Es war eine kleine Bombe, die heute morgen platzte, als der norwegische Sender NRK das (beeindruckend hochklassige) Line-up des Melodi Grand Prix 2018 bekanntgab: neben einigen anderen großen Namen versucht sich auch der Erdrutschsieger des Eurovision Song Contest 2009, Alexander Rybak, an einem Grand-Prix-Comeback. Und er tut dies mit Stil: sein Wettbewerbsbeitrag heißt ‘That’s how you write a Song’, was sich zwar mit einem sympathisch-selbstironischen Augenzwinkern verstehen lässt, zugleich jedoch eine ziemliche Ansage ist und von einem nicht gerade geringen Selbstvertrauen kündet. Und das ist berechtigt: die hoch infektiöse, groovende Popnummer bleibt schon beim ersten Anhören sofort in den Ohren kleben, hebt unmittelbar die Laune, verführt zum Fingerschnippen, Hüftenschwingen und Mitsingen und liefert zudem noch eine rundweg positive Botschaft, wie sie die große Su Kramer schon 1972 beim deutschen Vorentscheid verbreitete, nämlich: “Glaub an Dich selbst und es wird gelingen”. Und ja, das tut es! Im Hinblick auf die Ohrwurmqualität und den Gute-Laune-Faktor kann es der Rybak-Reißer nämlich durchaus mit Pharell Williams’ ‘Happy’ oder Justin Timberlakes ‘Can’t stop this Feeling’ aufnehmen. Vorausgesetzt, man gibt ihm eine faire Chance und hört ihn mit offenen Ohren an.
Nicht zweifeln, machen: der norwegische Eurovisionstroll gibt guten Rat.
An dieser Offenheit scheint es vielen Eurovisionsfans jedoch grundlegend zu mangeln. “Ach ja, ist ja ganz nett, kann aber überhaupt nicht mit ‘Fairytale’ mithalten”, war die in der ESC-Filterblase heute meistgelesene Reaktion. Und sie fasst die ganze Tragik des Künstlers Alexander Rybak gut zusammen, der seit seinem Rekordsieg beim Grand Prix in Moskau bereits einige gute Nachfolgesingles veröffentlichte, kommerziell aber nie mehr an seinen Eurovisionserfolg anknüpfen konnte. Denn stets scheiterte er an der unerreichbaren Messlatte ‘Fairytale’ und mutierte in den letzten Jahren in der öffentlichen Wahrnehmung, jedenfalls in vielen Fan-Foren, zunehmend zur tragischen Figur, zu einer Art männlicher Ruslana. Und ja, natürlich ist ‘That’s how you write a Song’ kein ‘Fairytale Pt. 2’. Kann es gar nicht sein. Muss es auch nicht sein! Es ist einfach ein verdammt guter Popsong; einer, der eine ansteckend positive Schwingung verbreitet und der die Welt zu einem ein klein bisschen besseren Ort macht, jedenfalls für drei Minuten. Wenn man sich nicht mit verschränkten Armen hinstellt und nölt: “ist aber nicht dasselbe wie damals”.
Ebenfalls ein exquisiter Track: Rybaks Stalkerdrama ‘Leave me alone’ von 2012.
Bei Rybak handelt es sich bekanntlich nicht um den einzigen ehemaligen Eurovisionssieger, der es mehrfach beim Wettbewerb versucht: schon die allererste Grand-Prix-Gewinnerin von 1956, Lys Assia, nahm in den beiden darauffolgenden Jahren nochmals am Wettbewerb teil und landete dabei einmal ganz weit hinten, legte 1958 mit dem fabelhaften ‘Giorgio’ aber auch einen überraschenden zweiten Platz hin. In unguter Erinnerung bleibt unterdessen die erneute Bewerbung meiner persönlichen größten Eurovisionsheldin aller Zeiten, Dana International (→ IL 1998), die 13 Jahre später mit dem mehr als schwachbrüstigen ‘Ding Dong’ leider ihre eigene Legende zerstörte. Oder die ihrer direkten Nachfolgerin Charlotte Perrelli (→ SE 1999), die 2008 mit ‘Hero’ zwar einen fantastischen Schwedenschlager samt grandioser Choreografie ablieferte, dank Magersucht und Botox-Overkill aber wie ihre eigene gruselige Robot-Replikantin aussah und in der Wertung dementsprechend abkackte. Lediglich dem irischen Schmalzbarden Johnny Logan (→ IE 1980) gelang sieben Jahre nach seinem ersten ein zweiter Sieg, ansonsten taten sich die Rückkehrer/innen allesamt keinen großen Gefallen.
Um Längen besser als ihr Siegersong, aber “nur” Platz 2: Lys Assia bei ihrem dritten ESC-Versuch 1958.
