Recht früh in der Nacht zum Heiligen Abend fiel in Albanien die Entscheidung, und sie fiel passend: wie als Nachwehe zum bis nur wenige Stunden zuvor noch europaweit vorherrschenden weihnachtlichen Geschenkebeschaffungsstress handelt der von einer Jury ausgewählte Siegersong des 56. Festivali i Këngës (FiK) von einer der typischen Einkaufsstätten für die Gaben an die Lieben, der ‘Mall’ nämlich. Ein drogendürres Männchen mit dunklen Knopfaugen und dem fantastischen Namen Eugent Bushpepa singt das schon spektakulär unspektakuläre Midtempo-Softrock-Stück, das in Wahrheit natürlich kein schnödes Shoppingcenter, sondern die ‘Sehnsucht’ thematisiert und welches auch bei den Zuschauer:innen im Kongresspalast zu Tirana den langanhaltendsten Saalapplaus ernten konnte. Nicht völlig unverdient, denn obschon keiner der nach den beiden vorangegangenen Semis verbliebenen 14 FiK-Titel tatsächlich in irgendeiner Form die Wurst von Teller zu ziehen vermochte, verfügt ‘Mall’ wenigstens über eine nachvollziehbare Songstruktur und einen homöopathischen Schub. Sowie, als sein wucherndstes Pfund, einen charismatischen Interpreten.
https://youtu.be/bvYJ6EwuwXg
Der Herr Buschpfeffer mit seinem Viereinhalb-Minuten-Song, den er auch in Lissabon auf Albanisch singen möchte. Mal sehen, was nach der Einkürzung und dem Remix davon übrig bleibt.
Fast schon erstaunlich, dass die während einer der zahllosen, stundenlangen Intermezzi ausführlichst interviewte und verbal popogepuderte Jury, deren Durchschnittsalter sich am ehesten mit “zweimal Johannes Heesters” quantifizieren ließ, den im Umfeld des diesjährigen FiK-Aufgebotes fast schon grünschnabeligen, unterarmtätowierten Jungspund bevorzugte und nicht einen der zahlreichen scheintoten Rockzombies bzw. der im Dutzend dissonant kreischenden Diven. Deren führende Vertreterin Inis Neziri, die in ihrer aparten Zerbrechlichkeit ein wenig an die Zypresse Lisa Andreas (2004) erinnerte und die ebenfalls im Applaus baden durfte, musste sich mit der Bronzemedaille zufriedengeben. Chancenlos blieb hingegen meine persönliche Favoritin, die platinblonde Manjola Nallbani, die mit ‘I njejti qiell’ auf den Spuren Malena Ernmanns (SE 2009) wandelte und einen trashigen Popera-Disco-Schlager ablieferte, der jedoch allenfalls in den Strophen überzeugte, spätestens im Refrain aber durch dröge Rauheit enttäuschte. Und die damit dennoch das erträglichste Stück des Abends beisteuerte. Bemerkenswert, dass sie überhaupt antrat, denn vor exakt zehn Jahren bezeichnete dieselbe Manjola nach einer für sie verheerenden Technik-Panne die FiK-Organisatoren als “Mafiosi” und schwor öffentlich, dort nie wieder mitmachen.
Knappe vier Stunde Zeit totzuschlagen? Hier ist das komplette 56. FiK-Finale.
Nach diversen Transparenz-Offensiven und sogar einem halbherzigen Versuch mit Televoting kehrte RTSH heuer wieder zur Geheimniskrämerei zurück und gab nur die ersten drei Plätze bekannt, aber keine Punkteverteilung. Keinen Stich landete der knuffige Wiederkehrer Luiz Ejlli, der sich gemeinsam mit der ebenfalls bei Weitem nicht zum ersten Mal beim FiK antretenden Rezarta Smaja an einer bombastischen Schmachtballade mit viel Pathos und “Dashuri” (Liebe) versuchte, dank einer bestenfalls mäßigen Chemie zwischen den Beiden jedoch so vage wie ungute Erinnerungen an den slowakischen Eurovisionsbeitrag von 2009, ‘Leť tmou’, heraufbeschwörte. Wenn schon nicht für die wirklich durchgängig grauenhafte Musik, dann aus anderen Gründen Erwähnung verdient zudem ein offenbar schlecht gelaunter Helge-Schneider-Doppelgänger in der Midlifecrisis namens Redon Makashi, der als erster Starter gleich mal einen Thomas Anders pullte und nach 30 Sekunden seine Darbietung abbrach, weil das Orchester angeblich falsch gespielt haben soll. Den exakt gleichen Stunt legte er übrigens bereits am Donnerstag im ersten Semifinale hin. Die in einigen Fan-Polls im Vorfeld führende Orgesa Zaimi brachte sich mit ihrer Nadine-Beiler-Perücke, der Lady-Gaga-Sonnenbrille und der Prince-Rüschenbluse vor allem optisch ins Gedächtnis.
