Die Esten sind ein erstaunliches Volk: da stellten sie gestern, mal wieder, die mit Abstand beste Vorentscheidung aller 43 teilnehmenden Nationen auf die Beine, gespickt mit fantastischen Liedern und hervorragenden Darbietungen. Und dann schafften sie es, die besten davon auf der Strecke zu lassen und ihr Superfinale lediglich mit einem unsympathisch blasierten James-Bond-Imitatoren und zwei gesanglich gehandicappten Frauen in Leuchtkostümen zu bestücken. Gewonnen hat, um es vorweg zu nehmen, der Junge-Union-Sprecher (und, wie sollte es anders sein, aktuelle Estland-sucht-den-Superstar-Sieger) Jüri Pootsmann mit dem vom Vorjahresvertreter Stig Rästa mitkomponierten ‘Play’ – tatsächlich kein schlechter Song, wenn man während der drei Minuten die Augen schließt. Pootsmann erwies sich im ersten Wahlgang als absoluter Juryliebling und gewann dort, wie auch im hundertprozentigen Televoting im Superfinale, ebenso die Mehrheit der Zuschauerstimmen (44%). Man scheint in Estland also auf eine arrogante Ausstrahlung zu stehen, wie es sich ja auch schon 2015 zeigte (und womit man ja auch da schon nicht unbedingt schlecht fuhr).
Schon die affigen Schuhe würden mich auf die ‘Stop’-Taste drücken lassen: Jüri Pootsmann
Schimpfen muss ich aber diesmal mit dem estnischen Publikum, dass den bei der Jury zweitplatzierten Mick Pedaja mit dem fantastisch düsteren, sphärisch-experimentellen ‘Seis’ aus dem Superfinale herauskantete und durch die plumpe Laura Remmel und ihr schon fast beleidigend schlichtes ‘Supersonic’ ersetzte. Frau Remmel hatte sich als eine Art stilisierter Christbaum oder als Figur aus Tron verkleidet und schaltete ihre Leuchtstreifen den ganzen Abend lang nicht ab – auch nicht im Green Room. Herr Pedaja, dessen natürlich nicht für Jedermann zugänglicher Beitrag offenbar spaltete, kassierte bei den ersten vier Juroren nichts als Höchstwertungen, später aber auch ein paar Tiefschläge. Er hinterließ visuell einen bleibenden Eindruck, da er die meiste Zeit, nur von hinten angeleuchtet, im völligen Dunkel stand, so dass man nur seinen Umriss erkannte, und sein ebenfalls unkenntliches Gesicht (oh, wie sehr würde ich mir das beim Pootsmann wünschen) als Projektionsfläche für bizarre Lichtspielereien diente, was das Trippige seines Liedes um so mehr verstärkte. Ganz große Kunst!
Oh, das LSD wirkt schon: Mick Pedaja.
Auf dem Gewissen haben die Televoter/innen auch das fabelhafte ‘Patience’ mit der so erstaunlichen wie erstaunlich einprägsamen und mitsingbaren Hookline “My Feet are on Fire” von I wear Experiment. Die Band um eine etwas schüchtern wirkende, leicht an Juliane Werding erinnernde Leadsängerin schloss im Juryvoting punktgleich mit ‘Immortality’ von Cartoon ab, einem visuell herausragenden Beitrag, der fast ausschließlich aus einem mit den schwarzweißen, handgezeichneten Elementen aus a‑has epochemachendem ‘Take on me’ und buntem 3‑D-Zeichentrick spielenden Videoclip bestand, zu dem die Gaststimme Kristel Aasleid hinter der Projektionswand katastrophal schlecht sang. Da ‘Immortality’ – ohne die beeindruckende Show drumherum lediglich ein okayer, kein besonders herausragender Song – aber im Zuschauervoting ebenfalls auf dem dritten Platz lag, ‘Patience’ jedoch nur auf Rang #8, zogen Cartoon ins Superfinale weiter, wo sie dann auf dem letzten Platz landeten. Schade drum, wie übrigens auch um das universell verschmähte, tarantinohafte ‘Sally’ von Go away Bird, deren Leadsängerin an eine jüngere, coolere Version der unsterblichen Pop-Ikone Debbie Harry (Blondie) erinnerte.
Könnte ich in Endlosschleife hören: I wear*Experiment.
12 Punkte alleine schon für die lustigen Seitendutte: der Große Schreivogel (Go away Bird).
Das einzige vage Lob, dass ich den Anrufer/innen aussprechen kann, ist, dass sie in der ersten Abstimmungsrunde den von der Jury in wirklich skandalöser Weise vernachlässigten Meisterjaan wenigstens noch auf den vierten Platz wählten und damit zeigten, dass sie die besseren Connaisseure sind. Vonseiten der angeblichen “Experten” (ernsthaft: bitte sterbt, allesamt) erhielt er, getreu des Mottos, dass das Genie im eigenen Land nichts zählt, gerade mal von einem nicht aus Estland stammenden, in der Wertungspause als Interval Act auftretenden, mir völlig unbekannten Justin-Bieber-Lookalike acht Punkte, ansonsten nur weit darunter liegende Wertungen. Und das für das rundweg fantastische ‘Parmupillihullus’! Nie wieder in meinem gesamten Leben werde ich ein Lied so sehr lieben können wie dieses! Dass der geniale Meisterjaan, der uns bereits 2011 bei der Eesti Laul mit dem nicht minder sensationellen ‘Unemati’ einen seltenen Moment der Größe bescherte, nicht gewinnen wird, damit hatte ich mich allerdings schon im Vorfeld abgefunden. Und so bleibt die Eesti Laul weiterhin eine Fundgrube, die an einem Abend mehr fantastische Beiträge präsentierte als die drei Runden des Eurovision Song Contest 2016 dies insgesamt tun, und die mal wieder das Beste für sich behielt, aber immerhin einen akzeptablen Beitrag für Stockholm lieferte. Oder, kurz gesagt: die Esten sind die Besten!
