Im Kreml dürften heute die Krimsekt-Korken geknallt haben: die Ukraine tappte als Gastgeberin des 62. Eurovision Song Contests tatsächlich blindlings in die vom russischen Staatsfernsehen Perwy Kanal (lustiger Name!) geschickt aufgestellte moralische Falle und verhängte verschiedenen Medienberichten zufolge das bereits angedrohte Einreiseverbot für die 28jährige Sängerin Julia Samoylova, womit die wegen fortschreitender Muskelschwäche im Rollstuhl sitzende russische Repräsentantin beim europäischen Wettsingen in Kiew nicht antreten kann. Julia hatte im Juni 2015 an einem Festival auf der annektierten Krim teilgenommen, wie der Staatsschutz ermittelte: nach geltendem ukrainischen Recht ein Vergehen, das mit einem dreijährigen Einreiseverbot in das Land der Orangenen Revolution zu ahnden ist. 140 Künstler/innen stehen schon auf der entsprechenden schwarzen Liste, die Ukraine hatte bereits im Vorfeld verkündet, für den Eurovision Song Contest keine Ausnahme machen zu wollen. Es steht wohl kaum anzunehmen, dass der für die erst in letzter Sekunde erfolgte interne Nominierung Samoylovas verantwortliche Perwy Kanal (immer noch lustig) nichts von dem Krim-Gig seiner Interpretin wusste. Sondern vielmehr, dass er diese mit voller Absicht in die Schlacht schickte, um jetzt öffentlich klagen zu können, es handele sich bei der Sperre um einen “weiteren ungeheuerlichen, zynischen und unmenschlichen Akt”, wie der stellvertretende Außenminister Grigori Karasin nach einem AFP-Bericht der staatlichen Nachrichtenagentur Interfax sagte. Für die wie immer im höchsten Maße unpolitische EBU schob Jan Ola Sand in einer Stellungnahme der Ukraine den schwarzen Peter zu: “Wir haben natürlich die Gesetze des gastgebenden Landes zu respektieren. Dennoch sind wir von der Entscheidung tief enttäuscht, die nach unserem Empfinden sowohl gegen den Geist des Wettbewerbs verstößt als auch die zu seinen innersten Werten zählende Inklusion missachtet.” Man wolle sich im Dialog mit der Ukraine dafür einsetzen, dass alle Künstler/innen im Mai 2017 in Kiew auftreten dürfen.
Ihn macht es immer ganz traurig, wenn seine Kinder sich wieder streiten: EBU-Daddy Jan Ola Sand
Nun ist das kompromisslose (und völlig legale) Festhalten des Gastgeberlandes am Einreiseverbot für die Krim-Missetäterin aus dessen Sicht natürlich nachvollziehbar, dennoch begibt es sich damit – wie vermutlich von Russland beabsichtigt – in die Entrüstungsfalle. Denn selbstredend steht der in der Frage der Hinwendung in Richtung Europa versus dem von einem nicht unerheblichen Anteil der Bevölkerung gewünschten Rückanschluss an Mütterchen Russland innerlich tief zerrissene Staat mit dieser kleinlichen Reaktion dennoch als herzlose Kriegspartei da, die einer bedauernswerten, vom Schicksal gebeutelten jungen Frau ihren “Lebenstraum” verweigert und nach dem vorangegangenen organisatorischen Chaos bei der Vorbereitung der Show nun für weiteres, politisch motiviertes Durcheinander sorgt. Es hätte der Ukraine menschlich gut zu Gesicht gestanden, hier Größe zu zeigen und Samoylova die Einreise im Wege des Gnadenaktes zu gewähren. Dass man auf die mutmaßlich bewusste Provokation nun anspringt wie der Pawlowsche Hund, ist tatsächlich schade. Und dumm. Die Russen nutzten die Vorlage umgehend und gaben laut Eurovoix bekannt, Julia zur Not nächstes Jahr als Vertreterin schicken zu wollen, falls es tatsächlich beim Bann für Kiew bleibe. Damit immunisieren sie sich sehr geschickt gegen den im Raum stehenden Verdacht, die gehandicapte Künstlerin lediglich als Spielball für ihre Ränkespiele zu missbrauchen – und negieren nebenbei die von einigen eigenen rechten Politikern bereits erhobenen Forderungen, dem europäischen Gesangswettbewerb künftig gänzlich fernzubleiben. Die Kiewer Festspiele werde man im Zarenreich allerdings nicht ausstrahlen, wenn Julia nicht singen darf, hieß es zwischenzeitlich.
