Die Bild weiß es halt doch immer am besten: bereits am zweiten Weihnachtsfeiertag ließ das Boulevardblatt die Namen der vermutlichen sechs Finalist/innen von Unser Lied für Lissabon durchsickern. Der NDR dementierte umgehend: man warte noch auf die Rückmeldungen der von einer hundertköpfigen deutschen Fanjury und internationalen Eurovisions-Juror/innen Auserwählten, daher sei die Liste schlichtweg “falsch”. Heute bestätigte man in Hamburg offiziell den Teilnehmer/innenkreis des deutschen Eurovisionsvorentscheids. Und siehe da: bis auf die von Bild genannte vierköpfige Bonner Band Steal A Taxi, an deren Stelle nun der bayerische Singer-Songwriter Xavier Darcy antritt (wie mutig vom NDR, nach dem Naidoo-Gate erneut auf einen Xavier zu setzen!), stimmten die Angaben des Springerblattes eben doch. Darcy fügt sich dabei perfekt ein in das zu gleichen Teilen aus selbst komponierenden, ewigen Nachwuchshoffnungen sowie aktuellen und ehemaligen The-Voice-Castingsternchen bestehende Setup der finalen Super Sechs, von denen es nun eine/r in Lissabon für Deutschland richten soll.
Da krieg ich die Krise: Xavier lärmt im Hinterhof (Repertoirebeispiel).
Talentierte und künstlerisch eigenständige Kandidat/innen sind das fraglos allesamt, welche die beiden erwähnten Jurys aus den ursprünglich über 200 NDR-Vorschlägen und den daraus ausgesiebten 17 Workshop-Teilnehmer/innen auswählten, wobei sogar große Namen wie die geniale bayerische Neofolkkapelle LaBrassBanda (→ Vorentscheid 2013) oder der sehr ansprechend ganzkörpertätowierte, bekennende Polyamorist und The-Voice-Teilnehmer Boris Alexander Stein auf der Strecke blieben. Dennoch fällt es ziemlich schwer, den nun übriggebliebenen Sechs die im Vorfeld auf der NDR-Roadshow schon mantraartig beschworene “Kantigkeit” zu attestieren. Mit einer maßgeblichen Ausnahme: der Skihütten-Schlager-Boyband VoXXclub nämlich, dem einzigen (!) tatsächlich kontroversen Act im diesjährigen Line-up, der dementsprechend bereits seit seiner ersten Erwähnung die Nation in entschiedene Gegner/innen und feiernde Fans spaltet – ein bisschen so wie weiland beim Meister. Doch ob die fünf kernig-virilen Neuen Volksmusikanten (sogar mit einem bekennenden Homo im Aufgebot) tatsächlich so einen medialen Hype wie Guildo Horn erzeugen und die Fahrkarte nach Lissabon lösen können, erscheint fraglich. Und das nicht nur, weil sie bei ihren bisherigen TV-Auftritten zur schweißtreibenden, perfekt synchronen Schuhplattl-Choreografie stets im Vollplaybackverfahren “sangen”.
Vom Melken und von kleinen Schwänzen: VoXXclub, die Ballermann-Variante von LaBrassBanda (Repertoirebeispiel).
Die viel größere Gefahr: auch die aktuelle Siegerin der Castingshow The Voice, Natia Todua, befindet sich unter den Finalist/innen. Und alle Erfahrungen der letzten Jahre (nicht nur in Deutschland) zeigen, das frisch gekürte Casting-Show-König/innen praktisch automatisch jegliche nationale ESC-Vorentscheidung aus dem Stand gewinnen, wenn sie dort mitmachen. Die gebürtige Georgierin mit der markanten Rastafrisur und der ebenso markanten Ziegenstimme überzeugte erst vor wenigen Wochen mehr als die Hälfte der SAT.1‑Zuschauer/innen, für sie anzurufen – wie schon beim Mangamädchen Jamie Lee Kriewitz (→ DE 2016) könnte die kurzlebige Popularitätswelle noch bis Ende Februar 2018 anhalten, wenn Unser Lied für Lissabon in Berlin-Adlershof ausgewählt wird, und sie durch den Vorentscheid tragen. Außer, die charismatische Siegerin der allerersten deutschen The-Voice-Staffel von 2012, Ivy Quainoo, macht ihr die Stimmen streitig.
