Wie schrecklich es mit der institutionellen russischen Homophobie bestellt ist, erfuhr in dieser Woche der israelische Eurovisionsvertreter Hovi Star am eigenen Leibe. Wie er einem Bericht von Wiwibloggs zufolge gestern Abend in der maltesischen Talkshow Xarabank erzählte, hinderten ihn Zöllner am Flughafen Moskau bei der Einreise in das Land, das er im Zuge einer Promotour besuchen wollte. Hovi: “Sie sagten mir, ich dürfte nicht rein. Sie schauten in meinen Pass, zerrissen ihn und lachten mich aus”. Gründe für diese unglaubliche Behandlung seien nicht genannt worden: “vielleicht, weil ich schwul bin, vielleicht, weil ich mich so anziehe, vielleicht, weil ich Make-up trage – ich weiß es nicht,” so der Künstler im Interview. Trotz des skandalösen Vorfalls, den seine spanische Kollegin Barei, die das Geschehen als Augenzeugin mitverfolgen musste, am Donnerstag in der Zeitung Lavangardia publik machte, blieb Hovi Star in seiner Mitte: “Mein Song ‘Made of Stars’ handelt von der Gleichheit; davon, dass alle gleich sind, gleich geboren, gleich im Sterben. Und ich betone immer: schenkt Liebe – sie ist kostenlos. Es gibt keinen Grund für Hass, für Negativität. Ich habe mich entschieden, es als Lehre zu verbuchen.” Er liebe Russland, das er schon mehrfach besucht habe, und wolle es nicht persönlich nehmen.
“Wir leben, wir lächeln und wir geben jedem freie Liebe”: Bravo, Hovi
Barei, die im Zeitungsinterview ergänzend schilderte, dass die Zollbeamten von niemandem sonst die Personalien kontrollierten und nur Hovi, der ein leichtes Make-up trug, dergestalt schikanierten, kommentierte: “wenn man sich anschaut, wie Schwule dort behandelt werden – wäre ich schwul, würde ich nicht für Russland stimmen”. Hovi hingegen betonte in der Xarabank-Show, er möge Sergey Lazarev und auch seinen Song sehr. Der Vorfall wirft ein neuerliches Schlaglicht auf die von Regierungsseite nicht nur geduldete, sondern mit entsprechender Gesetzgebung aktiv beförderte Homophobie in Russland, die im Hinblick auf den nicht unwahrscheinlichen (und angesichts des audiovisuellen Gesamtpaketes auch sicherlich nicht unberechtigten) potentiellen Sieg des Landes beim Eurovision Song Contest 2016 viele Fans mit Sorge erfüllt. Nun kann der gute Sergey natürlich nichts dafür – dennoch bleibt die Gewissensfrage: kann ich als schwuler Mann für seinen Titel ‘You are the only One’ anrufen, wohl wissend, dass er gewinnen könnte und meine Mitschwestern dann 2017 ins schwulenfeindliche Moskau / Petersburg / Sotschi reisen müssten, immer in Gefahr, ähnlich mies behandelt zu werden? Oder zählt nur die Musik?
Gib mir den Finger: Sergey bei einem Teilplayback-Auftritt vor wenigen Tagen (RU)
Der geschasste rumänische Vertreter Ovidiu Anton, das Bauernopfer in der Tragödie um die aufgelaufenen Schulden des Senders TVR bei der EBU, erwäge unterdessen gerichtliche Schritte gegen seinen überraschenden Ausschluss vom Eurovision Song Contest 2016, wie er in einem Radiointerview durchblicken ließ. Auch, wenn ihm derzeit noch nicht klar sei, gegen wen er seine Schadenersatzforderungen richten solle: “Ich weiß nicht, wer schuld ist, aber ich bin es mit Sicherheit nicht,” sagte er gegenüber RFI Rômania. Er bezeichnete den angerichteten Schaden als “unermesslich. Niemand kann beziffern, was das für einen Künstler bedeutet”. Eine derartige Chance, sich vor einem internationalen Publikum zu präsentieren, komme nie mehr wieder. Er wolle sich nun mit seinen Anwälten besprechen und ihrem Rat folgen, denn “jemand ist Schuld und muss dafür bezahlen”. Das Kapitel Song Contest sei für den Sänger, der seit etlichen Jahren an jeder rumänischen Vorentscheidung teilnahm und es heuer mit seinem musicalhaften ‘Moment of Silence’ erstmals schaffte, aber für alle Zeiten abgeschlossen: “Ich werde mich nie wieder für die Eurovision bewerben. Als Repräsentant eines Landes wurde ich sehr unfair behandelt, miserabel gar. Ich schwöre, das Eurovisionsspiel – denn es hat sich als Spiel herausgestellt, nicht als Wettbewerb – ist für mich beendet, egal was in Zukunft passiert”.
