Wie viel Punkte hat sie für ihren Ex wohl übrig? Diese bange Frage schwebte am gestrigen Sonntagabend über dem ersten Semifinale der rumänischen Selecția Națională. Sie, das ist natürlich die Jodel-Queen Ilinca Băcilă, die letztes Jahr beim Eurovision Song Contest gemeinsam mit Bad Boy Alex Florea einen fünften Platz für das Land erjodelte und heuer in der (alleine abstimmungsberechtigten) Jury saß. Und die in dieser Funktion auch den neuen, seherisch betitelten Wettbewerbsbeitrag von Alex bewerten musste, der es diesmal solo versuchte. Würde sie ihm noch gram sein ob seiner damaligen ungewollten Kussattacke, und ihn abstrafen? Oder würde sie ihm aus alter Verbundenheit unverdiente Douze Points zuschaufeln für seinen über die Maßen lahmen, weinerlichen Poprockseich, mit dem er seine softe Seite zeigen wollte? Ilinca wählte den Mittelweg und zog sich mit (sehr großzügigen) sechs Punkten geschickt aus der Affäre. Zum Finaleinzug reichte das jedoch nicht, und so folgte für den zwischenzeitlich etwas pausbäckiger, dabei immer noch heiß ausschauenden Alex auf das erfolgreich absolvierte Eurovisionsfinale das unrühmliche Ausscheiden im Vorentscheid. Autsch!
‘Nobody told me that it would hurt’. Manche Lieder kommentieren sich schlichtweg von selbst (RO).
Damit wäre der spannendste Part des gestrigen Abends bereits abgehandelt. Aus Anlass des hundertjährigen Geburtstags Rumäniens in seinen heutigen Ausmaßen melodifestivalisierte der Sender TVR die Selecția Națională und beschloss, ganze fünf Semis in fünf verschiedenen Städten quer übers Land abzuhalten, mit jeweils 12 Liedern pro Show. Das Problem: es bewarben sich insgesamt weniger als 90 Künstler/innen, und so musste man praktisch nehmen, was man kriegen konnte, was sich in der Qualität der Vorentscheidungsbeiträge hörbar niederschlug. Zum Auftakt im festlichen Stadttheater der ostrumänischen Gemeinde Focșani traf die Crème de la Crème des hiesigen Eurovisionsschaffens aufeinander: der Transentenor Cezar Ouatu (→ RO 2013) moderierte, die längst vergessene Nico Matei (→ RO 2008) lieh dem Werbespot des Hauptsponsoren Gesicht und Stimme. Luminita Anghel (→ RO 2005) eröffnete den Abend als Stargast, lustigerweise mit dem moldawischen Grand-Prix-Beitrag ‘Hora din Moldova’ (2009)! Zu allem Überfluss fiel auch noch ein Bewerber kurzfristig krankheitsbedingt aus, so dass wir lediglich elf überwiegend maue Liedchen über uns ergehen lassen mussten.
Ei, wenn de’ Lambada ned dabei gewese’ wär, isch hätt’ des Gerät net genomme’: Cornel sang sich um Kopf und Kragen (RO).
Dazu zählte beispielsweise eine pompöde™ (nein, das ist kein Rechtschreibfehler, sondern ein Kofferwort aus pompös und öde, für welches ich hiermit die geistige Urheberschaft reklamiere) Bombastballade aus schwedischer Produktion, mit der eine gewisse Hellen ‘From Underneath’ (also Hellen aus der Hölle?) sich in ihrem üppig befüllten weißen Brustspitzenkleid um die Polina-Gagarina-Ähnlichkeitsmedaille (→ RU 2015) bewarb. Oder eine guiltypleasureske Bad-Boys-Blue-Gedächtnisnummer namens ‘Take me away’, von ihrem tragisch veranlagten Interpreten Cornel, der sich ohne die bei einem solchen Beitrag zwingend notwendige tänzerische Unterstützung auf der verhältnismäßig intimen Theaterbühne komplett verlor, leider vollständig an die Wand gesungen. Ähnliches galt für die von etlichen Fans als “Queen” gepriesene Waleska Díaz González, die ihren selbstgeschriebenen Eurodance-Stampfer ‘Recancer’ auf spanisch vortrug, ebenfalls ohne Begleitung wild wirbelnder Balletteusen, und damit einen kleinen Sofi-Marinova-Gedächtnismoment (→ BG 2012) schuf. Nur, dass Waleska in ihrem schlichten schwarzen Kleid wesentlich eleganter aussah als Sofi seinerzeit im Leopardenprint. Dafür jedoch pflügte sie mit der stimmlichen Feinfühligkeit eines Tunnelbohrers durch ihren Song; die feine, aber essentielle Grenze zwischen Schmettern und Schreien permanent übertretend. Schade!
https://youtu.be/Zrvs_4AU2m0
Fabelhafte Frisur, fabelhaftes Dekolleté, furchtbares Gebrülle: Wallehaar-Waleska (RO).