Hilft die Castingshow-Popularität Natia beim deutschen Vorentscheid? (Repertoire-Beispiel).
Eher als Zählkandidaten gelten die beiden Singer-Songwriter Michael Schulte, der für selbstgeschriebenen, radiotauglichen Mainstreampop steht, wie man ihn beim NDR (und anscheinend auch bei der hippen jungen Fan-Jury) so über die Maßen liebt, sowie der eher den melancholischen Tönen zugeneigte Rick Jurthe alias Ryk. Der bewarb sich parallel zum deutschen auch beim sanmarinesischen Internet-Vorentscheid und soll dort gerüchtehalber in der engeren Auswahl gewesen sein, setzte dann aber doch aufs heimische Ticket. Mal sehen, ob es sich auszahlt. Betrachtet man das nun annoncierte Line-up, so drängt sich unweigerlich die Frage auf, für was der NDR das ganze Brimborium veranstaltete: aktuelle und gewesene The-Voice-Finalist/innen sowie hoffnungsfrohe Nachwuchskräfte bekamen die Hamburger in der Vergangenheit auch ohne aufwändiges Auswahlverfahren zusammen. Und die wenigen zunächst abgeneigten Künstler/innen diesseits des mentalen “Hipster-Jägerzauns” (Thomas Schreiber), die der NDR mit Hinweis auf den Fan-Jury-Zuspruch locken konnte, sortierte exakt diese Jury dann doch wieder aus.
Optisch kernig, stimmlich ein weiterer Protagonist der Neuen Deutschen Weinerlichkeit™: Boris Alexander Stein wurde zurückgewiesen.
Nun bleibt die viel spannendere Frage der Songauswahl, denn noch kennen wir keines der sechs Lieder für Lissabon. Ein dreitägiger Song-Workshop mit Komponist/innen und Interpret/innen ist bereits angekündigt. Wird es hier gelingen, den bisherigen Variationen von beige beziehungsweise der anderweitig unverkäuflichen Albumfülltitel-B-Ware internationaler Serienschreiber/innen zu entgehen, die sich der NDR in den letzten Jahren immer wieder andrehen ließ? Dafür spricht, dass etliche Singer-Songwriter dabei sind – und nichts wirkt so überzeugend wie eigenes Material, an das der Interpret selbst glaubt. Andererseits gehören genau diese Kandidaten eher zu den Vertretern leiserer Töne: dass sie uns endlich einmal knallige, sofort eingängige, wettbewerbsfähige Songs präsentieren, erscheint daher unwahrscheinlich. Meine Hoffnungsträger in dieser Hinsicht heißen natürlich VoXXclub, denn die stehen bekanntlich für stampfenden Schlagersound. Doch ihr bisheriges Repertoire besteht hauptsächlich aus Neubearbeitungen von Volksliedern. Können sie auch mit einem eigenen Stück überzeugen?
Diesen ursprünglich einmal sphärisch-eleganten Elektrotrack der Band Hundreds coverte ULFL-Kandidat Rick Jurthe und machte daraus eine über die Maßen lahme Klavierballade (Repertoirebeispiel).
Schmeißen wir also die Flinte nicht zu früh ins Korn und warten die Titel erst mal ab. Vielleicht führt der vom NDR erzeugte Schub ja doch zu überzeugenden Ergebnissen. Zumal: ‘Amar pelos Dois’, der portugiesische Siegersong des ESC 2017, gehörte nun auch nicht gerade in die Kategorie des Schlagerstampfers. Lassen wir uns also überraschen. Am 22. Februar 2018 entscheidet es sich: dann geht Unser Lied für Lissabon in den Fernsehstudios zu Berlin-Adlershof über die Bühne. Übrigens mal wieder an einem Donnerstag – den geheiligten Samstagabend mag die ARD angesichts der zuletzt eher schwachen Einschaltquoten der heimischen Vorauswahl (noch) nicht freiräumen. Tickets sollen ab Januar 2018 in den Vorverkauf gehen. Entscheidungsberechtigt im heimischen Vorentscheidungsfinale sind – zu noch immer nicht korrespondierten prozentualen Anteilen – die deutsche und die internationale Vorauswahljury und die TV-Zuschauer/innen.