Ein Trostpreis für den Kollateralschaden (RO)
Eine Fan-Petition, Ovidiu und seine Truppe rumänischer Rock-Superhelden, die im Vorfeld des Skandals vom US-amerikanischen Popkultur-Kanal Overthinking it bereits als letzte Aufrechte des nicht gesandstrahlten Eurovisions-Einheitsbeitrags mit dem “semi-ironischen Kane Clap Award für Leistungen im Feld des Außergewöhnlichen” ausgezeichnet wurde, doch noch in Stockholm starten zu lassen, verzeichnet unterdessen knapp 2.000 Unterstützer/innen. Der EBU scheint es jedoch Ernst damit zu sein, ein Exempel gegen die mangelhafte Zahlungsmoral ihrer Mitgliedsanstalten beziehungsweise die fehlende Unterstützung der öffentlich-rechtlichen Sender durch etliche Landesregierungen zu statuieren (wie der Prinz-Blog recherchierte, muss TVR sich von einem seit 15 Jahren unveränderten Rundfunkbeitrag von 15 Euro per Anno finanzieren): auf der offiziellen eurovision.tv-Seite wurden alle Rumänien betreffenden Einträge bereits getilgt. Und so verständlich es einerseits erscheint, dass die EBU angesichts der massiven Schulden des Karpatenlandes und des offensichtlichen Unwillens der dortigen Regierung, dem Sender unter die Arme zu greifen, jetzt öffentlichkeitswirksam die Reißleine zieht, so besorgniserregend scheint der Vorfall doch auch im Hinblick auf den immer stärker schwindenden Zusammenhalt Europas, zu dem die Eurovision doch von ihrer Ursprungsidee her einen nicht unerheblichen Anteil beitragen sollte.
Im Angedenken an den rumänischen Meat Loaf hier noch mal die Vorentscheidungsperformance
Lob gab es unterdessen vom schwedischen Eurovisionszampano Christer Björkman (SE 1992) für Deutschland: in einem Interview mit der Süddeutschen gestand er, bei der Punktevergabe stets “erleichtert” zu sein, wenn nach Hamburg geschaltet wird: “Deutschland macht das immer ziemlich gut, weil der Platz voller Menschen ist, das gibt eine fantastische Energie. Wir sagen den anderen immer: Macht es genauso, das ist fabelhaft”. Wie bereits bekannt, will er in diesem Jahr erstmalig mit allen Punkteansager/innen im Vorfeld die Skripts durchgehen, um zu verhindern, dass wir uns 42 mal “It was a beauuuuuutifuuuul Evening” und ähnliche Plattheiten anhören müssen, wofür ich ihm, ehrlich gesagt, dankbar bin. Auch wenn es angesichts der verschiedenen kulturellen Prägungen der Teilnehmerländer noch spannend werden könnte, ob es den Schweden tatsächlich gelingt, allen Nationen die dort teils felsenfest zum erwarteten Höflichkeitscode gehörenden Floskeln auszutreiben. Zu Jamie Lees Chancen befragt, äußerte er sich deutlich diplomatischer als zuletzt gegenüber den britischen Kollegen: “Manga ist eine coole Sache, jedenfalls für die Jüngeren. Das könnte funktionieren. Ich würde es nicht ausschließen”. Das heißt zwar zwischen den Zeilen “ich glaube nicht daran”, aber er spricht es zumindest nicht offen aus. Im Gegensatz zu der Tatsache, dass es ihn als Produzenten der Show vor logistische Probleme stelle, die zur deutschen Bühnenshow gehörenden Totholzbäume in der knapp bemessenen Umbaupause rechtzeitig auf die und von der Bühne zu rollen.
