Es klang von Anfang an zu schön, um wahr zu sein: wie Eurovoix im November 2016 berichtete, sollte unerhört Revolutionäres geschehen und das albanische Publikum beim Festivali i Këngës nach lediglich 54 Jahren reiner Juryherrschaft erstmalig ein Mitspracherecht erhalten. Natürlich nur mit ganz behutsamen Babyschritten: in den beiden Semis des FiK, in denen diesmal insgesamt 24 Acts antraten, sollten die Zuschauer:innen per Internet-Voting zunächst einmal drei Titel für das 14 Plätze umfassende Finale bestimmen. Eine fünfköpfige Musikerinnen-Jury würde weitere drei Finalist:innen wählen, die siebenköpfige Senderjury aus lebensälteren Honorator:innen hingegen acht. Für das Finale selbst war sogar ein für skipetarische Verhältnisse ungewöhnlich progressiver 60-zu-40-Split zwischen den “Professionellen” und der Vox populi geplant. Doch dann bekam der dem Publikumsgeschmack offenbar nicht so recht trauende Sender RTSH kalte Füße: in den Semis verhinderten angebliche “technische Probleme” die Auszählung des Internetvotings, und im Finale entschied man sich kurzfristig, dessen Anteil von 40% auf ein Dreizehntel (7,7%) zurückzustufen, es also einfach als weitere Jurystimme zu (ent-)werten. Womit die traditionellen Herrschaftsverhältnisse wieder sichergestellt und der unmündige Plebs in seine Schranken gewiesen wurde.
Knapp vier Stunde eigenwillige Unterhaltung: das Finale des FiK 55 in voller Länge.
Und so sehr es mich als bekennender Jury-Hasser schmerzt, es zuzugeben: in diesem Fall erwies sich die Demokratieallergie des Senders als segensreich. Das Volk votierte nämlich mit sehr, sehr deutlicher Mehrheit für ein singendes Monchichi namens Yll Limani und seine leider ziemlich plodderige Midtempo-Breitwand-Ballade ‘Shiu’ (‘Regen’). Nach dem ursprünglich annoncierten Verfahren hätte dies zu einem Punktegleichstand mit der klaren Favoritin der diesmal wieder einzeln vor der Kamera abstimmenden Juror:innen geführt, von denen nur die Senderjury in der Halle anwesend sein durfte, in weiße Sitzquader gequetscht; während man die Musikerinnenjury über Telefonleitungen zuschaltete, die sich anhörten, als befände sich die jeweilige Gesprächsteilnehmerin gerade unter Wasser, in der Tiefsee, und ein vorbeischwimmender Riesenrochen habe den Hörer verschluckt. Doch so blieb Yll bedröppelt im Regen stehen und es gewann mal wieder eine sich leidenschaftlich verausgabende Sängerin mit einer starken (und stark hallunterfütterten) Stimme und einer hochdramatischen Balkanballade.
Am Tag, als der Regen kam: dank ihrer komfortablen 12-zu-eins-Mehrheit pissten die Juror:innen über Yllis Sieg im Publikumsvoting.
Lindita Halimi heißt deren Interpretin: die 27jährige gebürtige Kosovarin gewann 2006 den albanischen Wettbewerb Top Fest und wurde dadurch in der Heimat zum Star, wanderte 2013 in die USA aus, belegte vor zwei Jahren den dritten Platz beim FiK und nahm 2016 an der aktuellen Staffel von American Idol teil. Ihr Song ‘Botë’ (‘Welt’) begann verhalten, steigerte sich aber rasch zu einem geigengeschwängerten, von mächtigen Drumbeats aufgepeitschten und im Refrain hauptsächlich vom Chor getragenen Schmachtfetzen, zu dem sich die zierliche Lindita in einem kurvenbetonenden Kleid die Seele aus dem zarten Leib schrie. Aber nicht so ohrenbetäubend schrill, wie viele ihrer Vorgängerinnen das taten, sondern durchaus handwerklich filigran. Zwischendrin sah es gar mal für ein paar bange Minuten so aus, als könne der Meta-Hipster Genc Salihu mit einem unbeschreiblichen Existenzialisten-Jazzstück die Krone holen, das allenfalls als In-Joke durchzugehen vermochte, mir aber einen gewissen Respekt für die Dickköpfigkeit der Adlerlandbewohner:innen abnötigte, derart unbekümmert auf die Hörgewohnheiten Resteuropas zu scheißen. Doch der landete, auch aufgrund der klugen Einsicht der Jurorin Anjeza Shahini, auf Rang 2.