Eine interessante Studie zur Wichtigkeit von Kontext lieferte der letzte Kombattant des Abends, Eduard Santha, optisch ein 30 Jahre jüngerer und deutlich kernigerer Wiedergänger der Schlagerlegende Drafi Deutscher in seiner späten, großen Mixed-Emotions-Phase. Sein Beitrag ‘Me som Romales’ (‘Wir sind Roma’), ein hauptsächlich in abgehacktem Englisch vorgebellter, nervtötend konfuser Mix aus Hip-Hop- und Folklore-Elementen, der mich beim isolierten Anhören am Tag danach rasend schnell aggressiv macht, empfahl sich im Umfeld des Wettbewerbs (dort im Anschluss an die vorausgegangenen zehn seichten Rohrkrepierer) noch als erfrischend andersartige, wohltuende musikalische Brise. Und zog auch dementsprechend ins Finale weiter, gemeinsam mit einem halbgaren Rockpopliedchen der Band Echoes, das sich eher hätte ertragen lassen, wenn der apart vollbärtige Leadsänger es nicht hauptsächlich im quietschigen Falsetto intoniert hätte. Sowie den sanmarinesischen Vertretern von 2015, Michele Perniola und Anita Simoncini, die unter dem Tarnnamen Alexia & Matei gemeinschaftlich eine aufgeregt-melodiebefreite Kirmes-Pop-Nummer massakrierten. Furchtbar!
Hey / I can see it your Eyes / I can feel it in your Smile / You need Love, Babe: Eduard channelte seinen inneren Drafi Deutscher (RO).
Natürlich fiel die Entscheidung für die drei Finalist/innen erst nach einer gefühlt einstündigen Wertungspause, während welcher eine rüstige Rentnerkapelle namens Pasarea Rock aufspielte – mit einem der Juroren als Bandmitglied! Ungute Erinnerungen an den legendären Abba-Tribute-Act im Finale der letztjährigen Selecția Națională wurden wach, während die Runzelrocker Lied nach Lied nach Lied spielten. Wobei zu ihrer Verteidigung gesagt sei: der schätzungsweise Siebzigjährige am Schlagzeug konnte es in Sachen körperlicher Einsatz und Spielfreude locker mit dem Tier aus der Muppet-Show aufnehmen. Respekt! Lustigerweise durfte der Interval Act, nachdem die Jurymitglieder dann doch noch irgendwann ihre Stimme vergeben und die drei Finalist/innen jeweils ein “Du bist im Recall”-gleiches Papptäfelchen sowie ein Sponsorengeschenk erhalten hatten, die zweieinhalbstündige Sendung auch beschließen. In Sachen Show-Finesse können die Rumänen von ihren schwedischen Vorbildern vielleicht noch das ein oder andere lernen…
Das pralle Vorentscheidungsvergnügen in seiner ganzen Pracht: das erste rumänische Semifinale 2018 am Stück.
