Per­len der Vor­ent­schei­dun­gen: Tanz den Horn, Muttersöhnchen!

Welch ein ereig­nis­rei­ches Euro­vi­si­ons­wo­chen­en­de! Es begann mit einem lei­der sehr trau­ri­gen Ereig­nis: nach­dem in der Nacht von Frei­tag auf Sams­tag in der Nähe der ita­lie­ni­schen Stadt Vero­na ein Rei­se­bus mit unga­ri­schen Schüler/innen ver­un­glück­te, ver­häng­te die magya­ri­sche Regie­rung ange­sichts von 16 Todes­op­fern ver­ständ­li­cher­wei­se Staats­trau­er, wor­auf­hin die eigent­lich für Sams­tag­abend geplan­te zwei­te Vor­run­de der hei­mi­schen Euro­vi­si­ons­vor­ent­schei­dung A Dal bis auf Wei­te­res um eine Woche ver­scho­ben wur­de. Neben die­ser Tra­gö­die und den bereits ver­blogg­ten zwei natio­na­len End­aus­schei­dun­gen vom Sams­tag in Weiß­russ­land und Geor­gi­en blieb kaum noch Zeit für eine Sich­tung der bereits am Frei­tag­abend ver­öf­fent­lich­ten zwölf Songs des für den 11. März 2017 ter­mi­nier­ten islän­di­schen Söng­va­kepp­nin, die – wenn auch nur als Audio-Stu­dio­fas­sun­gen – jeweils in der lan­des­sprach­li­chen und eng­li­schen Ver­si­on vor­han­den sind und unter denen sich eini­ge viel­ver­spre­chen­de Titel befin­den, wie bei­spiels­wei­se das in bei­den Fas­sun­gen sehr ein­präg­sa­me ‘Bam­bar­ram’ von Hil­dur, das hyp­no­ti­sche ‘Hyp­no­ti­sed / Þú hefur dáleitt mig’ des Rick-Ast­ley-Dop­pel­gän­gers Aron Brink oder die hüb­sche Coun­try-Lie­bes­schnul­ze ‘You and I / Þú og ég’ von Páll Rósin­kranz und Kris­ti­na Bærend­sen (Play­list mit allen 24 Bei­trä­gen hier). Auch das mol­da­wi­sche Fern­se­hen TRM stell­te zeit­gleich die 14 Songs vor, die sie aus den ins­ge­samt 39 Ein­sen­dun­gen für O Melo­die Pen­tru Euro­pa am 24. und 25. Febru­ar 2017 aus­ge­siebt hat­ten. Wobei es der so uner­müd­li­che wie legen­dä­re Sascha Bogni­bov, Leser/innen die­ses Blogs noch von Meis­ter­wer­ken wie ‘The Girls of 13 Years old’ und unzäh­li­gen ande­ren bekannt, so erwart­bar wie skan­da­lö­ser­wei­se mal wie­der nicht in die Aus­wahl schaff­te, obschon er mit dem amt­lich bret­tern­den Metall-Stück ‘Stop the Liars’ über einen her­aus­ra­gen­den Bei­trag ver­füg­te. Und das mei­ne ich völ­lig uniro­nisch. Auch die Folk-Pop­per Che-MD und der put­zi­ge Pop-Rent­ner Tudor Bum­bac, bei­de in frü­he­ren Jahr­gän­gen schon mal am Start, konn­ten die Sen­der­ju­ry dies­mal nicht überzeugen.

Saschas Kom­men­tar zum gera­de ernann­ten US-ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­den­ten? Schan­de, Mol­da­wi­en, dass er nicht dabei ist! (MD)