Ihre Flamme brennt für den Song Contest: Julia (RU)
Uns bleibt wohl nur, die Popcornvorräte aufzustocken und uns auf ein paar weitere Runden des öffentlichen Schlagabtauschs im Zeichen der musikalischen Völkerverständigung einzustellen, denn dass mit der heutigen Verkündung bereits das letzte Wort gesprochen ist, glaubt wohl ernsthaft niemand. Andererseits stand es auch kaum zu erwarten, dass die beiden sich im Krieg befindlichen Nationen diese international beachtete Veranstaltung nicht für ihre Propagandazwecke nutzen würden. Man erinnere sich nur an den Contest von 2012 aus Baku, wo es im Vorfeld zu Hakeleien unter anderem um notwendige Sicherheitsgarantien von Seiten des Gastgebers Aserbaidschan gegenüber seinem Nachbarn und Konfliktgegner Armenien kam, das am Ende dennoch seine Teilnahme absagte. Der Grand Prix ist selbstverständlich hochpolitisch, das ist ihm bereits in die Wiege gelegt und das wird sich – allen (notwendigen) Leugnungsversuchen der EBU zum Trotz – auch niemals ändern. Das erste Ziel, die Ukraine als unwürdigen Gastgeber der europäischen Festspiele zu diskreditieren, haben die an einer Destabilisierung des Landes natürlich stark interessierten Russen, denen man zu ihren bisherigen geschickten Schachzügen nur gratulieren kann, jedenfalls schon mal erreicht. Mal schauen, welche Finten und Kniffe man noch auf Lager hat.
https://youtu.be/-ixcomIMvCg
Gegründet als kulturelle Speerspitze im Kalten Krieg: der ESC
Das eigentliche Geschehen lasse ich mal kommentarlos und weiter beobachtend im Raum stehen. Aber eine Anmerkung zum, wie im Artikel erwähnt, lustigen Namen des russischen Fernsehsenders sei gestattet: Dieser bedeutet: Erster Kanal – das Wort Perwy ist abgeleitet vom russischen Wort für: Der (die, das) Erste. Aber es stimmt: In der Eindeutschung klingt es kurios.
Schön, dass du diesen Hinweis auf den Dokumentarfilm (einen meiner Lieblingsfilme) beigefügt hast. Natürlich ist der ESC immer schon politisch gewesen, und ich begrüße das sogar. Man sollte es nur endlich zugeben, statt sich hinter albernem Scjheinreglement zu verstecken.
Ich kann da keine moralische Falle sehen und auch nicht, dass da jemand hineintappt. Russland hatte scheinbar keine Lust auf Kiew und eben einen Weg gesucht, da ohne Verlust rauszukommen, Wer die Künstlerin ist, ist da letztlich egal, und ob diese eine Krankheit hat auch, Wenn man das wirklich berücksichtigen würde, dann wäre das moralisch für den russischen Sender noch übler, weil er eine kranke Frau instrumentalisiert,
Egal, wem man letztlich *die* Schuld zuweisen möchte: Mit ihren Aktionen tragen beide Seiten dazu bei, dass der naïve Friedensgedanke untergraben wird. Man kann der EBU für das groteske Festhalten an Werten, die Worthülsen gleichen, Spott entgegnen. Ich halte es für richtig. Ich lasse mich auf keine Seite ein, lasse mich nicht in irgendwelche Ecken scheuchen. Ich will Tunten, Pomp und verdammt gute Songs wie “City Lights”. Ich will schrottige Schalten mit Eifelturm im Hintergrund. Ist das zu eskapistisch gedacht oder hat das den ESC nicht gerade groß gemacht?
Unter dem Gesichtspunkt sollten Russland und Ukraine eigentlich disqualifiziert werden. Würde man meinen. Falsch: Hinsetzen, Klappe halten und vor der Windmaschine performen – auch da gehe ich mit dem Wunsch der EBU d’accord. Dass ich mal mit Jon Ola Sand einverstanden wäre, hätte ich auch nie gedacht…
@Cal Der Jan Ola macht das in diesem Fall genau richtig, finde ich. Zum einen nimmt er die EBU aus der Schusslinie – zu Recht, das ist Sache der Ukraine. Zum anderen baut er der Ukraine mit seiner recht unmissverständlichen Ansage eine Brücke, die jetzige Entscheidung ohne Gesichtsverlust nochmal zu überdenken. Die ukrainischen Politiker stehen ja auch unter innenpolitischem Druck, es wird sicher Leute geben, die ein Nachgeben als Verrat an der Krim geißeln. Hier könnten sie aber auf die EBU verweisen und den internationalen Imageschaden und damit eine einmalige Ausnahme aus humanitären Gründen rechtfertigen. Damit würden sie – auch jetzt noch – Größe zeigen und könnten sich des internationalen Applauses sicher sein.
Es wäre aber auch akzeptabel, wenn es bei der jetzigen Entscheidung bleibt. Und da hat Jan Ola mit seinem Verweis auf die zu respektierende Gesetzeslage gleich allen Fan-Forderungen vorgebaut, der Ukraine die Show noch auf den letzten Metern wegzunehmen (was ohnehin schon logistisch gar nicht mehr geht) oder sie und / oder Russland künftig auszuschließen. Also, alles richtig gemacht.
Schuldzuweisungen sind ohnehin der falsche Weg. Man kann die Strategie der Russen als verwerflich ansehen und die Entscheidung der Ukraine als kontraproduktiv, aber verständlich sind die Handlungen aller Beteiligten in der ein oder anderen Form. Ich hoffe immer noch inständig, dass sie doch noch einen Weg finden, wie Russland teilnehmen kann (oder von mir aus auch aussetzt und Julia nächstes Jahr schickt). Bis dahin betrachte ich das Ganze erst mal als hoch unterhaltsames Zusatzspektakel. 🙂