2021 inmitten der noch immer bestehenden Pandemie ein besonders glanzvolles Event vor Publikum organisierte. Der unzweifelhaft hochgradig politische, inhaltlich aber natürlich vollkommen berechtigte Ausschluss Russlands von den friedlichen europäischen Wettspielen als Reaktion auf den Angriffskrieg gegen die Ukraine sowie der überwältigende wie künstlerisch absolut gerechtfertigte Sieg des Kalush Orchestras setzte schließlich 2022 ein wichtiges Zeichen der internationalen Solidarität, bekanntermaßen die “Zärtlichkeit der Völker” (Che Guevara).
Alleine schon der fantastische rosa Hut genügt, um den Sieg der Ukraine 2022 zu rechtfertigen. Der grandiose Song und die tolle Show sind da nur noch Beiwerk.
Eine weitere, selbstverschuldete Krise durchlebten derweil die als “Big Five” apostrophierten Hauptzahlerländer Spanien, Frankreich, Italien, Großbritannien und Deutschland. Aufgrund ihrer völlig ungerechtfertigten Privilegierung als fixe Qualifikanten gaben diese sich lange Zeit überhaupt keine Mühe mehr mit ihren Beiträgen und wurden folgerichtig mit hinteren und hintersten Plätze abgestraft. Was diese zunächst nur mit bocksbeinigen Ausflüchten vom “politischen Voting” und ähnlichen Märchenerzählungen parierten. Der Sieg der genderfluiden italienischen Glamrockkappelle Måneskin in Rotterdam bewies allerdings, dass es einfach nur Mut zum Risiko braucht. Ein Beispiel, dem drei der restlichen großen Vier schließlich folgten und dafür größtenteils mit Top-Ten-Ergebnissen für wirklich gute Songs auch belohnt wurden. Nur Deutschland brauchte mal wieder ein bisschen länger: ein Zufallstreffer mit edsheeraneskem Radiogedudel im Jahre 2018 verstärkte beim NDR die dort vorherrschende Tendenz, es immer und immer wieder mit vermeintlich sicherem Seichten zu versuchen. Es brauchte erst eine hohe mediale Wellen schlagende Wutpetition von Fans der von einer ausschließlich aus Radiomenschen bestehenden Auswahljury von der Vorauswahl 2022 ausgebooteten Elektrometalformation Electric Callboy, um gegen erhebliche senderinterne Widerstände endlich eine Öffnung des heimischen Vorentscheids für andere Musikfarben als beige zu erzwingen. Bleibt nur zu hoffen, dass es hilft.
Hey Oliver!
Ich hoffe, du hast die 2024er Saison gut überlebt. Ich war selbst in Malmö dieses Jahr vor Ort und meine Güte…
Durch die weltpolitische Lage war ja schon klar, dass mein erster ESC live vor Ort etwas, sagen wir mal spezieller wird, aber was alles während der Woche passierte, hätte ich mir im Bus von Hamburg nach Kopenhagen nicht erdenken können. Trotzdem habe ich es genossen. Hatte ja alles ein gutes Ende.
Frage: Wirst du diesen Artikel nach dem 2025er Contest (er wird doch stattfinden, oder?) nochmal aktualisieren?
Über eine Antwort würde ich mich sehr freuen!
Liebe Grüße aus Marbach am Neckar
Lucas