Litau­en-Dra­ma: Favo­ri­tin Eri­ca Jen­nings pullt eine Lys

Kaum begann am ver­gan­ge­nen Sams­tag der zehn­wö­chi­ge (!) litaui­sche Vor­ent­schei­dungs­ma­ra­thon Euro­vi­zi­ja, da ent­fal­tet sich bereits das ers­te Dra­ma: wie Wiwi­b­loggs ver­mel­det, zog die Fan-Favo­ri­tin Eri­ca Jen­nings ihre Teil­nah­me heu­te zurück. Der Grund: sie möch­te sich nicht öffent­lich durch die Jury maß­re­geln las­sen, wel­che bei der Euro­vi­zi­ja jeden ein­zel­nen Live­auf­tritt im Anschluss umge­hend vor lau­fen­den Kame­ras minu­ten­lang seziert und dabei auch teils har­sche, unver­blüm­te Kri­tik an den Dar­bie­tun­gen äußert. Ein sol­ches Cas­ting­show-Geha­be sei jedoch mit einer “eta­blier­ten Sän­ge­rin” wie Frau Jen­nings nicht zu machen, wie sie ihre Ent­schei­dung auf Face­book begrün­de­te: “Ich war schon bei der Euro­vi­si­on, mit mei­nem eige­nen Lied und habe ziem­lich gut abge­schnit­ten,” erin­nert sie an ihre Teil­nah­me von 2001 mit der Band Skamp (übri­gens Rang 13 von 23 Teil­neh­mer­län­dern). “Die Vor­stel­lung, jetzt erneut wie ein Schul­mäd­chen vor einer Kom­mis­si­on zu ste­hen (…) ist erbärm­lich”. Zumal sie die Jury auf pro­fes­sio­nel­ler Basis nicht ernst neh­men kön­ne: “Die meis­ten von ihnen haben weni­ger Erfah­rung als ich in Sachen Song­wri­ting und Gesang,” so Erica.

Gut, wer einen sol­chen Euro­vi­si­ons-Ever­green ablie­fert, ist natür­lich über jeg­li­che Kri­tik erhaben!

Sie habe über­haupt nichts, so führt Frau Jen­nings wei­ter aus, gegen Kri­tik – solan­ge die­se kon­struk­tiv und hin­ter ver­schlos­se­nen Türen geäu­ßert wer­de. Ihre dies­be­züg­li­che Emp­find­lich­keit hängt mög­li­cher­wei­se mit der Ent­ste­hungs­ge­schich­te ihres desi­gnier­ten Wett­be­werbs­bei­trags ‘The Truth’ zusam­men, der ihr emo­tio­nal “viel bedeu­tet. Ich schrieb ihn, wäh­rend ich noch mit mei­ner jetzt sie­ben Mona­te alten Toch­ter schwan­ger war. Es ist ein gro­ßer Song und ja, er ist per­fekt für die Euro­vi­si­on geeig­net”. Die am Sams­tag in der Sen­dung geäu­ßer­ten Kom­men­ta­re über die Bei­trä­ge der ers­ten Vor­run­de müs­sen sie daher befrem­det haben: “Man muss nach der Show nur mal Face­book durch­scrol­len, wo sich all die­se soge­nann­ten ‘Exper­ten’ gegen­sei­tig Kom­pli­men­te machen, ‘den Müll’ aus­sor­tiert zu haben, wie sie sich gegen­sei­tig auf die Schul­tern klop­fen und ihre Egos mas­sie­ren. Wobei die meis­ten von ihnen selbst noch nie einen Song geschrie­ben haben, geschwei­ge denn einen Hit, oder auch nur in der Nähe eines Euro­vi­si­ons­auf­trit­tes waren. Ihre Unver­fro­ren­heit ist wirk­lich beein­dru­ckend”.

