Ukrai­ne 2016: Now this is War

Es war ein äußerst denk­wür­di­ger Vor­ent­schei­dungs­abend in der Ukrai­ne. Nicht so sehr wegen der sechs zur Aus­wahl ste­hen­den Songs, fast alle von wirk­lich her­aus­ra­gen­der Qua­li­tät. Son­dern viel­mehr auf­grund der drei­köp­fi­gen Jury, die sich über die Sen­dung hin­weg der­ma­ßen hart in die Wol­le krieg­te, dass stel­len­wei­se hand­greif­li­che Aus­schrei­tun­gen zu befürch­ten stan­den. Jeder fuhr hier sei­ne eige­ne Agen­da, und die schier end­lo­sen Dis­kus­sio­nen zwi­schen den Panelis­ten führ­ten nicht nur zu einer zir­ka zwei­stün­di­gen Über­zie­hung der ange­setz­ten Sen­de­zeit, son­dern war­fen auch ein bezeich­nen­des Licht auf das poli­tisch geteil­te Land. Am Ende gewann – dem Publi­kum sei Dank – denn auch der poli­tischs­te Titel im Ange­bot, ‘1944’ von Jama­la. Ja, genau, von der aus der nicht weni­ger denk­wür­di­gen ukrai­ni­schen Vor­ent­schei­dung von 2011 bekann­ten Jama­la, die sei­ner­zeit mit dem grenz­wer­tig-fröh­li­chen ‘Smi­le’ für Auf­se­hen sorg­te und schließ­lich wegen angeb­li­cher Schie­bun­gen das Hand­tuch warf. Bis zu ihrer Sie­ges­ak­kla­ma­ti­on aber war es ein wei­ter, lan­ger, anst­re­gen­der Weg, der Jury wegen. Vor­hang auf: auf­ein­an­der tra­fen die ehe­ma­li­gen ukrai­ni­schen Ver­tre­te­rin­nen Ver­ka Ser­duch­ka (UA 2007), heu­er in Zivil als Andrij Dany­lko, und Rus­la­na (UA 2004) sowie der TV-Pro­du­zent Kon­stan­tin Melad­ze. Und so ent­fal­te­ten sich die Ereignisse.

The who­le World’s Pain / in Ukrai­ne tonight: Jamala.

Noch kein Zwist ent­zün­de­te sich am Auf­tritt der ers­ten Teil­neh­mer des Abends, der Rock­band Bru­net­tes shoots Blon­des, die nach Anga­ben der Mode­ra­to­ren angeb­lich in Deutsch­land sehr erfolg­reich sein sol­len (hat schon mal jemand von ihnen gehört?). Das mit sehr tie­fen Stim­men und sehr pral­len Brüs­ten aus­ge­stat­te­te Damen­duo NuAn­ge­ly, das sich mit einem schwe­di­schen Pop­song aus der Alex­an­der-Bard-Schmie­de (Army of Lovers, Alca­zar) ein­ge­deckt hat­te, muss­te sich dar­ob von der patrio­tisch ein­ge­stimm­ten Rus­la­na aller­dings man­geln­de Vater­land­s­treue vor­wer­fen las­sen. Das for­mu­lier­te unse­re Euro­vi­si­ons­di­va indes noch sehr durch die Blu­me, was den Rede­zeit­be­darf wei­ter erhöh­te: eine geschla­ge­ne Stun­de brauch­te das ukrai­ni­sche Fern­se­hen allei­ne für die Prä­sen­ta­ti­on die­ser ers­ten bei­den Titel. Uni­ver­sel­les (und berech­tig­tes) Lob ern­te­te schließ­lich der drit­te Act, die “pro­gres­si­ve Pop-Band” Hard­kiss, die mit ‘Hel­p­less’ eine ver­dammt star­ke, düs­te­re Bal­la­de und eine noch stär­ke­re visu­el­le Per­for­mance ablie­fer­te, fan­tas­tisch in Sze­ne gesetzt als ein Schau­platz aus ‘Ali­en’. Leich­te Dif­fe­ren­zen hier aller­dings schon zwi­schen Juror Melad­ze, der offen sag­te, dass er die Band nach Stock­holm ent­sen­den wol­le, “und zwar in die­sem Jahr”, und Rus­la­na, die sich am Song­ti­tel stör­te, der inter­na­tio­nal eine fal­sche Bot­schaft sen­de. Schließ­lich sei die Ukrai­ne (im aktu­el­len Krieg gegen Russ­land) nicht “hilf­los”.

Düs­te­re Mars-Prin­zes­sin: The Hardkiss.