Dafür ist das Sun­stro­ke Pro­ject (→ MD 2010) mal wie­der ver­tre­ten, das eines der ins­ge­samt vier ursprüng­lich ein­ge­reich­ten Mama-Lie­der zu Gehör bringt, von denen es drei tat­säch­lich in die End­aus­wahl schaff­ten – die Mol­dau­er schei­nen eine Nati­on von Mut­ter­söhn­chen zu sein! Ihr tanz­ba­res ‘Hey Mama’ erweist sich dabei erwart­bar noch als das fröh­lichs­te Ange­bot, litt bei der show­tech­nisch äußerst spär­lich möblier­ten Songvor­stel­lung aber erkenn­bar an der Abwe­sen­heit des für die visu­el­le Wie­der­erkenn­bar­keit unab­ding­ba­ren Epic Sax Guy. Aus­ge­spro­chen ernst mei­nen es hin­ge­gen der segel­oh­ri­ge Aurel Chir­toacă, eigent­lich ein Kerl im bes­ten Man­nes­al­ter, und der offen­bar dem hei­mi­schen Herd noch nicht ent­wach­se­ne Cobî­lean Con­stan­tin, des­sen zu glei­chen Tei­len inbrüns­tig wie fremd­schä­m­in­du­zie­rend vor­ge­brach­te Ode an die wich­tigs­te (und, wie ich ver­mu­te, ein­zi­ge) Frau in sei­nem Leben in sei­ner nai­ven Art und Wei­se etwas über­ra­schend Anrüh­ren­des hat. Zumal sei­ne Frau Mut­ter ihm offen­sicht­lich aus peku­niä­ren Grün­den auch nach wie vor nach bes­tem Bemü­hen die Haa­re schnei­det, ohne das hier­für erfor­der­li­che Hand­werk wirk­lich in allen Fines­sen zu beherr­schen. Lacht mich ruhig aus, aber ich muss zuge­ben: bei die­sem tra­gi­schen Auf­tritt schießt mir die Milch ein.

Awww… der klei­ne Cobî­lean möch­te am Bäl­le­bad abge­holt wer­den! (MD)

[Nach­trag 24.01.2017:] Wie Euro­fi­re berich­tet, wer­den wir im Fina­le jedoch nicht in den Genuss die­ses Spek­ta­kels kom­men: da der Kom­po­nist sei­nes Titels die­sen bereits vor dem 01.09.2016 bei X‑Factor Rus­sia zum Bes­ten gab, muss­te TRM den Bei­trag dis­qua­li­fi­zie­ren. Natür­lich geht es auch in Mol­da­wi­en nicht ohne die unver­meid­li­che tracht­tra­gen­de Frau­en­folk­kap­pel­le, hier reprä­sen­tiert von vier mit­tel­al­ten Kopf­tuch­trä­ge­rin­nen mit dem Namen Eth­no Repu­blic, die jedoch ihren euro­vi­sio­nä­ren Vor­bil­dern, den Bura­novs­ki­je Babush­ki (→ RU 2012), bei Wei­tem nicht das Was­ser rei­chen kön­nen. Zumal die fröh­li­chen Vier mit der ver­hin­der­ten Pope­ra-Trul­la Sur­ori­le Osoia­nu geschla­gen sind, die ihr fröh­li­ches Lied­lein für zwei dräu­end lang­sa­me Stro­phen unter­bricht – und die­se auch so jau­lend schief an die Wand singt, dass man davon schlim­me Kopf­schmer­zen bekommt.

Damit es nied­lich wirkt, feh­len den Damen noch jeweils locker 40 Jähr­chen und die ent­spre­chen­den Knit­ter­fal­ten (MD)

Ähn­lich übri­gens wie beim neu­es­ten Mach­werk unse­rer hei­mi­schen Kom­po­nis­ten­le­gen­de Ralph Sie­gel (herz­li­chen Dank an Leser Por­steinn, ich hät­te das über­se­hen!): ‘Join us in the Rain’ heißt der gefühlt fünf­tau­sends­te laue Auf­guss sei­ner ewig­glei­chen Melo­die­fol­gen, zuschan­de gesun­gen von einem gequält drein­bli­cken­den Pär­chen namens Marks & Ste­fa­net. Der Song­ti­tel soll ver­mut­lich eine sub­ti­le Anspie­lung auf den Punk­te­re­gen sein, den sich der deut­sche Alt­meis­ter ver­zwei­felt erhofft. Mein Gefühl sagt mir indes, dass er erneut eine kal­te Dusche zu befürch­ten hat. Zumal es sein offen­sicht­lich schlecht bezahl­tes San­ges­per­so­nal eben­falls kaum abwar­ten kann, bis der Scheiß end­lich vor­über ist und zwi­schen­drin vol­ler Unge­duld auf die Uhr schaut.