Ein bisschen weniger Wetgel hätte es sein dürfen, Rezarta.
Im Gedächtnis blieb das FiK für den erneuten Beweis der übergroßen Liebe der Albaner:innen zum Adria-Gegenüber Italien, die uns zum Auftakt des ersten Semifinales des 56. Festivaljahrgangs eine einstündige (!) Aufführung eines schätzungsweise 120jährigen Singezwerges aus dem Land der Zitronen mit einer selbst durch den Bildschirm nach Mottenkugeln riechenden Perücke bescherte. Sowie im Finale eine Pauseneinlage in Form eines Musicals, in dem ständig “Be Italian!” gefordert wurde. Und die sich ebenso in endlosen Monologen und nicht enden wollenden Interval Acts niederschlug, ganz wie beim San-Remo-Festival. Ach, würde RTSH bloß auch in Sachen Organisation von der RAI lernen, zum Beispiel bei der flüssigen Präsentation der Wettbewerbsbeiträge! Hier folgte in Tirana nämlich auf das erschöpfende Deklamieren aller nur erdenklichen Details zum Lied (wie beispielsweise Komponist:in, Textdichter:in, Dirigent, Arrangeur:in, Interpret:in, Visagist:in, persönliche:r Assistent:in des zweiten Geigers etc.) und dem aufmerksamkeitsheischenden Abspielen einer nervigen Ankündigungsfanfare erst einmal… nichts.
Der kinnbärtige Kiffer Tiri schmiss sich fürs Finale schick in den Frack.
Während die durch die Anmoderation erzeugte Spannung, ebenso wie der wohlwollende Publikumsapplaus in einem fahlen Antiklimax ausbluteten, kletterten die angekündigten Künstler:innen nämlich jetzt erst die überaus steile Showtreppe herunter, was bei High-Heels-bewehrten Damen in engen Abendkleidern auch schon mal Minuten in Anspruch nahm bzw. das Eingreifen des Moderators notwendig machte. Auch das anschließende Schlendern zur Bühnenmitte und das geduldige, meist ebenfalls minutenlange Warten auf das Einsetzen des Orchesters, welches diesmal verschämt im niedrigen, dunklen Souterrain direkt unterhalb der FiK-Bühne Platz nehmen musste, notdürftig mit Sauerstoff versorgt durch einen engen Belüftungsschlitz, trugen nicht gerade zu einem flüssigen, runden Showablauf bei. Doch wenn man in Tirana über eines im Übermaß verfügt, dann ist es Zeit…
Ein Zeitkontinuums-Wunder, diese Orgesa: das Gesicht sagt Anfang Dreißig, der Kragen sagt Anfang der Dreißiger. Des siebzehnten Jahrhunderts.
Das bestätigte sich erneut bei einem weiteren Intermezzo, mit dem das albanische Fernsehen irgendeines in diesem Jahre verstorbenen heimischen Filmregisseurs gedachte und das im Saal dementsprechend für stehende Ovationen sorgte. Sehr zur Verwirrung der nicht-albanischen Zuschauer:innen übrigens, die zu diesem Zeitpunkt verdutzt rätselten, warum in aller Welt sie gerade eine gefühlte weitere Stunde lang einer Frau zusehen mussten, die im Abendkleid mit dem Fahrrad unsicher auf der Bühne umhergondelte, konterkariert von einem scheinbar sinnlos in der Gegend herumstehenden Ziehharmonikaspieler. Doch nicht nur für abstraktes Theater bewies der Sender RTSH ein Händchen, sondern auch für die Dekoration: frappierend der beißende Kontrast zwischen den modernen LED-Wänden im Bühnenhintergrund und den an den Song Contest von 1978 in Paris gemahnenden, halbkreisförmigen, talmigoldenen Troddelwällen im Bühnenvordergrund. Versteht man das in Albanien unter “Tradition trifft Moderne”?
2017 erwies sich als ein weiteres enttäuschendes Jahr für die albanische Ekonomi.