Die für ihr star­kes poli­ti­sches Enga­ge­ment bekann­te ehe­ma­li­ge Euro­vi­si­ons­sie­ge­rin hielt statt­des­sen der nächs­ten Auf­tre­ten­den die Stan­ge: Jama­la mit ihrem bedeu­tungs­schwan­ge­ren Song ‘1944’. In dem geht es um die von Josef Sta­lin ange­ord­ne­te, für vie­le Betrof­fe­ne tod­brin­gen­de Depor­ta­ti­on der im zwei­ten Welt­krieg angeb­lich mit den Nazi­deut­schen kol­la­bo­rie­ren­den Krim-Tata­ren in besag­tem Jahr. Ein umstrit­te­ner, weil durch sei­nen Kon­text poli­tisch inter­pre­tier­ba­rer Song, der zunächst ein­mal mit musi­ka­lisch spür­ba­rer Trau­er die dama­li­gen schmerz­li­chen Ereig­nis­se Revue pas­sie­ren lässt (Jama­las Groß­el­tern gehör­ten selbst zu den sei­ner­zeit Ver­trie­be­nen), der sich im Sub­text aber auch als Pro­test gegen die aktu­el­le Anne­xi­on der Krim durch Russ­land lesen lässt. Auf­re­gung gab es zudem um den auf krim­ta­ta­risch (≈ tür­kisch) gesun­ge­nen Refrain, des­sen Text­zei­len direkt aus einem alten Volks­lied von der Halb­in­sel stam­men. Und tat­säch­lich schlach­te­ten die bei­den ande­ren Juro­ren in ihren Kom­men­ta­ren die Num­mer, der sie in ihrem Semi noch uni­so­no die Höchst­wer­tung gaben. Aller­dings nicht auf­grund der poli­ti­schen Unter­tö­ne, son­dern mit einer ins Absur­de rei­chen­den Begrün­dung, in der Art, dass Jama­la nicht team­fä­hig sei (ver­mut­lich, weil sie ihr Sty­ling nicht beim Pro­du­zen­ten Kon­stan­tin Melad­ze ein­ge­kauft hat­te). Und das Out­fit sei auch blöd: im Gegen­satz zum Semi, wo sie einen hal­ben Sankt-Mar­tins-Man­tel trug, klei­de­te sie sich dies­mal in ein wei­ßes Ensem­ble, auf dem wech­seln­de Farb­pro­jek­tio­nen das Feu­er­werk der Emo­tio­nen visu­ell unter­stütz­ten, wel­ches Sus­a­na Jamala­di­no­wa sin­gend ent­zün­de­te. Die­ser Schwach­sinn pro­vo­zier­te ver­ständ­li­cher­wei­se Rus­la­nas erreg­te Wider­re­de, und erst nach einer knap­pen hal­ben Stun­de erhitz­ter Dis­kus­si­on, in der es gefühlt mehr­fach kurz vor Tät­lich­kei­ten stand, konn­te es wei­ter gehen.

Das Vor­bild für Jama­las Bei­trag: ein krim­ta­ta­ri­sches Volkslied.

Und zwar mit dem nächs­ten hoch umstrit­te­nen Teil­neh­mer, Andrij Zapo­rożec ali­as Sun­Say. Sein selbst geschrie­be­nes ‘Love­Ma­ni­fest’, das im zwei­ten Semi­fi­na­le trotz oder wegen sei­ner musi­ka­li­schen wie text­li­chen Nähe zu Sie­gel-Mei­nun­ger-Pro­duk­ten bei den Zuschau­ern wie bei der Jury haus­hoch gewann, stand näm­lich bereits unter Beob­ach­tung der Fano­raks. Die ver­mel­de­ten, dass der ganz put­zi­ge Zapo­rożec den Titel bereits 2014 auf einem Kon­zert zum Bes­ten gege­ben hat­te, wovon ein You­tube-Mit­schnitt bestehe. Kon­stan­tin Melad­ze ver­wen­de­te daher eine Vier­tel­stun­de Sen­de­zeit dafür, zu erklä­ren, man habe sich bereits mit der EBU in Ver­bin­dung gesetzt und die Aus­kunft erhal­ten, Sun­Say ver­sto­ße auf­grund gerin­ger Klick­zah­len für das Video nicht gegen die offi­zi­el­len Con­test-Regeln. Was der Jury­kol­le­ge Dany­lko zum Anlass nahm, genüss­lich die deut­lich stren­ger gefass­ten Bestim­mun­gen des ukrai­ni­schen Fern­se­hens zu ver­le­sen, nach denen der Bei­trag dis­qua­li­fi­ziert wer­den müss­te. Rus­la­na, die wäh­rend die­ser Feh­de erstaun­li­cher­wei­se schwieg, frag­te den Sän­ger dann brüsk, ob er glau­be, die Ukrai­ne ver­tre­ten zu kön­nen, wo er doch Gigs für die Sepa­ra­tis­ten auf der Krim gäbe, die letz­ten zwei Jah­re in Sankt Peters­burg gelebt habe und enge Kon­tak­te zu Russ­land unter­hal­te. Zapo­rożec kon­ter­te mit einer Miss-World-wür­di­gen Rede über Frie­den und Lie­be und so, konn­te damit aber nie­man­den über­zeu­gen, schon gar nicht unse­ren anti­rus­si­schen Rache­en­gel aus den Karpaten.

