Womit wäre die eurovisionäre Sommerpause besser zu überbrücken als mit Meldungen aus der reichhaltigen Geschichte des Wettbewerbs? So ist es dem schottischen Eurovisionsfan David A. Allen nach hartnäckigem Drängen gelungen, lange Zeit verschollene Dokumente aus dem Stadtarchiv von Lugano auszugraben, wo 1956 die Première des europäischen Gesangswettbewerbs über die Bühne ging. Und zwar deswegen, weil die Schweiz als neutrales Land im Zweiten Weltkrieg weitestgehend verschont blieb und seinerzeit über die intakteste und fortschrittlichste TV-Infrastruktur verfügte. Da der Song Contest auch eine Leistungsschau des Fernsehens sein sollte, fiel die Wahl beim konstituierende EBU-Eurovisions-Treffen in Rom im Oktober 1955 dementsprechend auf die Eidgenossen. Die gaben die Stafette an den Sender ihres italienischsprachigen Landesteils, Radio Svizzera Italiana (RSI) weiter, der den Unterlagen zufolge nicht nur das Sendeformat und die Regeln des Premierenwettbewerbs völlig eigenständig und ohne Vorgaben aus Genf entwickeln, sondern auch eine geeignete Location finden musste. Die größte Stadt des malerischen Tessin, eines der beiden italophilen Landesteile der Schweiz, griff dem Sender dabei großzügig unter die Arme: nicht nur stellte sie das Theatro Kursaal mit dem angeschlossenen Kasino für die Show und die After-Show-Party kostenlos zur Verfügung und organisierte verbilligte Hotelzimmer für die anreisenden Delegationen, sie steuerte auch 7.000 Schweizer Franken – und damit rund ein Siebtel der avisierten Kosten – zum Budget bei, seinerzeit eine Menge Geld (den Löwenanteil von 30.000 Franken teilten sich RSI und das Schweizer Fernsehen). Im Gegenzug versprach RSI der 60.000-Einwohner-Gemeinde eine Steigerung der touristischen Bekanntheit des grenznahen Seeanrainerstädtchens: “Der Name Lugano wird nicht nur in den nationalen Vorentscheidung Erwähnung finden – das TV-Finale wird die Aufmerksamkeit von Millionen Menschen auf Lugano lenken,” so stehe es in den Unterlagen.
Das ausgewählte Kursaal-Theater empfahl sich auch durch einen dort wöchentlich donnerstags durchgeführten, regelmäßig im Radio übertragenen musikalischen Abend als Austragungsstätte. Für die TV-Show bestückte man die Bühne mit reichhaltigen Blumenarrangements und einem variablen Bühnenhintergrund, auf dem handbemalte Tafeln mit klischeehaften Landesmotiven für ein individuelles Entrée der sieben antretenden Nationen sorgten. Ursprünglich sollen, so indizieren es handschriftliche Vermerke, zehn Nationen ihr Interesse bekundet haben. Drei davon scheiterten jedoch an einer von der EBU aufgestellten Hürde: jedes Land sollte, so sei es den Unterlagen zu entnehmen, eine im eigenen Programm ausgestrahlte Vorentscheidung durchführen. Österreich und Dänemark zogen sich daraufhin wieder zurück, die BBC leistete der Aufforderung zwar Folge, gestaltete ihren Landeswettbewerb aber so aufwändig und terminierte ihn so spät, das der britische Beitrag erst im Oktober 1956 feststand – einige Monate zu spät für den Premieren-Grand-Prix. Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande und die gastgebende Schweiz schafften es hingegen offenbar rechtzeitig, auch wenn die Details der meisten dieser Veranstaltungen heute dem Nebel des Vergessens anheim gefallen sind. RTL habe den Dokumenten zufolge zwar ursprünglich Interesse bekundet, dann aber die offizielle Anmeldung vergessen und überraschte die Tessiner, die das Land daraufhin nicht mehr mit eingeplant hatten, relativ kurz vor der Show mit der Mitteilung, das man nun zwei Beiträge ausgewählt habe. Es steht zu vermuten, dass Luxemburg auch aufgrund dieses Last-Minute-Chaos ohne eigene Jury anreiste.
Diese und erst vor wenigen Wochen entdeckte weitere Details vom Premieren-Grand-Prix bilden im Übrigen einen schönen Auftakt für ein neues aufrechtgehn.de-Projekt zur Bekämpfung der Post Eurovision Depression, nämlich die Beschäftigung mit den nationalen Vorentscheidungen. Und zwar systematisch und in historischer Reihenfolge mit allen seit 1956, von denen irgendwelche Informationen verfügbar sind. Den Anfang dabei macht selbstredend das italienische San-Remo-Festival, die Mutter des Eurovision Song Contest und die Blaupause für den europäischen Gesangswettbewerb sowie für die meisten nationalen Vorauswahlen der damaligen Zeit. Weitere Jahrgänge und Vorentscheidungen sollen in loser Folge hinzukommen, soweit Zeit und Lust es zulassen. Ich hoffe dabei auf eine reiche Ausbeute an (jedenfalls für mich persönlich) bislang ungehobenen Grand-Prix-Schätzen – dementsprechende Hinweise werden immer gerne entgegen genommen. Viel Spaß beim Stöbern und Mit-Entdecken!
Danke für die spannenden Einblicke. Kleine Korrektur: Die Hauptstadt des Kantons Tessin ist nicht Lugano, sondern Bellinzona.
Wo hast Du die Fotos aufgetrieben? Gibt es mehr davon? Damit die Urmutter unserer aller Obsession ein bisschen sinnlicher wird (ǜbrigens ist das Foto mit dem Gänsepeter zum “Ne crois pas” allerschrillst„,)
Vielen Dank für den Hinweis! Ist korrigiert.
Die Fotos hab ich von David Allen bekommen, der hat sie, wenn ich das richtig verstanden habe, zusammen mit den Dokumenten aus dem Stadtarchiv von Lugano losgeeist.
Oh wie schön! Endlich mal neue Fakten und Bilder für die ESC-Geschichtsbücher.
Mir bislang unbekannt: Die Vorgabe eine Vorentscheidung verpflichtend abzuhalten. Wie gut, dass Deutschland vermutlich niemals eine veranstaltete. Ob wir es je erfahren werden?
Interessant auch, wie übersichtlich die Anzahl der Orchestermitglieder war, da kann man ja fast schon von einer Tanzkapelle sprechen, die dort auf der Schulaula platz fand.
Ich freue mich sehr auf dein neues Vorentscheidungsprojekt 🙂