Kaum begann am vergangenen Samstag der zehnwöchige (!) litauische Vorentscheidungsmarathon Eurovizija, da entfaltet sich bereits das erste Drama: wie Wiwibloggs vermeldet, zog die Fan-Favoritin Erica Jennings ihre Teilnahme heute zurück. Der Grund: sie möchte sich nicht öffentlich durch die Jury maßregeln lassen, welche bei der Eurovizija jeden einzelnen Liveauftritt im Anschluss umgehend vor laufenden Kameras minutenlang seziert und dabei auch teils harsche, unverblümte Kritik an den Darbietungen äußert. Ein solches Castingshow-Gehabe sei jedoch mit einer “etablierten Sängerin” wie Frau Jennings nicht zu machen, wie sie ihre Entscheidung auf Facebook begründete: “Ich war schon bei der Eurovision, mit meinem eigenen Lied und habe ziemlich gut abgeschnitten,” erinnert sie an ihre Teilnahme von 2001 mit der Band Skamp (übrigens Rang 13 von 23 Teilnehmerländern). “Die Vorstellung, jetzt erneut wie ein Schulmädchen vor einer Kommission zu stehen (…) ist erbärmlich”. Zumal sie die Jury auf professioneller Basis nicht ernst nehmen könne: “Die meisten von ihnen haben weniger Erfahrung als ich in Sachen Songwriting und Gesang,” so Erica.
https://youtu.be/7_C3bKR1X3A?t=40s
Gut, wer einen solchen Eurovisions-Evergreen abliefert, ist natürlich über jegliche Kritik erhaben!
Sie habe überhaupt nichts, so führt Frau Jennings weiter aus, gegen Kritik – solange diese konstruktiv und hinter verschlossenen Türen geäußert werde. Ihre diesbezügliche Empfindlichkeit hängt möglicherweise mit der Entstehungsgeschichte ihres designierten Wettbewerbsbeitrags ‘The Truth’ zusammen, der ihr emotional “viel bedeutet. Ich schrieb ihn, während ich noch mit meiner jetzt sieben Monate alten Tochter schwanger war. Es ist ein großer Song und ja, er ist perfekt für die Eurovision geeignet”. Die am Samstag in der Sendung geäußerten Kommentare über die Beiträge der ersten Vorrunde müssen sie daher befremdet haben: “Man muss nach der Show nur mal Facebook durchscrollen, wo sich all diese sogenannten ‘Experten’ gegenseitig Komplimente machen, ‘den Müll’ aussortiert zu haben, wie sie sich gegenseitig auf die Schultern klopfen und ihre Egos massieren. Wobei die meisten von ihnen selbst noch nie einen Song geschrieben haben, geschweige denn einen Hit, oder auch nur in der Nähe eines Eurovisionsauftrittes waren. Ihre Unverfrorenheit ist wirklich beeindruckend”.
Ericas öffentlicher Rückzug erinnert ein wenig an das Drama beim Schweizer Vorentscheid von 2011, wo es die Grande Dame des Grand Prix, Lys Assia (→ CH 1956, 1957, 1958), mit ihrem Final-Curtain-Song ‘C’etait ma Vie’ vergeblich versucht hatte und sich nach ihrem Auftritt vom dortigen Jury-Mitglied Stämpf, seines Zeichens Rapper, sagen lassen musste, ihr Lied sei eher für “die Kaffeefahrt” geeignet als für den ESC. Für dieses “flegelhafte” Verhalten forderte Lys anschließend in der Presse Stämpf zum Duell mit dem Florett heraus eine schriftliche Entschuldigung, die sie allerdings nie bekam. Nun fällt es natürlich leicht, den Damen Divenhaftigkeit zu attestieren. Aber ganz Unrecht hat Frau Jennings nicht. Wir mögen durch die Dauerberieselung mit Castingshows, in denen sich verzweifelte Menschen für die Chance auf ihre 15 Sekunden Ruhm öffentlich von Backpfeifengesichtern wie Dieter Bohlen oder Heidi Klum demütigen lassen müssen, diesbezüglich ein wenig abgestumpft sein. Dass eine etablierte Künstlerin so nicht mit sich umspringen lassen möchte, erscheint mir respektabel.
Ob ihr Rückzug ein Verlust ist, muss jeder für sich entscheiden. Ich sage: nein.
Wobei das Kernproblem des litauischen Marathonverfahrens an einer ganz anderen Stelle liegt: nach vier Vorrunden sind alle Songs einmal vorgestellt, ab dann folgt ein redundanter Monat voller Wiederholungen. Bis ins Finale der Eurovizija hat sich auch der beste Beitrag durch die mehrfache Präsentation über etliche Vorrunden verschlissen, weswegen dort oftmals in letzter Sekunde überraschend ein Song gewinnt, der bis dahin unter dem Radar flog und an den sich kaum jemand richtig erinnern kann. Weswegen er für die Zuschauer/innen nicht ganz so abgenutzt klingt. Um die Eurovizija zu überleben, muss man also ein Lied schreiben, das sehr langsam zündet und erst in der mehrfachen Wiederholung gewinnt. Beim Eurovision Song Contest werden aber Songs gebraucht, die beim ersten Anhören innert drei Minuten im Gedächtnis bleiben. Jennings gefühlige Ballade ‘The Truth’ verfügt meines Erachtens über keine dieser beiden gegensätzlichen Qualitäten, von daher ist ihr freiwilliger Abschied ein bisschen egal. Ihre berechtigte Kritik an den diabolischen Jurys aber entkräftet das genau so wenig wie ihre Selbstüberschätzung als Künstlerin.
https://youtu.be/oBqaJXkgM04
Ging 2017 als Favoritin ins Rennen und führte auch – bis ins Semifinale der Eurovizija, wo die Litauer/innen sie dann über hatten: Wölfin Eistee P.
Die Fehler im litauischen Auswahlsystem werden endlich thematisiert.
Da kann wohl nur im nächsten Jahr eine Direktnominierung von Donny mit einem Salto vorwärts aus dem Schlamassel helfen.