Kein biss­chen Frie­den: SunSay.

Nach all den erbit­ter­ten Aus­ein­an­der­set­zun­gen bot der Auf­tritt der Grup­pe Pur:Pur pure Ent­span­nung. Den lus­ti­gen Vogel­kä­fig, den die Sän­ge­rin der Band beim Semi­fi­nal­auf­tritt noch auf dem Kopf trug, ließ sie dies­mal ab. Dafür flat­ter­ten am Ende ihrer mär­chen­haft-ver­spiel­ten Dar­bie­tung papier­ne Schmet­ter­lin­ge über die Büh­ne. So unschul­dig, so naiv, so beru­hi­gend für die aller­seits ange­spann­ten Ner­ven, das man schon fast glau­ben konn­te, sie sei­en absicht­lich auf die­sen Start­platz gesetzt, um von der Auf­re­gung davor zu pro­fi­tie­ren. Dabei dräu­te über ihnen das­sel­be Dis­qua­li­fi­ka­ti­ons­schwert wie über Sun­Say: auch ihr Klei­der­wech­sel-Lied ‘We do chan­ge’ ver­stößt gegen die Ers­ter-Sep­tem­ber-Regel, glaubt man diver­sen Fano­raks. Spiel­te aber kei­ne Rol­le: mit nur zwei Punk­ten von der Jury und drei­en aus dem Tele­vo­ting reich­te es für sie ledig­lich für den vier­ten Rang. Bis wir das erfuh­ren, ging aller­dings erneut fast eine Stun­de ins Land, denn die drei Juro­ren hat­ten – wel­che Über­ra­schung – völ­lig unter­schied­lich abge­stimmt und konn­ten es nicht unter­las­sen, wäh­rend der Ver­kün­dung des kon­so­li­dier­ten Jury­vo­tings aus­führ­lich dar­auf hin­zu­wei­sen. So erfuh­ren wir, dass Ver­ka, die mit NuAn­ge­ly künst­le­risch zusam­men­ar­bei­tet, dem Duo ihre sechs Punk­te (die Maxi­mal­wer­tung) zuge­schanzt hat­te, wäh­rend Kon­stan­tin den von ihm so nach­drück­lich für regel­kon­form erklär­ten Sun­Say bevor­zug­te und Rus­la­na, natür­lich, Jamala.

Drag-Act Ver­ka moch­te ihren Faux-Les­ben-Chic: NuAn­ge­ly mor­den die eng­li­sche Sprache.

Einig war man sich nur bei den Bru­net­tes, die ein­heit­lich bei allen auf dem letz­ten Platz lan­de­ten, ein­schließ­lich der Tele­vo­ter. Im zusam­men­ge­rech­ne­ten Jury­vo­ting führ­ten schließ­lich The Hard­kiss, die eben­falls extrem wür­di­ge und erfolg­ver­spre­chen­de Ver­tre­ter für Stock­holm abge­ge­ben hät­ten (lie­ber NDR, noch ist Zeit für einen elf­ten Act bei ULFS!) vor Jama­la, die aber mit 38% die SMS-Abstim­mung gewann und damit den Gesamt­sieg ein­zu­fah­ren ver­moch­te. Span­nend könn­te nun wer­den, wie Russ­land auf den ukrai­ni­schen Bei­trag reagiert. Denn bei allem offen­sicht­li­chen poli­ti­schen Sub­text: einen direk­ten Angriff (wie sei­ner­zeit der auf Druck der EBU zurück­ge­zo­ge­ne geor­gi­sche Pro­test­song ‘We don’t wan­na put in’) ent­hält Jama­las mit wun­der­schö­nen, fle­hen­den Flö­ten­tö­nen auf­war­ten­des Lied nicht. Dass es ein geschicht­li­ches Ereig­nis behan­delt, kann eben­falls nicht zu Bean­stan­dun­gen füh­ren – jeden­falls durf­ten das die Arme­ni­er 2015 mit ‘Face the Shadow’ auch. Und der Text umschreibt ledig­lich Ereig­nis­se und Emp­fin­dun­gen, klagt aber nie­man­den nament­lich an: “Wenn Frem­de kom­men / Kom­men sie in Dein Haus / Sie töten Dich alle und sagen / Wir sind nicht schul­dig”. Der Bezug zur Krim ergibt sich nur durch den Song­ti­tel (der sich im Zwei­fel ändern lässt, wie bei Geneao­lo­gy auch) und den Kon­text. Den aber natür­lich jeder kennt (und damit auch alle Kom­men­ta­to­ren) und den Jama­la in Stock­holm sicher­lich in alle hin­ge­hal­te­nen Mikros spre­chen dürf­te. Das wird noch lustig!