Und das hängt auch mit unserer überzogenen Erwartungshaltung und unseren vom Kapitalismus geprägten Maßstäben zusammen, nach der alles stets immer noch größer, noch besser, noch erfolgreicher werden muss – oder nichts taugt. Diesen völlig kranken Maßstäben, nach denen beispielsweise das Album ‘Bad’ von Michael Jackson mit seinen weltweit rund 30 Millionen (!) abgesetzter Einheiten von manchen als Flop eingeordnet wurde, weil es sich eben nur knapp halb so oft verkaufte wie das legendäre und unerreichbare Vorgängeralbum ‘Thriller’. Und die unsere regierende deutsche Grand-Prix-Königin Lena Meyer-Landrut nun mit zu einer Kreativpause verleiteten, weil es nach dem unglaublichen Sommermärchen von 2010 und ihrer umstrittenen, natürlich gescheiterten Titelverteidigung 2011 trotz (oder vielleicht sogar wegen) ihrer künstlerischen Weiterentwicklung kommerziell für sie langsam, aber stetig bergab ging und die Hallen auf jeder Tournee etwas kleiner wurden.
Um Längen besser als ihr Siegersong, aber “nur” Platz 10: Lena mit ihrem ‘Satellite’-Nachfolger.
Oha. Ein arg großer Bogen von einem norwegischen Vorentscheidungsbeitrag zum King of Pop, oder? Arg viel Furor für einen ganz okayen Popsong von einem Künstler, der seine besten Tage hinter sich hat, nicht wahr? Zumal der Autor dieses Appells zugegebenermaßen selbst zu denjenigen zählt, die öfters mal über “Hasbeens” lästern, und der selbst nur zu gerne Vergleiche heranzieht. Stimmt, ich bin kein bisschen besser. Ich hab die Rybak-Nachfolgesingles ebenfalls nicht gekauft, selbst wenn ich sie nett fand, genauso wenig wie die Lena-Alben, und in unbedachten Momenten rollte ich bei der Erwähnung des norwegischen Grand-Prix-Trolls bestimmt auch mal mit den Augen. Und gerade deswegen, weil mir diese Denkweise durchaus vertraut ist, frisst mich dieses habituelle Rybak-Bashing an, das sich (nicht erst) heute in der Bubble breit machte. Und die dahinterstehende Erwartung, dass jeder Eurovisionsbeitrag ein potentieller Siegertitel sein muss – oder nichts taugt. Wirklich? Ist das entscheidend? Ordnet sich alles dem Wettbewerb unter und darf ein Lied nur dann zum Contest, wenn es gewinnen kann? Reicht es nicht, wenn es einfach ein toller Popsong ist, der drei Minuten lang gut unterhält? Und darf ein/e Grand-Prix-Teilnehmer/in nur dann nochmals mitmachen, wenn sie/er sich potentiell verbessern kann? Stellt es einen Makel dar, schlechter abzuschneiden als beim ersten Mal?
Nicht so leicht zugänglich wie ‘Euphoria’, kein potentieller Siegersong und daher beim Melodifestivalen aussortiert: Loreens superbes ‘Statements’.
Ich gebe zu, die restlichen norwegischen Wettbewerbsbeiträge noch nicht gehört zu haben. Es befinden sich, wie eingangs erwähnt, große Namen unter den Interpret/innen, vom feschen Vorjahresvertreter Alexander Walmann, der mit ‘Talk to the Hand’ ebenfalls einen zumindest schon mal grandios betitelten Song mitbringt, erneut aus der Feder von JowSt. Oder die supersweete Stella Mwangi, die 2011 den diabolischen Jurys zum Opfer fiel und im Semi ausschied – eine der ungerechtesten Entscheidungen in den Contest-Geschichte. Oder aber die in dem skandinavischen Staat derzeit kommerziell höchst erfolgreichen Künstler Alejandro Fuentes und Tom Hugo. Mag sein, dass eine/r von ihnen über ein besseres Lied verfügt als Alexander. Dann sollen sie den Melodi Grand Prix gewinnen, klar. Und natürlich muss niemand in ‘That’s how you write a Song’ denselben ansteckenden Gute-Laune-Ohrwurm erkennen wie ich. Bloß, dieses eine Argument: “es ist aber nicht so gut wie ‘Fairytale’,” das bringt mich auf die Palme. Weil es ein Totschlagargument ist, das den Rybak zwangsläufig zu einem One-Hit-Wonder degradiert und ihm keine Chance gibt, jemals aus dem Käfig des ehemaligen ESC-Siegers auszubrechen. Und weil es demjenigen, der es benutzt, die Ohren verschließt für einen meiner Meinung nach wirklich guten Popsong, der – ich wiederhole mich gerne – eine faire Chance verdient.
Starkes Wettbewerbsumfeld: die zehn MGP-Songs in der Spotify-Playlist.
Wow, ganz toll geschriebener Text. Hat mich zum Nachdenken gebracht, … wenn nicht sogar die Augen (und das Herz) geöffnet. Da ist sehr viel Wahres dran! Danke
Beeindruckend hochklassig, aber noch nie gehört? Verstehe wer will.