Einmal um die Welt: Lindita liegt da was auf der Seele.
Auf dem letzten Platz in beiden Abstimmungen fand sich mit Xhesika Polo die lange verschollene albanische Doppelgängerin von Marija Šerifović, allerdings in einem unsagbar unvorteilhaften Fummel und – aus welchem Grund auch immer – mit einem (hoffentlich nur) mit Edding aufgemalten Hals-Tattoo, welches das vollständige Fehlen dieses Körperteils um so auffälliger hervorhob. Das einzig erwähnenswerte an ihrem Song blieb indes die Tatsache, dass ein von mir schon seit vielen hundert Jahren totgeglaubtes Familienmitglied ihn schrieb: Marko Polo nämlich. Auf einem enttäuschenden zehnten Rang landete der ziemlich geile Beitrag ‘Sot’ (‘Heute’) von der Rockgruppe Lynx. Jawohl, richtig gelesen, eine Rockband! Und zwar eine, die auch – im Gegensatz zu dem hüftsteifen Alte-Männer-Kram, der beim Song Contest sonst aus dieser Ecke der Welt und bei diesem Genre serviert wird – richtig rockte. Sowie über einen äußerst attraktiven Leadsänger verfügte, was möglicherweise, wenn ich ehrlich bin, mit ein Grund für meine Begeisterung sein könnte. Das Auge hört ja schließlich mit.
Der dürfte mich gerne lynxen!
Eine gesonderte Erwähnung verdient noch der Publikumszweite und insgesamt Drittplatzierte des 55. FiK, Dilan Reka, der mit ‘Mos harro’ (‘Vergiss nicht’) den einzigen Uptemposong des Finales darbot, und einen sensationell discoschlagerhaften noch dazu. Mit einem richtigen Refrain und einer sofort eingängigen Melodie! Sowie, man wagt es heutzutage kaum noch, laut auszusprechen: einer Rückung! Also gleich drei einstmals essenziellen, mittlerweile jedoch streng verpönten Liedzutaten. Ach, man möchte glatt sentimental werden! Leider vergeigte er seine Chancen durch die gegenüber dem Semi deutlich schwächere stimmliche Leistung und vor allem eine unmögliche, komplett entstellende Roger-Whittaker-Brille. Schauerhaft! Doch den eigentlichen Spaß bot an diesem Abend das nicht enden wollende Rahmenprogramm. So begann die Show mit einer halbstündiger Verspätung: mussten die Juror:innen erst noch die Bestechungsbündel zur Bank bringen? Und dann gleich mit einem zum Sendeabbruch führenden “Problème technique”, wie die frühere ESC-Vertreterin und Gastgeberin Ledina Celo, die ihren Komoderatoren, den in Köln lebenden Schauspieler und leckeren Rotschopf Kasem Hoxha, um zwei Köpfe überragte, es so schön polyglott formulierte.
Carry me in your Dreams, Dilan.
