Wie Dr. Eurovision, Irving Wolther, heute auf eurovision.de meldet, hat die European Broadcasting Union (EBU) in Reaktion auf Juliagate Anpassungen in den offiziellen Regeln für die Ausrichtung des und die Teilnahme am Eurovision Song Contest (ESC) vorgenommen. So müssen die einzelnen nationalen Sendeanstalten künftig eigenverantwortlich sicherstellen, dass die von ihnen ausgewählten Repräsentant/innen und Delegationsmitglieder “den Behörden des Gastgeberlandes” keinen “Anlass dafür geben, aufgrund nationaler Gesetze ein Einreiseverbot gegen diese zu verhängen.” Genau dieses war beim ESC 2017 in Kiew geschehen: der ukrainische Geheimdienst belegte die von Russland nominierte 28jährige Sängerin Julia Samoylova mit einer Einreisesperre, weil diese zuvor auf der annektierten Krim aufgetreten war. Was zu einem unschönen (von Moskau vermutlich gezielt herbeigeführten) Propagandakrieg und für die EBU zu unangenehmen Schlagzeilen führte. Nochmal will man sich in Genf verständlicherweise nicht vor den Karren spannen lassen und schiebt dieser Form der Kriegsführung damit einen Riegel vor.
Die Posterfrau der Krim-Krise: die EBU bestätigt mit ihrer neuesten Regeländerung im Nachhinein den Ausschluss von Julia Samoylova vom ESC 2017.
Allerdings öffnet die EBU mit der Verlagerung der Verantwortlichkeit zu den einzelnen Teilnehmerländern auch ein Stück weit die Büchse der Pandora, denn zu den potentiellen Ausrichterstaaten des ESC gehört mit Russland beispielsweise auch eines mit einem bestehenden gesetzlichen Einreiseverbot für HIV-Positive. Sollte die Föderation also den Wettbewerb mal wieder ausrichten (was die Jurys, wie schon 2016, vermutlich auch in den nächsten Jahren gezielt verhindern dürften), müssten die europäischen TV-Anstalten ihre Vertreter/innen strenggenommen nach ihrem Status fragen: eine ziemlich unerträgliche Vorstellung. Derzeit noch nicht existent, aber im Zusammenhang mit den in einigen osteuropäischen Ländern bestehenden Erlassen gegen “homosexuelle Propaganda” durchaus vorstellbar wären auch mögliche Einreiseverbote für Bewegungsschwestern oder Gender-Artists wie Conchita Wurst (→ AT 2014), die dann ebenfalls schon im Vorfeld von den Landessendern beachtet werden müssten, auch gegen deren eigene Überzeugung oder Agenda.
Dürfte sie auch dann mitmachen, wenn Moldawien den Wettbewerb ausrichtete?
Desweiteren schrieb die EBU nach den Erfahrungen mit dem organisatorischen Chaos und den monatelangen Verzögerungen bei der Vorbereitung des Contests in Kiew eine explizite Klarstellung in das erweiterte Regelwerk, nach welcher die Genfer dem ausrichtenden Sender die Show auch wieder wegnehmen können, falls dieser die gesetzten Deadlines nicht einhält oder den “Anweisungen der EBU” keine “Folge leistet”. Weitere Neuregelungen beschwören rein Fiktives, nämlich die Neutralität der Juroren und, mal wieder, den erwünschten “unpolitischen” Charakter der Veranstaltung, haben allerdings kaum mehr als eine appellative Funktion. Besonders unausgegoren und kritikwürdig erscheint dabei die Regel, dass “Organisationen, Institutionen, politische oder sonstige Anliegen, Unternehmen, Marken, Produkte oder Dienstleistungen während der Veranstaltung weder direkt noch indirekt beworben, herausgestellt oder erwähnt werden” dürfen, was sich nicht nur auf die TV-Show bezieht, sondern auch auf die Halle, das Pressezentrum, das Eurovillage und den Euroclub.
https://youtu.be/lgKaM2GGEx4
Muss den Pulli künftig auslassen: Salvador Sobral in Kiew.
Damit sollen wohl vor allem weitere Sticheleien und Provokationen rund um dem armenisch-aserbaidschanischen Karabach-Konflikt unterbunden werden, die in der Vergangenheit immer mal wieder für unterhaltsam-ärgerliche Aktionen oder Statements der beiden jeweiligen Delegationen sorgten. Allerdings wäre bei buchstabengetreuer Auslegung dieser Vorschrift künftig auch das Tragen von Regenbogen-Ansteckern oder “Refugees welcome”-Pullis (wie durch den portugiesischen Teilnehmer von 2017, Salvador Sobral) durch die Künstler/innen nicht mehr statthaft. Ob die EBU es allerdings ernst meint, darf bezweifelt werden: strenggenommen untersagt diese Regelung nämlich auch jedwede Form von werbewirksamem Sponsoring, das sich jedoch für die Genfer und die ausrichtenden Sender in den letzten Jahren zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Finanzierung der Show entwickelt hat. So gänzlich durchdacht scheinen die heute vorgestellten Änderungen also nicht zu sein – aber die EBU zeigte sich ja auch schon in der Vergangenheit sehr flexibel in der Handhabung ihrer eigenen Vorschriften.
Ein beim ESC 2017 beworbenes Produkt: schlechter Kaffee. Bleibt uns das künftig erspart?