In San Marino ist man stinkig auf die EBU: nach der Neuorganisation des Votingverfahrens beim Eurovision Song Contest, das eine getrennte Verlesung der Jury-Ergebnisse und der (zusammenaddierten) Zuschauerabstimmung beinhaltet und erstmals 2016 zur Anwendung kam, protestierte die winzige Republik gegen die Neuordnung, die sie in den Worten ihres Delegationsleiters Alessandro Capicchioni als “diskriminierend” empfand. Der Grund: da das vollständig von Italien umschlossene, lediglich 30.000 Einwohner/innen starke Mini-Land über kein eigenständiges Telefonnetz verfügt, kann es kein valides Televoting liefern, weswegen bis 2015 beim Grand Prix nur die sanmarinesische Jury-Abstimmung zählte. Seit 2016 errechnet Digame im Auftrag der EBU ein fiktives Televoting auf Basis der realen Abstimmungsergebnisse mehrerer anderer Nationen, verrät allerdings nicht, welche es dafür heranzieht. Damit ist man auf dem Monte Titano sehr unglücklich und entwickelte nun, wie Eurovoix berichtet, einen eigenen Vorschlag. Nach diesem will San Marino neben der Jury ein Zuschauerpanel einrichten, das aus nach statistisch relevanten Gesichtspunkten ausgewählten Bürger/innen der Republik besteht. Diese sollen während der Live-Sendung per Internet abstimmen. Das so ermittelte Ergebnis zähle dann als sanmarinesisches Televoting.
https://www.youtube.com/watch?v=TvEhfqkQ7q8
Der legendäre “Moment!”-Moment beim deutschen Vorentscheid 1980: Frau Dr. Köhler kommt mit dem Auszählen nicht hinterher
Ein solches System mit repräsentativ ausgewählten Zuschauer/innen komme dem Eurovoix-Bericht zufolge bereits seit vier Jahren beim italienischen San-Remo-Festival, der Mutter des Eurovision Song Contest, zum Einsatz. Es erinnert ein wenig an den Einsatz von Meinungsforschungsinstituten bei deutschen Grand-Prix-Vorentscheidungen in den frühen Achtzigerjahren, als mehrere tausend ebenfalls nach statistischen Gesichtspunkten ausgewählte Bundesbürger/innen den germanischen Beitrag bestimmen durften (und dabei meist ein ziemlich gutes Händchen bewiesen). Mit dieser Zuschauerjury entginge der Winzstaat der Fremdbestimmung durch ein anonymes, fiktives Durchschnittsergebnis, welches zwar weiterhin ermittelt werden könne, aber nur für den Fall eines technischen oder sonstigen Problems mit dem Publikumspanel als Notfalloption zur Verfügung stehen solle. Jedenfalls, wenn es nach SM RTV geht. Ein interessanter Vorschlag, dem zusätzliche Bedeutung zukommt, da die EBU nach einem Bericht von Wiwibloggs von Anfang November 2016 in den Regeln für den 2017er Contest bewusst die Option einräumt, das Verhältnis der Stimmen von Jury und Zuschauer/innen neu zu gewichten.
Von der Jury verhindert: der Sieg des Zuschauerfavoriten Sergey Lazarew (RU 2016)
Seit 2009 zählen bekanntlich beide Ergebnisse jeweils zur Hälfte, doch künftig können die Genfer im Benehmen mit der Reference Group, dem zentralen Lenkungsorgan des ESC, diese Ratio verändern. Die Forderungen nach einer stärkeren Berücksichtigung des Zuschauervotings mehrten sich zuletzt, da sich in den letzten beiden Jahren der klare Publikumsfavorit nicht gegen die Jury durchsetzen konnte und 2016 gar eine (wenngleich fantastische) Kompromisskandidatin als lachende Dritte im Streit zwischen Zuschauern und den “Professionellen” den Sieg davontrug. Auch die Präsentation der Ergebnisse steht nach den aktuellen Regeln zur Disposition des Veranstalters und der EBU. Zwar gibt es derzeit keine Anzeichen, dass das vom schwedischen Sender SVT 2016 mit großem Erfolg eingeführte, hochspannende Auszählungsverfahren wieder auf der Kippe stünde, dafür aber lässt das derzeit praktizierte Verlesen der kumulierten Zuschauerstimmen relativ problemlos eine rechnerisch stärkere Gewichtung der Vox populi zu, welcher statt 50% beispielsweise auch eine Zweidrittelmehrheit zukommen könnte. Damit bliebe noch immer das von Vielen gewünschte “Korrektiv” zum Diasporavoting durch die Jurys, deren Einfluss aber sänke und die nicht mehr so leicht wie bisher ihnen nicht genehme Beiträge durch konzertiertes Strafbepunkten heruntervoten könnten. Bislang sind solche Pläne aber noch nicht bekannt.
Wäre auch bei hundertprozentigem Televoting knapp gescheitert: der fabelhafte sanmarinesische Discotürke Serhat
Das Verhältnis von Jury und Televoting zugunsten des Publikums zu ändern, ist doch eine total sinnlose Idee. Entweder sie haben genug Einfluss, um den Sieger des Publikums auch mal verhindern zu können, oder man sollte sie gleich abschaffen. Einen Mini-Einfluss um nur auf den Rängen ein wenig zu verändern, braucht es meiner Meinung nach nicht.
Und Serhat hätte die ursprüngliche Balladenversion singen sollen. Die Disco-Rhythmen und – miezen konterkarieren zu sehr seine gefühlvolle Stimme und seine eigene statische Performance.