Wirst du altersmilde?
Für mich ist in norwegen nix schlaues dabei. Alexander rybak sollte das besser lassen und wenn schon, mit einem guten song.
That’s how you whrite a song ist gar nix. Und ziemlich angestaubt.
Danke, vollkommen richtig, auch der Vergleich mit „Happy“! Ein guter Song ist das. Und wieso eigentlich „Eurovisionstroll“? Ich finde ihn immer noch sehr sexy den guten Rybak, er scheint alterslos zu sein…bisschen wie Cliff Richard, damals…
@Ulli: Naja, ein Troll, die männliche Variante der mythischen Waldelfe. Der Rybak hat für mich immer so ein Quäntchen mystisch-verschrobenes, zauberwesenhaftes. Das ist positiv gemeint, nicht im Sinne des Forentrolls. 🙂 Aber stimmt, ist missverständlich.
@Rainer Maier: das “Hochklassig” bezog sich alleine auf die Namen der Teilnehmer/innen. Der Walmann, die Mwangi und die aktuellen Top-Acts. Und nachdem ich mich mittlerweile durch die Liste durchgehört hab, sind da für mich sogar gleich ein paar gute Sache dabei. Vielleicht werde ich wirklich altersmilde. 🙂
Hihi, erwischt es Dich auch noch mit der Altersmilde 🙂 Ich muss mir das schon seit Jahren anhören. Davon ab: Ein sehr schöner, nachdenklicher Artikel, der mir sehr gut gefallen hat. Deine klare Kante begeistert mich immer wieder, und wenn ich dann mal mit Dir so richtig einer Meinung bin (was ich ja bekanntlich nicht immer bin), dann freuts mich umso mehr. Rybak wieder auf der Eurovisionsbühne, das hätte schon was. Der Kerle kann was, und sein Charme wirkt nach wie vor. Also: Warum nicht?
Das Lied ist catchy. Ein bisschen aus der Zeit gefallen, aber auffällig. Das zählt ja bekanntlich innerhalb eines Wettbewerbs mit gut zwei Dutzend Teilnehmern im Finale. Und Retro ist beim ESC nun wirklich schon viele Jahrzehnte ein gern genommenes Stilmittel, mal erfolgreich mal weniger, das muss jetzt nicht zu beißender Kritik führen. Letztendlich wird die Umsetzung auf der Bühne mit entscheidend sein, das lasse ich auf mich zukommen. Und gerade, wenn man nochmals antritt, sollte das Lied komplett anders sein als beim ersten Mal, fast, als würde man sich neu erfinden. Leider können das viele nicht voneinander trennen, sind diesbezüglich nicht offen/vorurteilsfrei genug.
Werter Blogger, vielen Dank für diesen Artikel, das ist sehr freundlich geschrieben. Und mal ganz unter uns, ich finde “That’s how you write a song” einen sehr schönen, gute Laune-stiftenden Song und ich finde es vor allem gut, dass er so ganz anders als “Fairytale” ist. Ich mag ihn (sowohl den Monchichi als auch den Song) und würde mich über sein Dabei-Sein in Lissabon sehr freuen. Mal schauen, was beim MGP herauskommt.
Schöner Artikel.
Ich finde den Rybak-Song ebenfalls recht unterhaltsam. Die musikalischen Retro-Einschübe gab es zwar auch schon bei MissKissKissBang aber Rybak umgibt wirklich die Aura eines (ehemaligen) Siegers und kann mit einem derartigen Song durchaus punkten.
Oha, Alexander is back! Ich denke er hat live das Publikum mit dem Song und seinem Charisma auf seiner Seite, bei der Jury bin ich mir nicht so sicher…die könnte auch in Richtung ESC Bubble Geraunze gehen…falls die Norweger in dieser Art überhaupt entscheiden???
Freue mich jedenfalls eventuell einen meiner Lieblings ESC Teilnehmer in Lissabon wieder zu sehen
Thematisch erinnert mich Alexanders Nummer ein bißchen an den ESC Interval Act 2016 “Love Love Peace Peace”. ;-))) Also ich finde den Song prima und er harmoniert sehr gut mit dem Künstler. Mich würde es auch freuen, wenn er in Lissabon dabei wäre.
Handwerklich gut gemacht, sicher (bin ich übrigens der einzige, den das an Valentinas Social network song erinnert?). Aber bietet keinerlei Kante und ist daher in meinen Ohren ziemlich uninteressant.
OMG… ich hab einen Ohrwurm!!! Und zwar einen total schönen, der garnicht nervt. Und dann noch der Rybak. Och Olli, das passt schon. Ich will auch, das der Alex wieder zum ESC fährt. Und ich hab auch noch nix von den anderen Beiträgen des MGP2018 gehört. Norweger, macht bitte keinen Fehler!!! ;o)