Klar mag ich, was ich da sehe: Ivy Quainoo (Repertoirebeispiel).
Die Teilnehmer/innen von Unser Lied für Lissabon in der Einzelvorstellung:
→ Ivy Quainoo, The-Voice-Siegerin 2012
→ Michael Schulte, Singer-Songwriter und The-Voice-Finalist 2012
→ Natia Todua, The-Voice-Siegerin 2017
→ Ryk, Singer-Songwriter
→ VoXXclub, Neue-Volksmusik-Boyband
→ Xavier Darcy, Singer-Songwriter
Die deutschen Vorentscheidungs-Kandidat/innen stehen fest. Wer ist Dein Liebling?
- Ivy Quainoo (36%, 60 Votes)
- VoXXclub (21%, 36 Votes)
- Überzeugen mich alle nicht. (13%, 22 Votes)
- Ryk (12%, 20 Votes)
- Michael Schulte (7%, 12 Votes)
- Natia Todua (7%, 11 Votes)
- Xavier Darcy (5%, 8 Votes)
Total Voters: 169
Ryk hat den Titel von Hundreds lediglich gecovert; geschrieben hat ihn die Band selber.
Danke für den Hinweis, Frederik. Ich hab’s abgeändert (hatte es zuerst umgekehrt).
Mit dem Ergebnis bin ich alles in allem zufrieden, selbst mit VoXXclub als Farbtupferl komm ich klar. Ich hoffe, dass sich das Vorentscheidskonzept als solches bewährt und der NDR weiterhin Geschick beweist. Irgendwie ist mir das aktuell sogar wichtiger als die Frage, wer es nach Lissabon schafft.
(Obwohl ich mit Ivy und Ryk liebäugele. Mit leichter Tendenz zu Ivy, wegen ihrer besonders einnehmenden Bühnenpräsenz und weil sie im Jahr nach Salvador Sobral nicht das Problem haben wird, von manchen als Me-too-Act missverstanden zu werden. Mal schauen, wie die Songs werden.)
Ich finde das Ergebnis für den Aufwand der betrieben wurde etwas mau.
2 1/2 Casting-Sternchen und 2 1/2 etwas farblose Singer-Songwriter.
Unter “kantig” hab ich mir was anderes vorgestellt.
VoXXclub ist zwar mal was anderes, aber alpenländischer Schlager leider nichts für mich.
Wenn schon bajuwarisch hätten Sie für meinen Geschmack LaBrassBanda nochmals eine Chance geben sollen.
Bin mal auf die Songs gespannt, ohne den Song zu kennen würde ich Ivy schicken.
Ich würde mal behaupten, wenn man einer Sängerin bescheinigt charismatisch zu sein, ist auch das eine Form von Kante. Kantigkeit bedeutet ja nicht zwangsläufig irgendwie sperrig zu sein. Deshalb würde ich zumindest mal vieren aus der Auswahl dieses Attribut durchaus zugestehen, die beiden anderen könnten diesbezüglich unter Umständen am 22. Februar überraschen.
Ich finde die getroffene Auswahl erst mal nicht schlecht, da steckt Potenzial drin. Natürlich werden die Songs entscheidend sein.
Im Moment tendiere ich eher zu VoXXclub, obwohl jetzt nicht unbedingt meine Musikrichtung. Bei den anderen Kandidaten bin auf die Songs sehr gespannt. Hoffe sie bekommen nicht irgendeinen Einheitsbrei verpasst.
Alles in allem bin ich erstmal vorsichtig optimistisch
Indem man die aktuelle Voice-Siegerin dahin stellt, dürfte das Ergebnis schon jetzt glasklar sein – song hin oder her. Die kiddies werden scharenweise dafür anrufen und der jämmerliche Rest sich unter die fünf verbleibenden aufspalten. Wetten ?
Die Gegenwette würde ich nicht annehmen wollen. Wir werden wohl wieder ins offene Messer laufen, es spricht jedenfalls viel mehr dafür als dagegen. Dieses Mal nicht nur sehenden Auges, sondern auch noch abgefüllt und selbstbesoffen. Wenns in die Hose geht, dann hoffentlich gleich richtig.