Nur wenige Tage vor der Deadline für das Einreichen der Beiträge zum 62. Eurovision Song Contest bricht in Russland gerade eine Debatte über einen Boykott des europäischen Wettsingens vom Zaun, das im Mai 2017 in der Ukraine stattfindet, mit welcher sich Putins Zarenreich seit der Annexion der Krim im Jahre 2014 und der fortdauernden militärischen Unterstützung von prorussischen Separatisten im Donezbecken bekanntlich im Krieg befindet. Wie escKAZ berichtet, plant der russische Kanal 1 für kommenden Donnerstag die Ausstrahlung einer von Andrej Malakow, dem Moderator der beiden Semis von 2009 in Moskau, geleiteten Talkshow mit dem Thema “Soll Russland am Eurovision Song Contest teilnehmen?”, bei der unter anderem der Parlamentsabgeordnete Vitaly Milonov zu Wort kommen soll, der bereits 2014 im Hinblick auf die damalige Teilnahme von Conchita Wurst den Wettbewerb als “Sodomisten-Show” brandmarkte und der auch heuer wieder aktiv für einen Rückzug seines Landes vom Wettbewerb in Kiew wirbt, wo man seiner Meinung nach “nicht willkommen” sei. In einem Interview mit der BBC zu seiner Boykottforderung pullte der rechtsgerichtete Politiker und führende Kopf des antischwulen Gesetzgebung seines Landes flugs einen Godwin: so bezeichnete er die Ukrainer als “faschistische Banditen” und schlug vor, die Eurovision in “Reichs-Vision” umzubenennen. Eine Teilnahme seines Landes an der Show sei vergleichbar mit “der Unterstützung der faschistischen Olympischen Spiele von 1936 in Berlin”.
Mindestens genau so gefährlich für Europa wie dieser andere berüchtigte Österreicher: die Wurst
Auch Philipp Kirkorov (→ RU 1995) unterstützt Milonovs Forderung: der Ko-Autor des letztjährigen russischen Grand-Prix-Beitrags, der sich von den Jurys, die den Publikumsfavoriten massiv herunterwerteten, (nicht ganz zu Unrecht) um die Contest-Krone betrogen fühlt, wittert hinter der Sieg-Verhinderung von Sergey Lazarevs ‘You are the only One’ eine Verschwörung: “Ich würde niemanden dahinschicken,” sagte er vergangene Woche in einem TV-Interview. “Ich bin sehr enttäuscht darüber, wie stark der Contest politisiert wurde”. Die Russen scheinen das ähnlich zu sehen: einer nicht repräsentativen Online-Umfrage auf der Seite der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Nowosti zufolge favorisierten 61% der Abstimmenden einen Eurovisionsboykott. Anders sieht es hingegen bei den Grand-Prix-Fans aus: bei einer Abstimmung auf escKAZ befürworteten 87% der russischen und 60% der ukrainischen Fans eine Teilnahme Russlands an den Festspielen in Kiew. Der Kreml scheint sich in der Frage noch nicht positioniert zu haben. Putins Pressesprecher Dmitry Peskov bezeichnete gegenüber der BBC die vorgebrachten Bedenken Milonovs im Hinblick auf “mögliche Probleme mit der Sicherheit und der unfreundlichen Attitüde” der Ukrainer gegenüber seinem Land als “offensichtlich begründet”, sagte aber auch, es sei noch keine Entscheidung gefallen. In Kiew ist man unterdessen über die Anwürfe nicht amüsiert. Olga Scherakowa, die Vorsitzende des ukrainischen Parlamentskomitees für die Pressefreiheit, bezeichnete die “aggressive Rhetorik” Milonovs gegenüber der BBC als “bedenklich”. Allerdings sei die Idee eines russischen Boykottes auch nur “logisch”, so Scherakowa: “Die russischen Offiziellen boykottieren seit längerer Zeit alles Mögliche: im UN-Sicherheitsrat boykottiert Russland den gesunden Menschenverstand, auf der Krim und im Donezbecken boykottiert Russland internationale Vereinbarungen, und zu Hause boykottiert es Schweizer Käse”. Holt schon mal das Popcorn, das könnte noch lustig werden!
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Postwendend bestritt die Abgeordnete jedwede mögliche Gefahr für Russen, die zur Eurovision nach Kiew anreisten: “Wenn jemand Angst haben sollte, sind es die Ukrainer,” sagte sie gegenüber der BBC. Auch wenn man sich mit dem Reich Putins in einem Konflikt befinde und die andere Seite als Aggressoren betrachte, könne man “normale russische Bürger von ihrer Regierung unterscheiden”. Die Besucher/innen hätten daher “nichts zu befürchten,” so Scherakowa. Die EBU weiß wie immer von nichts: in einer Stellungnahme aus Genf hieß es, man habe “keinen Grund anzunehmen, dass die russische Delegation nicht mehr Eurovision Song Contest 2017 teilnimmt” und freue sich darauf, zu hören, was der verantwortliche Kanal 1 Schönes für Kiew ausgewählt habe. Selbiger Sender soll nach aktuellen Informationen von escKAZ allerdings angeblich bereits vergangene Woche interne Grand-Prix-Bewerber hinsichtlich eines möglichen Rückzugs Russlands vom Eurovision Song Contest vorgewarnt haben. Viel Zeit bleibt nicht mehr: bis zum 13. März 2017 müssen die teilnehmenden TV-Stationen ihren Beitrag bei der EBU eingereicht haben. Wobei man davon ausgehen kann, dass die EBU im Falle weiteren Diskussionsbedarfes dem flächenmäßig größten Teilnehmerland der Eurovision sicherlich noch eine kleine Karenzzeit einräumt. Ich würde einen Rückzug Russlands, das bislang stets eine Bereicherung des europäischen Wettsingens darstellte, jedenfalls bedauern.
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Ich würde es aus musikalischer Sicht auch bedauern. Nach der Türkei jetzt auch noch Russland weg? Und auch aus politischer Sicht wäre mir nicht wohl dabei, wenn sich Russland und Türkei immer weiter von Europa abwenden. Eine einmalige Nichtteilnahme würde ich hingegen wegen des Konflikts verstehen. War mit Armenien in Aserbaidschan auch nicht anders.