Nachdem am gestrigen Supersamstag die letzten öffentlichen Vorentscheide der Eurovisionssaison 2017 über die Bühne gingen und wir noch immer auf die vier bzw. fünf letzten intern ausgewählten Beiträge für Kiew warten (als da wären: der für den heutigen Abend gegen 18 Uhr angekündigte, angeblich von einem international bekannten Duo interpretierte sanmarinesische Song; der für den morgigen Montag beworbene bulgarische Beitrag; das erst für den kommenden Samstag annoncierte, von Artsvik gesungene armenische Lied; die bereits angekündigte anglifizierte Fassung des albanischen Songs ‘Botë’ alias ‘World’ sowie der russische Beitrag – wobei es immer unwahrscheinlicher wird, dass das mit dem Gastgeberland Ukraine kriegerisch verfeindete Land überhaupt teilnimmt), haben neben Weißrussland nun noch weitere Teilnehmernationen aufgefrischte Fassungen ihrer Songs für Kiew vorgestellt. So zum Beispiel die Schweizer, die das hoffnungslos öde ‘Apollo’ von Timebelle musikalisch deutlich aufdramatisierten und auch die Stimme ihrer rumänischstämmigen Leadsängerin im Tonstudio mit dem Dampfstrahler behandelten. Hilft natürlich auch alles nichts mehr, aber den Versuch war’s wert.
Prominent verpackt: Zeus und Apollo, die eidgenössischen Wunderwaffen (CH)
Die Briten hingegen hielten sich bei der Aufarbeitung ihrer Ballade anfänglich deutlich zurück und beließen das von der stimmstarken Lucie Jones intonierte ‘Never give up on you’ über weite Teile in einer nahezu acappellesken, sparsamst instrumentierten Fassung. Erst gegen Ende, beim letzten Refrain, drehen sie im der unlängst eingereichten neueren Version die Lautstärkeregler richtig auf und sorgen so für ein bombastisches Songfinale, was der klassischen, sehr offensichtlich als Juryfutter konzipierten klassischen Grand-Prix-Ballade etwas zusätzlichen Glanz verleiht. Zudem verpassten sie der eher unzierlichen Sängerin im Videoclip überwiegend hochgeschlossene Kleider, was ihre Preisboxer-Figur ganz gut kaschiert.
Komm ihr nicht komisch: Lucie gibt die Verfolgung niemals auf (UK)
Die georgische Eurovisionsverantwortlichen entschieden unterdessen, dass ihre Vertreterin Tako Gachechiladze unter ihrem Geburtsnamen Tamara antreten muss, vermutlich, um ihr unschmeichelhafte Vergleiche mit der ramschigen deutschen Klamottenkette Takko oder dem mexikanischen Knuspergebäck zu ersparen. Die Powerballade ‘Keep the Faith’ sollte zwar eigentlich eine Überarbeitung erfahren, bis dato reichte der Sender jedoch nur den Vorentscheidungsauftritt bei der EBU ein, mitsamt dem strittigen “Russia invades Georgia”-Zeitungsausschnitt auf dem Backdrop. Die französische Delegation nahm hingegen eine Operation am offenen Herzen ihres eigentlich wunderschönen Beitrags ‘Requiem’ vor und tauschte im Refrain des Liedes gleich mehrere französischsprachige Zeilen gegen englische aus, die sich dort nun nach völlig anorganischen Fremdkörpern anhören. Man kann als Zuhörer die Nähte gewissermaßen noch ertasten und rechnet unwillkürlich damit, dass der Song den künstlichen Part in einer allergischen Reaktion abstößt. Die nachträglich eingefügten zusätzlichen Beats fügen sich hingegen harmonisch ein und verleihen der Nummer, deren größtes Problem aber nach wie vor die miserable stimmliche Live-Leistung Almas darstellt, zusätzlichen Drive.
Singt sich selbst ein Wiegenlied: Alma
Wie sich das angesprochene Problem in den Griff kriegen lässt, stellte die gallische Interpretin unlängst selbst unter Beweis, in dem sie eine akustische Fassung ihres Eurovisionsliedes einspielte, mit tatkräftiger Unterstützung ihres Grand-Prix-Kollegen Amir (→ FR 2016), der ihr nicht nur mit der Wanderklampfe unter die Arme griff, sondern auch gesanglich jene Teile des Refrains übernahm, bei denen die zauberhafte Alma ein wenig zu kämpfen hat. Als Duett klang das Ganze dann geradezu herausragend, und das trotz der sparsamen Instrumentierung. Möchte sich das Big-Four-Land eine weitere demütigende Platzierung im hinteren Tabellendrittel ersparen, wäre es wohl angezeigt, Amir mit nach Kiew zu nehmen. Die internationalen Fans hätten bestimmt nichts dagegen!
So, so schön! Und das Lied auch! (FR)
Die tschechische Delegation reichte am gestrigen Freitag endlich den Videoclip des bislang nur als unbebilderte Studioversion verfügbaren Beitrags ‘My Turn’ nach. Und auch, wenn es die mit leichtem Ziegentimbre intonierte, musikalisch ziemlich öde Ballade nicht besser macht, ist das Video doch einer Erwähnung wert. Nicht, weil es Menschen in Unterwäsche zeigt, sondern weil es genau das nicht, wie sonst üblich, aus voyeuristischen Gründen tut. Obwohl der gesamte Clip in gedämpften, entsättigten Farben daherkommt, präsentiert er eine bunte Versammlung: alte und junge Menschen, große und kleine, Männer und Frauen, Schwarze und Weiße, athletische und welche mit Normalfigur, traurige, wütende und fröhliche, gutaussehende und Durchschnittspersonen. Was das Video so besonders macht und wo es mich dann doch kriegt, sind die sparsam eingesetzten, nur kurz angedeuteten, deswegen aber umso mehr unter die Haut gehenden Gesten der Zuneigung und Zärtlichkeit, die verschiedene Protagonisten untereinander austauschen, während Martina Bárta, die als Einzige gelegentlich auch Oberbekleidung tragen darf, dazwischen steht und das Thema gegenseitige Fürsorge besingt. Ein wirklich stimmiges, die inhaltliche Botschaft beförderndes, stellenweise zu Tränen rührendes Video, das man in Kiew so nicht wird reproduzieren können.
Let me see you stripped (CZ)
Auch Claudia Faniello legte für ihren Torchsong ‘Breathlessly’ zwischenzeitlich einen professionellen, aufwändig gedrehten Videoclip nach, der allerdings dermaßen pompös und kitschig daherkommt, dass es einem die Schuhe auszieht. Bewundernswert allenfalls die Arbeit der Kostümverantwortlichen, denen es gelang, die üppig proportionierte Sängerin in eine Auswahl an wirklich atemberaubend eng anliegenden Abendkleidern hineinzunähen. Man könnte meinen, die Malteserin sei bei Mariah Carey in die Geschmacksschule gegangen. Musikalisch blieb jedoch alles beim Alten.
Jetzt bitte nicht einatmen! (MT)