Wo wir schon beim Thema “Tradition” sind: natürlich durfte auch heuer der jährliche Skandal rund um das Festivali i Këngës nicht fehlen. Diesmal entspann sich eine Kontroverse rund um den unter dem bürgerlichen Namen Klevis Bega geborenen Singer-Songwriter Kastro Zizo. Der hatte einen Wettbewerbsbeitrag namens ‘I Huaj’ (‘Der Fremde’) eingereicht, in welchem er nach eigener Aussage die Geschichte eines “Künstlers oder einfachen Menschen erzählt, der dieses Land verlässt, weil er sich nicht wertgeschätzt und respektiert fühlt. Ein alltägliches Drama in der albanischen Realität in den letzten 27 Jahre, aber er kehrt nach 20 Jahren zurück”. Die Zurückweisung dieses Titels sowie eines weiteren, sich ebenfalls mit dem Thema Migration beschäftigenden Songs des Sängers und Oppositionspolitikers Klajdi Musabelliu durch die Festivalleitung rief den früheren albanischen Ministerpräsidenten Sali Berisha auf den Plan, der diesen Vorgang mit der politischen Zensur des Festivals durch den sozialistischen Diktator Enver Hoxha in den Siebzigern auf eine Stufe stellte. Der sich selbst als “Mensch mit linken Überzeugungen” einordnende Zizo distanzierte sich zwar von der Einmischung durch den konservativen Politiker, sprach aber auch von “nach Aas riechenden, verschlossenen Umschlägen” in den Taschen der Entscheider.
Eher ein Hörspiel als ein wettbewerbsfähiger Titel: Zizos abgelehnter Song. Aber: “Ich interessiere mich nicht für dieses blöde Festival, das sie Eurovision nennen,” wie der Künstler selbst sagte.
Vorentscheid AL 2018 (Finale)
Festivali i Këngës 56. Samstag, 23. Dezember 2017, aus dem Kongresspalast in Tirana, Albanien. 14 Teilnehmer/innen. Moderation: Adi Krasta.# | Interpret | Titel | Platz |
---|---|---|---|
01 | Redon Makashi | Ekzistoj | 02 |
02 | NA + Festina Mezini | Tjetër jetë | – |
03 | Voltan Prodani | E pamundur | – |
04 | Denisa Gjezo | Zemër ku je | – |
05 | Tiri Gjoci | Orë e ndalur | – |
06 | Orgesa Zaimi | Ngrije zërin | – |
07 | Rezarta Smaja + Luiz Ejlli | Ra nje yll | – |
08 | Artemisa Mithi | E dua botën | – |
09 | Manjola Nallbani | I njejti qiell | – |
10 | Inis Neziri | Piedestal | 03 |
11 | Bojken Lako | Sytë e Shpirit | – |
12 | Mariza Ekonomi | Unë | – |
13 | Eugent Bushpepa | Mall | 01 |
14 | Elton Deda | Fjalët | – |

Letzte Aktualisierung: 11.09.2022
Boah, Respekt Oliver so einen Vorentscheid durchzustehen, das ist wahre Leidenschaft!
Für mich ziehen sich allein die 4 1/2 Minuten des monotonen Siegersongs gefühlt 4 1/2 Stunden hin!
Frohe Weihnachten!
Endlich “Mall” keine schwermütige Ballade aus Albanien. Also mir gefällt’s! – Hoffentlich bleibt er wie versprochen bei der Landessprache.
Das FiK wollte ich mir dieses Jahr nicht antun… so eine öde VE 😀
Bei allem Respekt, ich glaube viele die das Lied so toll finden stehen noch unterm Eindruck der schlechten Konkurrenz beim FiK. Beim ESC hat Mall in jetztiger Form keine Chance.
Ich verstehe überhaupt nicht, wie einige jetzt „masterpiece“ oder „Albania 2019“ rufen.
Beim ersten hören dachte ich noch *ups – wasn das ?* Aber schon beim zweiten gabs Gänsehaut und ich begann den song zu lieben. Jetzt bitte noch eine kluge 3‑Minuten-Version gezaubert und bittebitte kein englisch, dann wird das was werden. Ganz sicher 😉
Ein sehr erfreulicher Beginn der Lissabon-Saison. “Mall” war von Anfang an mein Favorit: Hymnisch-folkrockig angehauchtes Stück, vorgetragen und verfaßt von einem wirklichem Typen und Musiker. Er klingt auch angenehm in den hohen Tönen. Eugent hat bereits erwähnt, daß definitiv auf Albanisch gesungen wird, denn nur so ist es authentisch. Recht hat der Mann !
Auf der spanischen Version von Wikipedia wird tatsächlich der Songtitel mit “Einkaufszentrum” übersetzt, die Gesangssprache aber mit “Albanes” angegeben. DER Lacher schlechthin !!!!!
Ich bewerte Albanien mit 8 von 10 Punkten. Mal sehen, wie sich die ESC-Version anhören wird.…
@ Alex
Man weiß nie, was Erfolg haben wird und was nicht. Insofern eine sehr kühne Behauptung – bei Salvador hat es anfangs auch keiner geglaubt. Auf alle Fälle bringt der Song sehr viel ESC-Flair jenseits der üblichen Strickmuster rüber (Landessprache, angenehmer “Background” und authentischer Künstler und kein Popsternchen mit 08/15-Ware). Albanien mußte mal einen Kontrapunkt zu den überdramatischen Schreiorgien einiger Damen setzen und das ist schon mal gelungen.