Vorentscheid RO 2018 (1. Semifinale)
Selecția Națională 2018. Sonntag, 21. Januar 2018, aus dem Teatrul Municipal Maior Gheorghe Pastia in Focșani, Rumänien. 11 Teilnehmer/innen. Moderation: Cezar Ouatu und Diana Dumistrescu# | Interpret | Titel | Jury | Platz |
---|---|---|---|---|
01 | Alex Florea | Nobody told me that it would hurt | 28 | 05 |
02 | Lina | A Love worth falling for | 24 | 07 |
03 | Cornel | Take me away | 02 | 11 |
04 | Liviu Anghel | Rise up | 20 | 09 |
05 | Hellen | From Underneath | 22 | 08 |
06 | Alexia & Matei | Walking on Water | 53 | 01 |
07 | Johnny Bădulescu | Devoted | 34 | 04 |
08 | Waleska | Reborn | 07 | 10 |
09 | Echoes | Mirror | 38 | 02 |
10 | Elena Turcu | The perfect Fall | 27 | 06 |
11 | Eduard Santha | Mesom Romales | 35 | 03 |
Nachzureichen gilt es zudem noch das Gruseligste aus der zweiten Vorrunde des litauischen Vorentscheidungsmarathons Eurovizija, die am vergangenen Samstag zur Ausstrahlung gelangte, deren Youtube-Videos der verantwortliche Sender LRT aber erst am heutigen Montag einpflegte. Tadel! Hier unterhielt vor allem das Duo Twosome, bestehend aus einem eher schmächtigen und einem wohlgenährteren Jungen, die ein Update zum jugoslawischen Grand-Prix-Beitrag des Legendenjahrgangs 1969, ‘Pozdrav Svijetu’, präsentierten. Begrüßten der verzauberte Ivan und seine drei M seinerzeit in Madrid die europäischen Nationen in lediglich acht verschiedenen Sprachen, so kämpften sich Two & Some in Vilnius durch gefühlt mindestens fünf mal so viele. Nicht jedoch, ohne zwischendrin eine etwas krude englische Textzeile über “digital Languages” und ein sozialkritisches “24/7, always on their Phone” vom Stapel zu lassen. Nun wäre diese alberne Punkteabgreifnummer, die im kumulierten Jury-Televoting-Ergebnis gemeinsam mit zwei anderen Beiträgen auf dem geteilten ersten Platz landete, nicht weiter der Rede wert. Gäbe es da nicht diese merkwürdige Gestalt, die pünktlich zur Songmitte unvermittelt auf die Bühne taperte…
Hello? Is it me you’re looking for? Ähm… nein! (LT)
…nur, um nach ein paar Sekunden ebenso unvermittelt wieder die Düse zu machen. Ganz so, als habe er auf einem der die Fußgängerzonen und Kneipenviertel Europas seit Jahren pestartig heimsuchenden Junggesellinnenabschiede eine Wette verloren und müsste sich nun zur Strafe in aller Öffentlichkeit in seinem lächerlichen Aufzug präsentieren. Mitsamt Tiara und Pink-Flamingo-Schwimmreifen. Doch scheinbar genügte dieser kurze Augenblick seinen Kumpels nicht zur ausreichenden Demütigung: zum Songfinale stieß er erneut zu den Twosome hinzu, wie auf Speed tanzend. Sie haben schon einen eigenen Sinn für Humor, diese Baltenbewohner/innen! Auf jedes ‘Hello’ folgt bekanntlich ein ‘Bye bye’, und mit exakt diesem Titel landete Emilija Valiukevičiūtė (welcher Sadist denkt sich solche Nachnamen aus?) unverdientermaßen punktelos am entgegengesetzten Tabellenende. Dabei überzeugte ihre hoch repetitives, hoch nerviges Lied vor allem durch die köstlich ironische, an Lässigkeit kaum zu überbietende Mimik ihrer Interpretin und dürfte sie so zu einer Fundgrube für ESC-bezogene, gehässige GIFs und Memes prädestinieren. Und mit diesem perfekten Rausschmeißer sage auch ich für heute: ‘Bye bye’!
Erntete bei den Studiozuschauer/innen einen allenfalls diskreten Applaus: Emilija im Sofi-Marinova-Gedächtnisfummel (LT).
Es ist mir ein bisschen peinlich dich schon wieder zu korrigieren, aber die beiden erjodelten den 7. Platz nicht den 5.
Da hat sich die gute Emilija eindeutig den falschen Wettbewerb ausgesucht. Bessere Chancen hätte sie beim LDFGC* gehabt.
Hübsch auch die mit ihrem Kleid korrespondierende Bumspalme (Atze Schröder-Anleihe) aufm Kopp.
*Louis de Funes-Grimassen-Contest
@Meikel: Janein. Ich beziehe mich in meinen Texten, wenn ich nichts anderes hinschreibe, grundsätzlich immer auf das Ergebnis aus dem Televoting, weil das für mich das einzige ist, das Relevanz besitzt.
interessant… der Blogger hat jetzt auch seine Vorliebe für alternative Fakten entdeckt
Make Eurovision great again! 🙂