Geplant war nämlich ein Hologramm einer Bühnenperformance der 2014 verstorbenen Schlagerlegende und zehnfachen (!) FiK-Gewinnerin Vaçe Zela, die im Lande als Volksheldin verehrt wird. Wie denn auch die stehenden Ovationen belegten, nach dem es im zweiten Anlauf endlich klappte. Wie schon in den beiden Semis durften auch in der Schlussrunde ausgewählte Jurymitglieder als Intervalact auf die Bühne, so diesmal eine auch in Berlin beschäftigte Opernsängerin, die gleich zwei Arien zum Besten gab. Natürlich stellten die Moderatoren alle Jurykollegen ausführlich einzeln vor und plauderten mit ihnen stundenlang über dies und das. Und jenes. Und wie schon in den beiden Semis durfte auch diesmal ein Stand-up-Comedian von der Eloquenz und Witzigkeit eines Guido Canz ellenlange Vorträge über Songs von einst und heute halten. Schließlich versuchte sich Kasem noch – wenig überzeugend – als Gedichtrezitator, immer wieder unterbrochen von Ledina, die ein endloses Potpourri von albanischen Duetten sang, dankenswerterweise im Vollplaybackverfahren. Von den diversen überflüssigen Greenroomschalten und dem nervtötenden Ruckelstream erst gar nicht zu sprechen. Nein, wir Zuschauer:innen mussten uns den ersten Eurovisionsbeitrag der aktuellen Saison schon sehr hart verdienen.
Auferstanden aus Ruinen: die albanische Lenny Kuhr singt ein Ständchen aus dem Jenseits,
Aber es hat sich gelohnt! Oder spricht da das Stockholm-Syndrom aus mir? Ich weiß nur: nach diesem Abend wünschte sich mein bösartiges, schadenfreudiges Ich unbedingt, dass Albanien den ESC gewinnen möge und RTSH die nächste Show austragen darf. Denn bei dem dann unvermeidlichen organisatorischen Chaos dürften etliche, besonders hysterische Fans vor lauter Aufregung den aufregungsbedingten Herztod sterben! Begraben mussten wir Fans indes mal wieder all unsere albernen Hoffnungen, der bereits in der Originalfassung eurovisionskonform drei Minuten lange Siegersong könnte ausnahmsweise mal in der Landessprache bleiben: tatsächlich handelte es sich bei ‘Botë’ wohl um eine eigens für das FiK angefertigte Rückübertragung aus der bereits fertigen englischsprachigen Fassung ‘World’. Welcher dennoch sämtlicher Charme abging und die natürlich für ein erneutes Qualifikationsrundenaus der Skipetaren beim Hauptwettbewerb in Kiew sorgte. Wann wird man je verstehn?
Die Playlist mit den Beiträgen des 55. Festivali i Këngës.
Vorentscheid AL 2017
Festivali i Këngës 55. Freitag, 23. Dezember 2016, aus dem Kongresspalast in Tirana, Albanien. 14 Teilnehmer:innen. Moderation: Ledina Çelo, Kasem Hoxha.# | Interpreten | Songtitel | Jury | Televote | Platz |
---|---|---|---|---|---|
01 | Franc Koruni | Macka | 12 | 00 | 11 |
02 | Lorela | Me ty | 08 | 00 | 12 |
03 | Xhesika Polo | Eva jam unë | 05 | 00 | 14 |
04 | Xuxi | Metropol | 30 | 00 | 05 |
05 | Fabiola Agalliu + Agnesa Çavolli | Shkon e vjen | 07 | 00 | 13 |
06 | Dilan Reka | Mos harro | 43 | 07 | 03 |
07 | Lindita Halimi | Botë | 80 | 05 | 01 |
08 | Flaka Krelani | Osiris | 27 | 03 | 06 |
09 | Rezarta Smaja | Pse prite gjatë | 20 | 04 | 08 |
10 | Edea Demaliaj | Besoj në ëndrra | 23 | 00 | 09 |
11 | Yll Limani | Shiu | 40 | 10 | 04 |
12 | Lynx | Sot | 13 | 01 | 10 |
13 | Orges Toçe | Shi diamantësh | 24 | 00 | 07 |
14 | Genc Salihu | Këtu | 52 | 02 | 02 |
Letzte Aktualisierung: 10.09.2022
Das war ganz typisch fik. Schräge töne, schreiende frauen und eine mystetiöse punktevergabe. Inkl. gaaaaanz vielen albanischen verbraucherinfos. Zum song kann man erst nach dem revamp etwas sagen.So wie gestern abend ist das finale für albanien schwierig zu erreichen.
Gibts eigentlich was neues zum türkievision?
Still ruht das Schwarze Meer. Die Türkvizyon sei bis auf Weiteres verschoben, vermutlich März 2017, soll aber noch stattfinden. Heißt es.