So sieht berechtigte Begeisterung aus: Meisterjaans Gespielinnen.
Schafft Estland mit Jüri Pootsmann den Finaleinzug?
- Na klar. Der Song ist abartig cool, und Jüri hat die genau dazu passende Ausstrahlung. Das landet sogar im Finale weit oben! (71%, 51 Votes)
- Nein. Jüri ist bräsig und blasiert, der Song bestenfalls so la-la. Platz 11 im Semi. (29%, 21 Votes)
Total Voters: 72
Die Begeisterung für Meisterjaan kann ich jetzt nicht unbedingt nachvollziehen. Das ist schon irgendwie strange und lustig. Aber mehr als einmal würde ich mir das nicht anhören wollen.
Dass der Herr Poostbeamte mit Kens Plastikhelm-Frisur gewonnen hat, hängt vielleicht damit zusammen, dass er Superstar-Gewinner ist und deswegen im Moment besonders populär. Das Lied an sich ist nun wahrlich nicht schlecht, aber im Vergleich zu anderen Beiträgen im Wettbewerb stinkt es meilenweit ab.
Und somit haben sich die Esten wieder einmal erfolgreich davor gedrückt, den ESC im nächsten Jahr selbst ausrichten zu müssen.
Jüri Pootsmann – auf solche Typen steht die Welt. Nicht grundlos schlagen wir uns sei Jahrzehnten mit der James Bond-Figur herum. Immerhin jemand der dem Titlelanwärter Lazarev was entgegen halten und gefährlich werden kann. Der Kampf West gegen Ost findet so auch in Stockholm wieder mal seine Entsprechung ! 😉
Gesamt betrachtet womöglich das Schlechteste vom Besten, im Superfinale der letzten drei dann aber in jedem Fall das Beste vom Schlechtesten. Und auch bei dem diesjährigen eher mauen ESC-Jahrgang spielt Jüri ganz oben mit. Aber da konnte bei der Qualität des Eesti Laul ohnehin nicht viel schiefgehen.
Der Maultrommler Meisterjaan ist super. Coole Nummer! Wie man einen Song aus nur einem Ton, einer Note schreiben kann – fabelhaft! Instrumente vom Rande des gängigen Repertoires sind ja immer ganz drollig. Bin gespannt, wann einmal ein Sousaphon, Trummscheit, Theorbe oder Heckelphon auftauchen.
Der geschniegelte Sieger-Bubi – je nun, schlecht ist das Lied nicht! Und singen kann der Knabe auch.
Auch ich bin gestern ein großer Fan von “Seis” geworden.
So einen atmosphärischen Beitrag hätte der ESC 2016 gebraucht.
Völlig unvoreingenommen habe ich den Eesti Laul verfolgt und war nach Mick Pedajas Performance hin und weg.
Schade, dass ich ihn jetzt nicht in Stockholm sehen werde.
Jüri geht zwar auch in Ordnung, aber ich trauere diesem stimmlich-magischen Vortrag sehr nach.
Ich persönlich war natürlich vor allem von Meisterjaan und Mick Pedaja begeistert, aber ich glaube natürlich auch, dass das nicht den Geschmack der Massen trifft (weder offensichtlich den nationalen als auch später von Gesamteuropa). Das ist mir natürlich egal, weil es mir um gute und interessante Beiträge geht, nicht um erfolgreiche. Aber so fand ich natürlich, ähnlich wie der Hausherr, die Superfinalauswahl sehr enttäuschend.
Unter den verbleibenden 3 gefiel mir dann die Cartoonistin noch am besten – nicht unbedingt sanglich, aber es bleibt wenigstens optisch hängen, aber man weiß ja, was Castingshow-Sieger an Fanaufgeboten mobilisieren können, selbst wenn man nicht einmal unterstellt,dass dies aktiv betrieben wird.
Insgesamt bestätigt dies meinen Eindruck von der diesjährigen Auswahl: das meiste ist absolut harmloses Mittelmaß. Es gibt zwar erfreulicherweise bislang kein einziges Lied, bei dem ich mich direkt übergeben muss (wofür ich sehr dankbar bin), aber ich vermisse auch echte Perlen.
Die Jüri-Entscheidung ist durchaus nachvollziehbar, allerdings trieft es doch arg vor Arroganz und Coolness bei dem jungen Bootsmann, schau an, ein Matrose, der nur spielen will. Der Song hört sich gut an und wenn ich den Auftritt mit dem jungen Polen vergleiche – da liegen Welten dazwischen. Estland ist mit diesem Beitrag für einen Top-Platz dabei. Werter Blogger, da es Deinen YT-Link “geschrottet” hat – hier ein Video vom produzierten Video: https://www.youtube.com/watch?v=LWi9BAF-aZw&feature=youtu.be