Mein Freund der Baum ist tot: der singende Eisbecher Jamie Lee Kriewitz beim Echo (DE)
Kein gutes Haar ließ Björkman hingegen am hiesigen Vorentscheid. Oder, genauer gesagt, an der mangelnden Kontinuität des Verfahrens. “Ich fand es seltsam,” sagte er der Zeitung im Hinblick auf die ursprünglich vom NDR vorgesehene Direktnominierung von Xavier Naidoo: “Deutschland hatte viele Jahre Probleme und dann mit Lena endlich ein Modell gefunden, das funktionierte. Als TV-Produzent hätte ich das für ein paar Jahre beibehalten und geschaut, ob sich das Publikum damit wohlfühlt. Ich war verblüfft, dass man das nicht gemacht hat. Das Publikum weiß gerne, was kommt. Kontinuität. So schafft man eine Bindung zwischen Zuschauern, Musikindustrie und TV-Sender. Ein Grund dafür, dass wir so ein großes Publikum beim Melodifestivalen haben, ist Konstanz. Wir haben dasselbe Modell seit 54 Jahren”. Insbesondere die (vom NDR ebenfalls mal in Erwägung gezogenen, dann aber aus Kostengründen wieder verworfenen) Vorrunden inklusive der Andra Chansen trügen zum Erfolg des Formats in Schweden bei: “So lernt das Publikum die Songs während der Shows besser kennen. Sie laufen im Radio und jeder hat schon vor dem Finale einen Favoriten”. Auch die in Deutschland beliebten, augenzwinkernden Eurovisionsbeiträge von Stefan Raab (2000) und Guildo Horn (1998) kritisierte Björkman: “den gesamten ESC als Lacher zu sehen, ist falsch”. Mit anderen Worten: am schwedischen Wesen soll die Welt genesen und Ironie ist so was von letztes Jahrtausend.
https://youtu.be/pJgszpNj7dY
“Germany ridiculing the Ridicoulus”: auch Terry Wogan ist not amused
Seufz. Ach, Christer. Du hast ja in vielem Recht. Natürlich würde auch ich ein festes Format nach dem Vorbild des Melodifestivalen begrüßen, anstelle der offensichtlichen Plan- und Kopflosigkeit des deutschen Fernsehens im Umgang mit dem Vorentscheid. Aber so funktioniert es hierzulande nun mal nicht. Schweden ist ein verhältnismäßig kleiner Staat mit einem überschaubaren Musikmarkt. Ein Grund, warum Eure Künstler/innen und Produzenten über den Tellerrand hinausschauen und Ihr auch international so gut im Geschäft seid. Während es für die meisten deutschen Musiker/innen ausreicht, sich im nationalen Saft zu suhlen, weil der heimische Markt immer noch genügend hergibt. Gegenüber den Kollegen vom Prinz-Blog verriet der deutsche Delegationsleiter Thomas Schreiber erst gestern: “Es gibt eine Reihe großartiger Musiker, mit denen ich unbedingt gerne zum ESC fahren würde. Aber die kommen alle nicht aus der ESC-Welt und sehen sich da nicht”. In Schweden bestehen deutlich weniger Berührungsängste, alleine schon, weil Abba gezeigt haben, wie sich aus einem Eurovisionssieg eine Weltkarriere schmieden lässt. Woraus wiederum die hohen Einschaltquoten des Mello resultieren: “Es ist ähnlich wie beim Sport. Man will sich die Dinge ansehen, in denen man gut ist. Wir schauen viel Hockey, weil wir gut im Hockey sind. Tennis schauen wir weniger, das können wir nicht mehr so gut. Dasselbe Prinzip: Wir haben gute Ergebnisse bei der Eurovision, also schauen die Leute Eurovision. Sie sind stolz”, wie Du selbst der SZ sagtest.