 

Eri­cas öffent­li­cher Rück­zug erin­nert ein wenig an das Dra­ma beim Schwei­zer Vor­ent­scheid von 2011, wo es die Gran­de Dame des Grand Prix, Lys Assia (→ CH 1956, 1957, 1958), mit ihrem Final-Curtain-Song ‘C’e­tait ma Vie’ ver­geb­lich ver­sucht hat­te und sich nach ihrem Auf­tritt vom dor­ti­gen Jury-Mit­glied Stämpf, sei­nes Zei­chens Rap­per, sagen las­sen muss­te, ihr Lied sei eher für “die Kaf­fee­fahrt” geeig­net als für den ESC. Für die­ses “fle­gel­haf­te” Ver­hal­ten for­der­te Lys anschlie­ßend in der Pres­se Stämpf zum Duell mit dem Flo­rett her­aus eine schrift­li­che Ent­schul­di­gung, die sie aller­dings nie bekam. Nun fällt es natür­lich leicht, den Damen Diven­haf­tig­keit zu attes­tie­ren. Aber ganz Unrecht hat Frau Jen­nings nicht. Wir mögen durch die Dau­er­be­rie­se­lung mit Cas­ting­shows, in denen sich ver­zwei­fel­te Men­schen für die Chan­ce auf ihre 15 Sekun­den Ruhm öffent­lich von Back­pfei­fen­ge­sich­tern wie Die­ter Boh­len oder Hei­di Klum demü­ti­gen las­sen müs­sen, dies­be­züg­lich ein wenig abge­stumpft sein. Dass eine eta­blier­te Künst­le­rin so nicht mit sich umsprin­gen las­sen möch­te, erscheint mir respektabel.

Ob ihr Rück­zug ein Ver­lust ist, muss jeder für sich ent­schei­den. Ich sage: nein.

Wobei das Kern­pro­blem des litaui­schen Mara­thon­ver­fah­rens an einer ganz ande­ren Stel­le liegt: nach vier Vor­run­den sind alle Songs ein­mal vor­ge­stellt, ab dann folgt ein red­un­dan­ter Monat vol­ler Wie­der­ho­lun­gen. Bis ins Fina­le der Euro­vi­zi­ja hat sich auch der bes­te Bei­trag durch die mehr­fa­che Prä­sen­ta­ti­on über etli­che Vor­run­den ver­schlis­sen, wes­we­gen dort oft­mals in letz­ter Sekun­de über­ra­schend ein Song gewinnt, der bis dahin unter dem Radar flog und an den sich kaum jemand rich­tig erin­nern kann. Wes­we­gen er für die Zuschauer/innen nicht ganz so abge­nutzt klingt. Um die Euro­vi­zi­ja zu über­le­ben, muss man also ein Lied schrei­ben, das sehr lang­sam zün­det und erst in der mehr­fa­chen Wie­der­ho­lung gewinnt. Beim Euro­vi­si­on Song Con­test wer­den aber Songs gebraucht, die beim ers­ten Anhö­ren innert drei Minu­ten im Gedächt­nis blei­ben. Jen­nings gefüh­li­ge Bal­la­de ‘The Truth’ ver­fügt mei­nes Erach­tens über kei­ne die­ser bei­den gegen­sätz­li­chen Qua­li­tä­ten, von daher ist ihr frei­wil­li­ger Abschied ein biss­chen egal. Ihre berech­tig­te Kri­tik an den dia­bo­li­schen Jurys aber ent­kräf­tet das genau so wenig wie ihre Selbst­über­schät­zung als Künstlerin.

Ging 2017 als Favo­ri­tin ins Ren­nen und führ­te auch – bis ins Semi­fi­na­le der Euro­vi­zi­ja, wo die Litauer/innen sie dann über hat­ten: Wöl­fin Eis­tee P.

1 Comment

  • Die Feh­ler im litaui­schen Aus­wahl­sys­tem wer­den end­lich thematisiert.
    Da kann wohl nur im nächs­ten Jahr eine Direkt­no­mi­nie­rung von Don­ny mit einem Sal­to vor­wärts aus dem Schla­mas­sel helfen.

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