Eine Qual für alle Betei­lig­ten: Sie­gel ver­klappt mal wie­der Songgül­le im Aus­land (MD)

Aus all den fal­schen Grün­den amü­sant hin­ge­gen der Auf­tritt eines leder­be­jack­ten Knäb­lein im Alex-Spar­row-Modus (→ RU 2011) mit dem höchst beschei­de­nen (und natür­lich ganz Trump-like in Ver­sa­li­en geschrie­be­nen) Künst­ler­na­men The One, der sich dabei von einem voll­bär­ti­gen Woll­müt­zen­hips­ter an der E‑Gitarre und einem bril­le­tra­gen­den Vor­stadt­dad­dy am Syn­the­si­zer beglei­ten ließ. Dabei ver­fügt er mit ‘Dance’ tra­gi­scher­wei­se noch über den bes­ten der 14 mol­da­wi­schen Vor­ent­schei­dungs­bei­trä­ge, was aller­dings nicht im Sin­ne von “gut” zu ver­ste­hen ist, son­dern als “nicht ganz so uner­träg­lich schlecht wie alles ande­re”. Aber schon immer noch schlecht. Man wird den Ein­druck nicht los, dass The One kei­ne Freun­de hat, die ihm die­se Selbst­bla­ma­ge beherzt aus­zu­re­den vermochten.

Doch, Söhn­chen, Du tanzt super. Und nein, es ist nicht uncool, wenn der eige­ne Vater mit sei­nen Kum­pels mit auf der Büh­ne steht, glaub mir.” (MD)

Das bringt uns direkt nach Litau­en, wo am gest­ri­gen Sams­tag bereits die drit­te Vor­run­de der dor­ti­gen Natio­nal­iné Atran­ka über die Büh­ne ging. Denn auch hier bla­mier­te sich ein jun­ger Mann nach Lei­bes­kräf­ten: wet­ten, dass der offen­sicht­lich tra­gisch ver­an­lag­te Dovy­das Petroši­us zu Hau­se vor dem Spie­gel noch dach­te, sei­ne wind­müh­len­haf­ten Dance­mo­ves sei­en cool und er kön­ne tat­säch­lich sin­gen? Und es sei eine gute Idee, anstel­le pro­fes­sio­nel­ler Begleittän­ze­rin­nen sei­ne bei­den Tan­ten in bil­li­ge Sil­ber­fo­li­en­kleid­chen aus dem Faschings­be­darfs­fach­ge­schäft zu ste­cken und mit auf die Büh­ne zu brin­gen? Das Publi­kum und die LTR-Jury sahen das anders: mit kom­bi­nier­ten null Punk­ten lan­de­te er ganz hin­ten. Zu Recht.

Sei­ne Lie­be ist kos­ten­los. Kein Wun­der. (LT)

Ver­kehr­te Welt: Vili­ja Matačiū­nai­tė, die litaui­sche Euro­vi­si­ons­ver­tre­te­rin von 2014 (‘Atten­ti­on’) und Gewin­ne­rin des Bar­ba­ra-Dex-Awards (zu Unrecht, ihr dama­li­ges Out­fit war fa-bel-haft!), schied ges­tern aus, obschon ihr Bei­trag ‘I see the Lights’ zu den bes­se­ren des Abends gehör­te. Dafür wähl­ten die Litauer/innen zwei der gran­dio­ses­ten Trash-Epen wei­ter, wel­che die Euro­vi­si­ons­welt jemals sah. Wofür ich das Bal­ten­land natür­lich unglaub­lich lieb habe! Da ist als ers­tes die neue offi­zi­el­le Hym­ne der Gene­ra­ti­on Smart­phone zu nen­nen, das von dem Pär­chen Ieva Zasi­maus­kai­tė und Vidas Barei­kis vor einem lus­ti­gen Zei­chen­trick­hin­ter­grund qua­si jog­gend vor­ge­tra­ge­ne und vor gram­ma­ti­ka­li­schen Feh­lern nur so strot­zen­de ‘I love my Pho­ne’, ein recht ein­gän­gi­ges Elek­tro­stück über die unbe­streit­ba­ren Vor­zü­ge der für die heu­ti­gen Men­schen völ­lig unver­zicht­ba­ren Mobil­funk­ge­rä­te gegen­über einem Part­ner aus Fleisch und Blut: so kann man das Han­dy bei­spiels­wei­se ein­fach aus­schal­ten, wenn es nervt. Was aller­dings mei­nes Wis­sens so gut wie nie­mand wirk­lich jemals macht. Oder?

Sehr schön der Moment, als Vidas das Publi­kum zum Mit­ma­chen auf­for­dert und alle ihn igno­rie­ren (LT)

Die­se Come­dy-Ein­la­ge jedoch ver­blasst, wie sämt­li­che ande­ren der hier vor­ge­stell­ten Titel, voll­stän­dig gegen den wohl sen­sa­tio­nells­ten Bei­trag der bis­he­ri­gen Euro­vi­si­ons­sai­son, die fan­tas­tisch bil­li­ge und gram­ma­ti­ka­lisch eben­so frag­wür­di­ge, fast schon aggres­siv pum­pern­de Dis­co-Num­mer ‘Get frigh­ten’, enthu­si­as­tisch vor­ge­tra­gen und ‑getanzt von einer mit Fis­tel­stim­me into­nie­ren­den, flach­brüs­ti­gen Drag-Queen in einem nichts weni­ger als abso­lut fabel­haf­ten Out­fit, ver­mut­lich eigen­hän­dig zusam­men­ge­klöp­pelt aus einer schlich­ten, aber höchst effek­tiv ein­ge­setz­ten gold­far­be­nen Ret­tungs­fo­lie, einem pail­let­ten­be­setz­ten Bade­an­zug sowie mit pink­far­be­ner Spie­gel­fo­lie bekleb­ten, gigan­ti­schen Plas­tik-Hör­nern. Und zwar in Beglei­tung eines Rudels bar­brüs­ti­ger und ‑füßi­ger jun­ger Tän­zer, die abwech­selnd ihrer Her­rin Loli­ta Zero das Gewand rich­te­ten oder in Posen ver­fie­len, die an nichts weni­ger erin­ner­ten als an Madon­nas gran­dio­ses ‘Vogue’-Video. Die Num­mer, bei der Loli­ta am Ende noch drei Was­ser­me­lo­nen per Hand­kan­ten­schlag zer­teilt (fragt mich bit­te nicht, war­um!) stammt übri­gens eins zu eins aus einem der­zeit brand­ak­tu­ell in den litaui­schen Kinos lau­fen­den Action-Strei­fen namens Zero 3, in dem besag­te Drag-Queen (mit bür­ger­li­chem Namen Gytis Iva­n­aus­kas) in exakt dem­sel­ben Out­fit und mit exakt dem­sel­ben Song an einer fik­ti­ven TV-Vor­ent­schei­dung für einen fik­ti­ven Musik­wett­be­werb teil­nimmt und dabei in den Mit­tel­punkt aller­lei rasan­ter kri­mi­nel­ler und gewalt­tä­ti­ger Ver­stri­ckun­gen gerät. Kein Wun­der, dass sie die vol­len 12 Points in der Publi­kums­ab­stim­mung (und immer­hin noch 8 Zäh­ler von den Jurys) erhielt. Soll­ten wir, ich wage es kaum, mei­ner hei­ßen Hoff­nung Aus­druck zu ver­lei­hen, Loli­ta tat­säch­lich in Kiew wie­der­se­hen? Es wäre zu und zu schön!

Die Gehörn­te: Drag-Queen Loli­ta Zero aus Litau­en, dem geils­ten ESC-Land der Welt. Bit­te schickt das!

3 Comments

  • Die Eja­ku­la­ti­ons­fon­tä­nen von Loli­ta Zero wären schon noch eine Erwäh­nung wert gewe­sen! Eine stu­pen­de Dar­bie­tung, wahr­haf­tig! Nicht zu “über”-bieten.

  • Loli­ta Zero ist um-wer-fend! Bit­te, lie­be Litau­er, schenkt uns die­sen Bei­trag für Kiew! Dann dür­fen die rest­li­chen 41 Num­mern von mir aus wie­der pseu­do­am­bi­tio­nier­tes Mid­tem­po-Gesei­er sein

  • Get Frigh­ten” – that’ so gay, näm­lich im eigent­li­chen Sinn der Über­set­zung: sorg­los, hei­ter. Aber schwul ist es natür­lich auch. Herrlich!

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