Braten Anchovis auf dem Billigflughafen: Argo (GR)
Und klar, wenn man so einen Lauf hat wie Schweden, kann man natürlich leicht große Töne spucken. Aber in Sachen Horn muss ich Dir vehement widersprechen. So gut ich es ja finde, dass der Song Contest den Ruf der reinen Träsh-Veranstaltung abschüttelt und zur hoch professionellen Leistungsschau des Europop mutiert: das (ungewollt oder gewollt) Schräge, das Unperfekte, das Schiefgegangene, das gehört für mich zum schützenswerten Wesenskern dieser Show. All die Cezars (RO 2013) und Jeminis (UK 2003) sind für mich das Salz in der Eurovisionssuppe. Immer, wenn sich ein Land aus Gründen des Nationalstolzes oder der puren Verzweiflung entscheidet, auf das erfolgversprechend Stromlinienförmige zu verzichten und stattdessen etwas hoffnungslos Folkloristisches zu entsenden, hüpft mein widerständisches Herz voller Freude. Weswegen ich in diesem Jahr die Griechen und ihr völlig aus der Rolle fallendes ‘Utopian Land’ so sehr liebe – der erste Beitrag der Hellenen, mit dem sie garantiert die Qualifikation nicht schaffen werden und doch das Respektabelste, was das Land an der Ägäis jemals schickte. Denn nichts langweilt (mich) so sehr wie gleichmäßige Perfektion, und nichts wäre furchtbarer als 40 oder mehr gleichermaßen auf Eurovisionstauglichkeit optimierte Einheitsbeiträge. Von denen gibt es bereits jetzt viel zu viele. Deswegen danke, Argo; danke, Serhat; danke, Ovidiu. Und danke an Alle, die mit einem Spaßbeitrag bereits im nationalen Finale scheiterten. Ihr seid die wahren Helden der Eurovision!
https://youtu.be/0RFoR4nQl7U
Leonard Cohen in der Gay Disco: Serhat mit dem ESC-Schatzlied 2016 ℠

Der ESC soll kein politischer Wettbewerb sein. Und die Künstler kann man auch nicht für den Bullshit verantwortlich machen, der in Russland läuft. Das ist wohl die theoretische Lehre.
Allerdings wird das Austragen des ESC in manchen Ländern gerne politisch instrumentalisiert, siehe Russland oder Aserbaidschan. Insofern frage ich mich, warum gerade ich als Fan mich unpolitisch verhalten soll. Das ist aus meiner Sicht absolut lächerlich.
Und deshalb stehe ich dazu, dass es absolut unverantwortlich ist für Länder zu stimmen, in denen unsere Rechte mit Füßen getreten werden.
Vom Boykottieren aus (gesellschafts-)politischen Gründen halte ich meistens eher wenig. Wenn Russlands Lied europaweit ankommt, dann soll es auch gewinnen. Meiner Meinung nach ist es dafür aber selbst etwas zu “schwul”, eher kitschig als modern, aber nichtsdestotrotz sehr gut produzierter Pop. Jedenfalls wäre ein ESC in Russland ähnlich wie damals bei Aserbaidschan eine Chance dafür, dass sich der Fokus der Welt neben der Austragung eben auch auf gewisse Missstände im Austragungsland richtet und diese so ebenfalls (noch) mal in den Fokus rücken. Gut, bei Russland ist es vielleicht nicht ganz so nötig, weil da schon mehr bekannt ist. Aber ohne den ESC in Aserbaidschan hätte ich gewisse Dinge über die Lage im Land garantiert nicht erfahren. Das macht manche Sachen in dem Land jetzt zwar auch nicht besser, aber lieber ein kleines Spotlight als Scheuklappen. Eventuell stößt das dann ja doch irgendeine Art von (positiver) Entwicklung an.
@porsteinn: Eine positive Entwicklung angestoßen hat es im Falle von Aserbaidschan jedenfalls nicht, wie Stefan Niggemeier letztes Jahr zusammengefasst hat. Da ist die Menschenrechtssituation eher noch schlimmer geworden als besser. Ich habe selbst auch lange Zeit die These vertreten, dass es besser ist, nicht-demokratische Länder an die Hand zu nehmen und auf sanfte Veränderung durch Umarmung zu setzen, bin aber doch zunehmend ernüchtert, was das angeht. Und neige mittlerweile mehr und mehr dazu, für den Ausschluss von Ländern wie Russland und Aserbaidschan zu plädieren. Auf jeden Fall werde ich nicht mehr für Russland beim ESC anrufen, selbst wenn mir, wie in diesem Jahr, der Song gefällt. Aber das muss natürlich jeder für sich selbst ausmachen.
http://www.stefan-niggemeier.de/blog/22002/ausgewandert-eingesperrt-abgetaucht-fuer-kritiker-ist-in-aserbaidschan-kein-platz-mehr/