A pro­pos lus­tig: hier noch­mal Jama­las Vor­ent­schei­dungs­auf­tritt von 2011!

Schafft die Ukrai­ne mit ‘1944’ den Sprung ins Finale?

  • Na klar. Der Song ist fas­zi­nie­rend und viel­schich­tig, sie eine tol­le Sän­ge­rin. (55%, 57 Votes)
  • Ich find’s zwar schlimm, aber der Song wird die Stim­men aller krie­gen, die sich von Russ­land bedroht füh­len. Das reicht also locker. (16%, 17 Votes)
  • Auf kei­nen Fall. Die­ses Gewim­mer und Geschreie ist ja nicht zum Aus­hal­ten. (13%, 14 Votes)
  • Ich lie­be das Lied, fürch­te aber es ist für de Mas­sen zu sper­rig. Fina­le ja, da aber höchs­tens Mit­tel­feld. (8%, 8 Votes)
  • Das, mei­ne lie­ben Freun­de, ist er: der Sie­ger­song 2016! (8%, 8 Votes)

Total Voters: 104

Wird geladen ... Wird geladen …

6 Comments

  • War­ten wir erst mal ab. Wäre ja nicht das ers­te Mal, dass der ukrai­ni­sche Bei­trag noch aus­ge­tauscht wird, und dies­mal wür­de mich das ange­sichts der Kon­tro­ver­se auch nicht überraschen.

  • Rus­la­na wird mich für die­sen Kom­men­tar wohl umbrin­gen wol­len, aber ich muss es sagen: Die Grund­stim­mung im Refrain von “1944” lässt mich irgend­wie an den ESC-Bei­trag von t.A.T.u. den­ken. Weiß nicht war­um. Hat viel­leicht etwas mit dem Beat zu tun, auch wenn er bei Jama­la deut­lich lang­sa­mer ist.
    Habe die ukrai­ni­sche VE zwar nicht gese­hen, aber die Berich­te davon lesen sich ziem­lich hef­tig. Dass Rus­la­na ver­wirrt ist, hat man ja schon bei der ESC-Punk­te­ver­ga­be 2011 gese­hen, als sie sich unter erheb­li­chem Alko­hol­ein­fluss ver­plap­per­te: “Our 10 points go to Azer­bai­jan! Cox sag ol!”

    Klei­ner Exkurs zwi­schen­durch: “Cox sag ol” wird “Tschok saaol” aus­ge­spro­chen und bedeu­tet nichts ande­res als “Vie­len Dank”. Da hat sie sich wohl aus Ver­se­hen für das gute Schmier­geld bedankt. Das mal nur so am Rande.
    PS: Das habe ich aus dem Inter­net, ich kann kein aserbaidschanisch.

    Nun zu “Bru­net­tes shoot blon­des”: Der eng­lisch­spra­chi­ge Wiki­pe­dia-Arti­kel über die Jungs weiß von einem Auf­tritt in Nürn­berg zu berich­ten, genau­so wie von einer part­ner­schaft­li­chen Zusam­men­ar­beit mit Opel und der Ham­bur­ger Wer­be­agen­tur “Scholz & Friends” für eine EP, zu der auch ein Musik­vi­deo ange­fer­tigt wur­de. Wahr­schein­lich ist das die ukrai­ni­sche Defi­ni­ti­on von “sehr erfolg­reich”. Auch sonst haben sie angeb­lich seit 2011 viel von Euro­pa gesehen.

  • Der Sie­ger­ti­tel ist spit­ze, Platz 2 war auch klas­se – und die Show war 1A-enter­tai­ning. Was will man mehr? I like!

  • den auf­tritt wird russ­land für eine net­te 3‑minütige wer­be­pau­se nutzen ;-)))

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert