Das diesjährige Gastgeberland Ukraine läuft wohl keine Gefahr, den Wettbewerb auch 2018 organisieren zu müssen (höre ich da ein erleichtertes Aufatmen in der internationalen Fangemeinde?), denn es entschied sich am heutigen Abend für zwar ausgesprochen professionell ins Bild gesetzten, musikalisch aber unerträglich langweiligen Seichtrock. O.Torvald (jawohl, ohne Leerzeichen, dafür war wohl kein Geld mehr da) nennt sich das optisch ganz ansprechende Softrockquintett, und es inszenierte sein lahmes Geplodder mit dem beim Song Contest bislang noch nie dagewesenen Titel ‘Time’ inhaltlich passend als düsteres Endzeit-Setting. Derangiert, mit aufgemalten Schrammen und aufgerissenen T‑Shirts stehen die Torwälder auf der Bühne, aus ihrer Brust ragen die Displays von Zeitzündern, welche die noch verbleibenden Minuten und Sekunden bis zum unvermeidlichen Untergang der Erde hinunterzählen. Beziehungsweise in ihrem Fall bis zum nicht schnell genug kommen könnenden Ende des Songs, und hierbei leisten die Digitalanzeiger tatsächlich wertvolle Hilfe, weiß der Zuschauer doch so sehr genau, ob er sich beim Gang auf die Toilette und / oder an den Kühlschrank bzw. das Schnapsschränkchen beeilen muss oder sich noch Zeit lassen kann. Wie aufmerksam! Wobei ich zugeben muss, dass mir die Inszenierung des Titels im Semifinale der ukrainischen Vorentscheidung deutlich besser gefiel: da wurde der Leadsänger von einem mutigen und geschmackssicheren Zuschauer aus dem Dunkel des Sendesaales angeschossen und blutete sein Hemd voll – wenn auch nur mit Ketchup. Und nein, natürlich will ich keinesfalls Gewalt verharmlosen oder rechtfertigen, aber dieser Song kann einen da schon bis an die persönliche Grenze führen…
Die Hälfte ist geschafft: nur noch eine Minute und 30 Sekunden Langeweile sind zu überstehen (UA)
Selbstverständlich – es ist ja schließlich die Ukraine – erfolgte auch die Wahl der Seichtrocker nicht ohne intensives Wertungsdrama. Wie schon im Vorjahr war sich die dreiköpfige Jury, die als Erstes abzustimmen hatte, untereinander mal wieder kein bisschen einig und debattierte (in Gegenwart der peinlich berührten Künstler/innen) auf das heftigste und ausführlichste miteinander. Der Streit entzündete sich insbesondere am Publikumsfavoriten Melovin, einem leicht dicklichen Bübchen mit verschiedenfarbigen Kontaktlinsen, der in fußnägelaufrollend schlechtem Englisch etwas von einem ‘Wonder’ daherjammerte. Dank vorhergehender X‑Factor-Teilnahme konnte sich der Marylin-Manson-Epigone jedoch des Televotingsieges sicher sein, und entsprechend strafvoteten ihn die Juroren vorsichtshalber herunter, die ihn als Repräsentanten um jeden Preis verhindern wollten. Was sie Gott sei Dank auch schafften. Gegen den erklärten Willen von Andrij Danylko (alias Verka Serdutschka [→ UA 2007]) übrigens, der die Vorliebe des Publikums für unerträgliches Emo-Gewimmer zu teilen schien und Menowin Melovin ebenfalls gerne von Kiew nach Kiew geschickt hätte, sich aber gegen die beiden Kollegen nicht durchsetzen konnte. Das Casting-Kind erhielt vom Manipulationsgremium daher lediglich zwei magere Pünktchen und schaffte es im Gesamtergebnis nur auf den zweiten Rang.
Natürlich stellte die fantastische Jamala neben ihrer Jurorentätigkeit im Rahmenprogramm des Vorentscheidungsfinales einen weiteren Titel vor, diesmal in einen bebommelten Gebetsteppich gewickelt. Können wir sie nicht einfach noch mal haben? (UA)
Im Gegenzug verhinderte das ukrainische Publikum den Gesamtsieg der Juryfavoritin Tayanna, einer in den höchsten Tönen schreienden Balladesse, und dafür kann ich ihnen nicht genug danken, denn auch wenn Tayannas ausgesprochen klassisch strukturiertes ‘I love you’ (mitsamt → Rückung und Trickkleid) zu den stärkeren Titeln des Abends gehörte: noch eine weitere Ballade, und ich hätte mir die Selbstmordattentats-Bombengürtel von O.Torvald höchstpersönlich umgeschnallt. Den unterhaltsamsten Moment des Abends lieferte jedoch der Auftritt des Musikkombinates Salto Nazad: eine schicke schwarze Frau mit schickem Afro im Hintergrundchor sowie ein glatzköpfiger, unterarmtätowierter, brustbehaarter, vollbärtiger Kerl von einem Mann, der – wie bereits im Semi – mit ziemlich abgefahrenen, dabei zufällig wirkenden Verrenkungen auf das Königlichste unterhielt. Und damit recht erfolgreich von dem ganz netten, durchaus anhörbaren, aber keinesfalls weltbewegenden Titel ‘O Mamo’ (immer wieder gerne genommen, vergleiche auch Moldawien) abzulenken vermochte.
Yummy yummy yummy, he puts Ants in my Tummy (UA)
Allerdings diesmal nur bis zur Songmitte, als ihm scheinbar plötzlich ein im Publikum sitzendes Mütterchen die Show stahl. Die wippte die ganze Zeit schon vergnügt mit, schien sich persönlich angesprochen zu fühlen – und wurde auch prompt von unserem kernigen Glatzenmann auf die Bühne gebeten. Wo sie dann, zur allgemeinen Überraschung und zur besonderen Belustigung von Jurorin Jamala (→ UA 2016) anfing, noch merkwürdigere und spektakulärere Moves hinzulegen, einschließlich eines tadellosen Kopfstandes! Ein bezaubernder Moment, auch wenn sich im Anschluss bei der Befragung durch den Moderator herausstellte, dass es sich bei der gelenkigen Alten nicht um die Mutter des Frontmannes Sascha handelte, sondern um eine mit dem Künstlerkollektiv Salto Nazad freundschaftlich verbundene Schwedin, die sich dann mit ihrem Nicht-Sohn noch ein amüsantes Tierstimmenimitationsduell lieferte. Hoch vergnüglich!
Gerade mal sechs Wettbewerbsbeiträge, endloses Jurygelaber, Werbepausen bis zum Abwinken – macht zweieinhalb Stunden Prime-Time-TV: das ukrainische Finale 2017 am Stück
Oh mann, oh mann, oh mann. Ich bin erst zur Bekanntgabe der Publikumsabstimmung dazugekommen und habe da Bestätigung dafür erhalten, dass ich mir das ukrainische Finale nicht gegeben habe. Die letzten Minuten der Sendung (und offensichtlich wohl auch die vier vorangegangenen Stunden) lassen sich in vier Worten gut beschreiben: Laber, laber, Omar Naber!
Da ging es ab wie bei der mündlichen Abiturprüfung. Die Juroren waren wohl dazu gezwungen, detailliert zu begründen, wie das Ergebnis zustandegekommen ist. Und für Tayanna war es offensichtlich eine Katastrophe, dass sie nicht gewonnen hat. Sie sah ziemlich niedergeschlagen aus.
Es war auch ziemlich bedenklich, wie die Jungs auf ihren Sieg reagiert haben. Als ob es eine Strafe wäre, zum ESC im eigenen Land zu fahren. Die Stimmung war wohl nicht so gut dort. Aber mir gefällt der Beitrag und ich finde es auch sehr nett, dass die Zuschauer darüber informiert werden, wie lange das Lied noch dauert. Diese Art von Musik wird eher rar bleiben, deswegen finde ich es gut, dass man hier mal was Anderes bekommt. Das Motto “Celebrate Diversity” nimmt ja sonst kaum jemand ernst.
Ich hätte gedacht, der Countdown bleibt bei 0:07 stehen und Roger Moore zieht den Zünder. Mutige Wahl und als Host vielleicht gar nicht so unbrauchbar. Es ist was anderes. Mal schauen.
@ Rainer
Wenn schon, dann Daniel Craig, man will ja auch die jüngeren Zielgruppen erreichen. 😉